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Walter Homolka
© Privat

Interview | Rabbiner Walter Homolka: „Jesus war kein Christ“

Der Potsdamer Rabbiner und Hochschullehrer Walter Homolka über sein neues Buch „Der Jude Jesus – Eine Heimholung“ und was die Forschung für den jüdisch-christlichen Dialog bedeutet.

Herr Homolka, Sie widmen Ihr Buch dem Regisseur Christian Stückl. Er bekam in diesem Jahr den Abraham-Geiger-Preis für die Inszenierung der Oberammergauer Passionsspiele.
Ihm verdanken wir Passionsspiele ohne christlichen Antijudaismus. Er hat sie hin zu einer ausgewogenen Darstellung innerjüdischer Konflikte erneuert. Die Jury hat so entschieden, weil Stückl damit die Botschaft vermittelt, wie wichtig es ist, gegen Rassismus und Antisemitismus einzutreten, um eine pluralistische Gesellschaft zu sichern. Das ist auch das Anliegen meines Buchs. Jesus von Nazareth ist Jude gewesen, er war kein Gründer einer neuen Religion. Schon gar nicht wollte er zur Triebfeder werden für eine Jahrhunderte währende Herabwürdigung, Demütigung und Entwertung des jüdischen Glaubens – der doch auch der Glaube Jesu war. Wie also können die Kirchen heute von Jesus sprechen, ohne das Judentum als schwarzen Hintergrund für seine Botschaft und Wirkung zu verwenden? Und wie gelingt es dem Judentum, in Jesus den Bruder wiederzuerkennen?

Sie geben einen Überblick über die Auseinandersetzung jüdischer Gelehrter mit dem historischen Jesus. Wo liegen die Anfänge dieser „Heimholung“?
Erstaunlich ist, dass sich überhaupt eine jüdische Leben-Jesu-Forschung herausgebildet hat. Dies ist parallel zum christlichen Bemühen geschehen, hinter dem Christus der Dogmen den historischen Menschen Jesus zu entdecken. Ein großer Anstoß war die christliche Erkenntnis: Jesus war kein Christ, er war Jude. Welche Wirkung hatte diese Einsicht auf jüdische Denker? Mein Buch versucht, die Funktion der Heimholung Jesu ins Judentum seit dem 19. Jahrhundert zu klären.

Eine große Rolle spielte die jüdische Aufklärung.
In der jüdischen Aufklärung an der Schwelle zum 19. Jahrhundert geht es auch um die Frage, wie das Christentum als Religion der Mehrheit zu bewerten ist. Der Gelehrte Jacob Emden hat einen Schlüssel zum Miteinander von Juden und Christen gefunden: Jesu Botschaft habe sich gar nicht an die Juden gerichtet, sondern an die anderen Völker, denen er so den Weg zu Gott geebnet habe. Nun wird wichtig, wie in der Emanzipation ein Miteinander gelingen kann. Und so zeichnet der große jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn ein Bild von Jesus als Juden, der sich an die Gesetze hält. Also wird das Christentum nicht mehr als eine jüdische Häresie bewertet, sondern als Weg, Gott allen Völkern zugänglich zu machen. Damit war auch die politische Absicht verbunden, dem Judentum einen Platz auf Augenhöhe zu verschaffen. Denn wenn Jesus observanter Jude war, müssen die Kirchen die Frage beantworten, was dann das Neue seiner Botschaft gewesen sei.

Welche Stoßrichtungen gab es im 20. Jahrhundert?
An der Wende zum 20. Jahrhundert steht Joseph Klausner und seine Jesusmonographie von 1922. Von ihm stark beeinflusst war dessen Großneffe Amos Oz, der in seinem Roman „Judas“ jüdische Fragen nach dem historischen Jesus herausarbeitet. Und er berichtet, wie er als Schüler einer orthodoxen Jerusalemer Schule angewiesen worden sei, seine Augen vor christlichen Symbolen oder Gotteshäusern abzuwenden. Onkel Joseph, so Oz, aber sagte, das dürfe er niemals tun. Mit diesem neuen Hinsehen im 20. Jahrhundert war eine Neubewertung des Verhältnisses, etwa durch Martin Buber und Schalom Ben-Chorin, verbunden: dass die brüderlichen Bande zwischen Jesus und seinem Volk auch durch die blutgetränkte Wirkungsgeschichte christlicher Unterdrückung nicht zerrissen werden konnten. Was sich in der Literatur beobachten lässt, das hat auch in der Kunst viel Widerhall gefunden.

