"Die Wiedervereinigung der beiden Koreas" am HOT: Auch eine tote Liebe lebt
Stefan Ottenis Inszenierung von „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ am Hans Otto Theater erzählt auf bezaubernde Weise von einem verlorenen Paradies.
Was ist das Ende einer Liebe? Vor zwei Tagen ist an dieser Stelle vermutet worden: Bei dem französischen Gegenwartsdramatiker Joël Pommerat klatscht es den Figuren wie ein nasser Lappen ins Gesicht. Das Ende der Liebe in dessen Text „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ sei kalt, brutal, endgültig. Nach der Premiere des Stückes am Samstag ist nun festzustellen: Das stimmt nur halb. Das Ende der Liebe ist kalt und brutal, aber endgültig ist es bei Joël Pommerat eigentlich nie. Das ist das tatsächlich Erschütternde und im Wortsinn unheimlich Tröstliche an dem Text des Franzosen. Wenn eine Liebe stirbt, dann stirbt sie bei Pommerat nie ganz. Reste davon haben sich in die Liebenden eingeschrieben. Ob sie das wollen oder nicht, sie tragen diese Spuren in sich. Das kann Trost sein oder Fluch. Aber so ist das nun mal, konstatiert Pommerat lakonisch: Auch eine tote Liebe lebt.
Vielleicht deshalb lässt Regisseur Stefan Otteni den Abend unter einem großen, sattgrünen Ahornbaum spielen. Die Liebe als Zufluchtsort, Lebensbringer, Schattenspender, Naturgewalt. Als Anfang von allem, passenderweise auch von diesem Abend. Die erste Szene skizziert einen paradiesischen Urzustand, eine verträumte Hommage an diesen Sehnsuchtsort, der die Liebe ist. In weißer Unterwäsche finden sich die elf Darsteller hier eingangs zum Tanz zusammen. Erst behutsam, leise kichernd, sich an den Händen fassend, dann lauter lachend, juchzend, immer schneller den Rhythmen eines Renaissance-Tanzes folgend. Von oben fällt dabei Scheinwerferlicht durch die Ahornblätter und taucht alles in eitel Sonnenschein. Das ist sehr zart, verträumt, entspannt: ein Zustand zwischen kindlicher Freude und höfischem Umgarnen. So sieht es aus, das Versprechen, das die Liebe sein kann. Später nimmt eine Szene das tänzerische Motiv wieder auf und zeigt darin die triste heutige Realität: Einzelne Headbanger schütteln sich zu Hardrock die Seele aus dem Leib. In diesem vereinsamten Gespringe offenbart sich die metaphorische Grenze zwischen den beiden Koreas, um die es im Titel geht.
Die folgenden sechzehn Szenen werfen Schlaglichter auf Spielarten dieser Grenzen. Liebende gehören zusammen, aber merken es nicht. Oder sie gehören nicht zusammen und merken es. Was ist nun schlimmer? Hier wie dort: Trennungen sind unvermeidbar. Aus den kindlichen Tänzern des Eingangsbildes sind Erwachsene mit schwerem Erinnerungsgepäck geworden. Kein Zufall also, dass es im Stück von Boten aus der Vergangenheit wimmelt. Sie belagern die Gegenwart, uneingeladen. In einer Szene zum Beispiel sitzen Mann (René Schwittay) und Frau (Marianna Linden) am Tisch. Plötzlich Geräusche an der Tür, und der Ex-Mann (Wolfgang Vogler) steht im Zimmer. Er hatte sie vor zehn Jahren ohne Erklärung verlassen, aber die Wohnungsschlüssel mitgenommen. Nun ist er wieder da, als sei er nie weggewesen und der neue Mann nicht vorhanden. In Kürze ist die Realität aus den Fugen. Der Neue muss zusehen. „Jetzt ist er weg“, sagt er erleichtert, als der Ex-Mann weg ist. Womit er sich natürlich irrt. Die Frau erwidert süffisant: „Aus deinem Haus und ein bisschen auch aus seinem.“ Damit ist die Szene aus.
