Holocaust-Gedenken in Potsdam: Ja, so war das
Leon Schwarzbaum gehört zu den letzten Zeitzeugen, die die Vernichtungslager der Nazis überlebten. Am gestrigen Gedenktag für Holocaustopfer war er im Humboldt-Gymnasium in Potsdam zu Gast.
Potsdam - Ganz unspektakulär beginnt Leon Schwarzbaum seinen Vortrag. „1921 wurde ich in Hamburg geboren. Mein Vater hatte in Altona ein Geschäft.“ So könnten tausende Lebensgeschichten beginnen. Die von Leon Schwarzbaum ist eine besondere. Er, der Jude, hat den Holocaust überlebt. Hat Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen durchlitten – Transporte, Todesmärsche, Hunger und Zwangsarbeit. Bis er von den Amerikanern befreit wurde. Am gestrigen Gedenktag für die Opfer des Holocaust ist der 95-Jährige, der heute in Berlin lebt, im Humboldt-Gymnasium zu Gast. Und erzählt vor gut 200 Schülern, Lehrern und anderen Gästen von der schlimmsten Zeit seines Lebens.
„Persönliche Geschichten sind immer eindrucksvoller als ein Vortrag im Geschichtsunterricht“, sagt Christian Wienert, Lehrer für Geschichte und LER, der zusammen mit der Mutter eines Schülers die Veranstaltung organisiert hat. „Solange es noch Zeitzeugen gibt, sollte man sie auch hören“, so Wienert. Von den Schülern sei sofort positives Feedback gekommen. Das Thema Nationalsozialismus ist in der 9. und 10. Klasse dran. Und für die meisten Schüler weit weg. „Uns interessiert eher die Gegenwart, oder die Zukunft oder nahe Vergangenheit“, sagt ein Schüler im Publikum. Zuhause die Großeltern oder Urgroßeltern nach dieser Zeit zu fragen, das tun nur wenige. „Auf die Idee kommt man irgendwie gar nicht“, sagt eine Schülerin.
Dabei berührt sie das alles sehr, auch über die aktuellen Entwicklungen in Deutschland machen sie sich Gedanken, sagt Wienert. Einige malen bis kurz vor Beginn des Vortrags Plakate, mit denen sie anschließend die Demo gegen Pogida, die gestern quasi zeitgleich im Stadtzentrum stattfindet, besuchen wollen.
"Solang ich einigermaßen gesund bin, will ich also aus meinem Leben erzählen"
Leon Schwarzbaum findet das schrecklich. „Angst? Ja, das macht mir Angst“, sagt er. „Ich verstehe nicht, dass man wieder solche Gedanken hat, dass wieder Ausländer beschimpft und angegriffen werden. Ich hätte nicht geglaubt, dass so etwas noch einmal möglich wird. Solang ich einigermaßen gesund bin, will ich also aus meinem Leben erzählen. Junge Leute sind neugierig und wollen wissen, was ihre Vorfahren gemacht haben.“
Lange Zeit habe er gar nicht darüber reden können. Heute ist er alle paar Wochen irgendwo eingeladen, spricht in Schulen, auf öffentlichen Veranstaltungen, bei Gedenktagen. Im vergangenen Jahr trat er als Zeuge auf im Prozess gegen den SS-Mann Oskar Gröning. In diesem Jahr ist er in zwei Prozessen als Zeuge geladen. Gerichtsprozesse gegen Naziverbrecher. „Ich war ja in Auschwitz, wissen Sie“, sagt er leise.
Die Schüler im Saal sind bemerkenswert still, während Schwarzbaum redet, kein einziges Handy piept. Schwarzbaum spricht langsam; manchmal mechanisch, manchmal nachdenklich erzählt er sein Leben. Manchmal muss er innehalten, dann fällt ihm ein Name nicht ein, eine Jahreszahl, ein Wort. Manchmal scheint er ein Wort auch vermeiden zu wollen. „Die haben die Leute aus den Betten geholt und abtransportiert. 1943. Um die Stadt, nun ja, um die Bevölkerung – zu minimieren“. Das Wort „Judenrein“, diese arische, rassistische Begrifflichkeit, kommt ihm nicht über die Lippen. Es steht trotzdem plötzlich mitten im Saal.
Ein wichtiger Rat
Dann kommen Schilderungen vom letzten Blick der Mutter, die sagte, sie werde für ihn beten, dass er überlebt. Vom Ankommen im Auschwitz, von der Selektion. Dass er überlebt, verdanke er maßgeblich auch dem Typen, der ihm seine Nummer – „Im Lager gab es keine Namen“ – in den Arm tätowierte. Und dazu einen Rat gab. Im Lager brauche man eine Aufgabe, einen Job. Sonst schaffe man hier keine sechs Wochen. Und so machte sich Schwarzbaum nützlich, bot sich dem Lagerältesten als Türwächter, als Bote und Läufer an. „Und das Lager war groß. 14 Baracken. Was bin ich gelaufen. Manchmal schlief ich im Stehen ein. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass das geht.“
Auch Fotos hat er dabei, Farbbilder, die ihn, Jahrzehnte später, am Lagerzaun, vor der Baracke, vor dem Stockbett zeigen. „Mein Schlafzimmer“ kommentiert Schwarzbaum trocken. Dann nimmt er einen Schluck Wasser. „Die Verpflegung war miserabel. Im Grunde ungenießbar. Aber wir haben uns bald daran gewöhnt, alles aufzuessen. Ja, so war das.“
Die Schüler sind konzentrierte Zuhörer. Auch wenn Schwarzbaum aufsteht und demonstriert, wie die Menschen, die sich aus Verzweiflung umbringen wollten, im Starkstromzaun hingen. Wenn er die Vernichtungsmaschinerie erklärt, das Prozedere in den Gaskammern. Wenn er sich verhaspelt, weil er ausspricht, was sprachlos macht. Auch längere Pausen stehen dann im Saal, lange, stille Sekunden. „Ja, so war das.“
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