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Wie sah die Forschung zu Jesus nach der Schoah aus? 1962 bis 1965 gab es ja auch das Zweite Vatikanische Konzil mit der Erklärung „Nostra aetate“.
Diese ist das Ergebnis der Einsicht auf christlicher Seite: Dürfen sich Christen noch unüberlegt auf die Christologie der hellenistischen Konzilien berufen und sie zur Norm machen? Welchen Stellenwert geben Christen dem Judesein Jesu? So hat das Hans Küng formuliert. Christlicherseits wogte ja der Kampf um die Frage, ob der historische Jesus überhaupt zu ermitteln sei. Albert Schweitzer meinte etwa, auf Jesus werde je neu das Idealbild einer Generation über den Menschen projiziert. So habe aber dieser Jesus nie existiert. Deshalb sah der Theologe Rudolf Bultmann eine historische Rekonstruktion von Leben und Lehre Jesu kritisch. Für die Verkündigung reiche das Faktum des Gekommenseins Jesu. Dieser „Christologie ohne Jesus“ widersprach der Theologe Ernst Käsemann und wurde zum Initiator einer neuen Welle der Leben-Jesu-Forschung.

Ein Kapitel widmen Sie den Debatten um Äußerungen von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI.
Mit Joseph Ratzinger verbinde ich den theologischen Rückfall. Denn in seiner Jesustrilogie spielt der historische Jesus keine große Rolle. Seiner Ansicht nach sind die Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung zu mager. Der Riss zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens sei immer tiefer geworden. Nur der Glaube mache aber aus Jesus Christus den Schlüssel für Altes wie Neues Testament. Die gemeinsame Schrift bedeute noch keine substanzielle Nähe von Juden und Christen. Man könnte meinen, für Ratzinger sei die Tatsache, dass Jesus Jude war, ein kultureller Zufall. Mit dieser Einschätzung unterscheidet er sich deutlich von Johannes Paul II.

Was ist für Sie das bisher größte Verdienst der jüdischen Forschung zu Jesus?
Auf der Basis von 70 Jahren jüdisch-christlichem Dialog ist viel Annäherung entstanden, und hierfür hat die jüdische Erforschung Jesu eine Basis geschaffen. Vor allem in den Jahrzehnten nach der Schoah wurde das Bild von Jesus, dem Juden, vertrauter. Und die Frage an die systematische Theologie des Christentums spitzt sich zu: Wie kann von Jesus in der Kirche gesprochen werden, ohne ihn seines jüdischen Umfelds zu berauben? Der Theologe Heinz-Günther Schöttler formuliert es überzeugend: „Im Verhältnis der Ecclesia zur Synagoga stehen Wahrheit neben Wahrheit und Glaube neben Glaube.“

Wie ist es heute um den jüdisch-christlichen Dialog bestellt?
Jede Generation muss sich neu auf den Weg machen. Das ist auch eine Motivation, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Aber wir sind einen Schritt weitergekommen, wenn Jan-Heiner Tück, der ein Geleitwort zu meinem Buch geschrieben hat, meint, eine Geschichte von Entfremdung sei in eine Geschichte wechselseitiger Lernbereitschaft überführt worden. Ich habe versucht zu zeigen, dass sich Juden mit der Person Jesu sehr wohl identifizieren können, ohne das christliche Bekenntnis zu Jesus Christus zu teilen.

Walter Homolka, Der Jude Jesus - Eine Heimholung, Verlag Herder, 2020, 256 Seiten, ISBN: 978-3-451-38356-4, 22 Euro, e-Book 13,99 Euro

Leticia Witte

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