Das ist Pommerats Prinzip: Er wirft uns sechzehnmal gestochen scharfe Skizzen hin. Reißt in jeder einzelnen Abgründe auf, die ganze Stücke füllen könnten, und bricht dann ab. Sechzehn unverbundene Entwürfe. Der Nachteil freilich: Wo viel auf einmal geboten wird, kriegt man nirgendwo wirklich genug. Einige Szenen bleiben zu vage, um wirklich eindrücklich zu sein. Einige Übergänge wirken unbeholfen. Nicht immer gelingen die Gesangseinlagen nach Liedern des Renaissancekomponisten John Dowland so berührend wie Sting sie vor ein paar Jahren vertonte. Die Aneinanderreihung hat insgesamt etwas von einem Traumkarussell: Es bleiben am Ende nicht viel mehr als Fetzen.
Aber: Einige Fetzen schillern so stark, dass sie den bröseligen Rest überstrahlen. Und die Stückelung hat den Vorteil, dass den zweieinhalb Stunden ein erstaunlich breites Panorama der glücklosen Liebe möglich wird. Ein schwules Paar, das sich trennt, weil der eine (Michael Schrodt) findet: „Liebe allein genügt nicht“ – ohne auszuführen, was es ist, das da fehlt. Oder die Frau mittleren Alters, gespielt von Rita Feldmeier, die sich nach 20 Jahren von ihrem Mann trennen will – weil es nie Liebe zwischen ihnen gab. Oder das noch junge Paar (Claudia Renner und Wolfgang Vogeler), das beim sommerlichen Abendspaziergang von der Jugendliebe der Frau heimgesucht wird – und darüber spürt, was ihnen fehlt. Jeder wird sich in einer der vielen Figuren wiederfinden können.
Ein weiterer Vorteil: Durch die sage und schreibe 27 Frauen- und 24 Männerrollen, die das Stück aufweist, erhält das Ensemble ordentlich Futter. Und es greift zu. Zwei Beispiele müssen hier genügen: Nina Gummich beweist auf beknienswerte Weise ihr komisches Talent und die spielerische Lust am Sich-Verwandeln. Sie ist erst eine krankhaft Eifersüchtige, die ohne Zögern die Hochzeit ihrer Schwester mit der Ansage boykottiert, der zukünftige Mann liebe eigentlich nur, und absolut nur sie selbst! Dann ist sie die schüchterne Sekretärin, die ihren Chef (Raphael Rubino) nach einer durcharbeiteten Nacht mit der Frage konfrontiert, ob er denn möglicherweise, vielleicht und wie sie zu hoffen wage, während des Schlafens in sie eingedrungen sei? Zuletzt spielt sie das Mädchen Annie. Annie ist geistig behindert und schwanger. Der Arzt rät zur Abtreibung, aber sie will das Kind, will es unbedingt, und behauptet so die Möglichkeit einer Liebe, wie sie eingangs im Tänzchen unterm Ahornbaum aufschien: bedingungslos, ohne Arg und Angst.
Rita Feldmeier schließlich hat hier, zusammen mit Peter Pagel, einen großen Herzensbrecher-Auftritt, der allein schon einen Besuch dieses Abends lohnt. Es ist eine viel zu kurze Szene gegen Ende. Feldmeier spielt eine Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat. Ihr Mann besucht sie im Pflegeheim. Erst erkennt sie ihn nicht. Innerhalb weniger Minuten referiert er ihr dann, wie er es jeden Tag tut, das gemeinsame Leben. Das Kennenlernen, die Heirat, die Kinder. Ach?, staunt die Frau. Ich habe Kinder? Dann bittet sie den Mann, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet ist, um eine Umarmung. Die erste, wie sie sagt. Das ist so schön, dass man als Zuschauer grundtief neidisch wird auf diese Frau, die ihren Mann jeden Tag aufs Neue zum ersten Mal umarmt. Neidisch auf eine Art Paradies, das uns Erwachsenen, sogenannten Gesunden verschlossen ist.
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