Homepage: Hitlers letzter Auftritt
Die Medienwissenschaftlerin Anna Luise Kiss hat die letzte Wochenschau mit dem NS-Diktator untersucht. Dabei ist sie auf Unregelmäßigkeiten gestoßen. Für ihre Arbeit wird sie nun ausgezeichnet
Vor ihr liegt das Handbuch der Filmdramaturgie, das Notebook ist aufgeklappt. Wenn man sie nach ihrem Werdegang fragt, spricht Anna Luise Kiss druckreife Sätze. „Mich haben die Mechanismen hinter den Medien interessiert“, sagt sie. Oder: „Im Gegenteil zu meinen Eltern war ich ganz davon überzeugt, dass die Schauspielerei das Richtige für mich ist.“ Ihre Eltern sind selbst Schauspieler, daher lag ihr der Beruf immer nahe. Mit 18 Jahren stand sie bei „Kommissar Rex“ zum ersten Mal vor der Kamera. Sechs Jahre lang war sie dann als junge Nonne, die sich verliebt, in der ARD-Serie „Um Himmels Willen zu sehen“. Doch die Schauspielerei alleine reichte ihr nicht. Nebenbei studierte sie Kulturwissenschaft, später dann Medienwissenschaft an der Potsdamer HFF. „Ich hatte bemerkt, dass ich lieber den theoretischen Weg der Wissenschaft weitergehen möchte.“
Heute sitzt die 31-Jährige im Melodie Filmcafé und spricht über Hitlers letzte Wochenschau, als wäre sie bei den Dreharbeiten selbst dabei gewesen. Sie weiß nahezu alles über diese letzten Aufnahmen des NS-Diktators aus dem Frühjahr 1945, in denen Adolf Hitler eine Reihe von Hitlerjungen abschreitet, die das Eiserne Kreuz erhalten. Sie war es, die den Durchhaltefilm aus den letzten Kriegstagen als zusammengeschnittene Inszenierung entlarvt hat. Sie war es auch, die das Rätsel um das Entstehungsdatum der Aufnahmen gelüftet hat. Dafür erhält sie nun den diesjährigen Nachwuchswissenschaftlerpreis des Landes Brandenburg.
Die dritte Episode der Deutschen Wochenschau Nr. 755 ist weithin bekannt. In sämtlichen History-Dokus des Fernsehens liefen die Aufnahmen hoch und runter, die Sequenz, in der Hitler dem jungen Alfred Czech die Wange tätschelt, ist auch als Foto recht bekannt. Im Anschluss berichten die jungen Rekruten von ihren Kriegserlebnissen, als seien es Pfadfinderabenteuer. Hitler wird nicht – wie oft zuvor – als Übermächtiger von unten gefilmt, sondern tritt den Jugendlichen in Augenhöhe gegenüber, väterlich zugetan, als treuer „Führer“, der seine Helden nicht vergisst.
Nach einem Hinweis eines Dozenten hatte sich Anna Luise Kiss die Aufnahmen genauer angeschaut. Und bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Die Aufnahmen mit Hitler wurden im Hof der Reichskanzlei gedreht. Doch die Sequenzen, in denen die Hitlerjungen von ihren Erlebnissen berichten, lassen einen anderen Hintergrund erkennen. Auch gibt es einen sogenannten Anschlussfehler: Einer der 20 Rekruten trägt nach einem Schnitt andere Kopfbedeckung. Die junge Filmwissenschaftlerin verifizierte schließlich den Hintergrund als das damalige Auslandshaus in Berlin Gatow (heute „Haus Lenné“). Die getrennten Aufnahmen wurden gemacht, weil Hitler offensichtlich physisch gar nicht mehr in der Lage zu längeren Dreharbeiten war. Hitlers Schüttellähmung wurde kaschiert, er verbarg die zitternde linke Hand hinter dem Rücken.
Auch dass diese Aufnahmen selbst in aktuellen Dokumentationen immer wieder auf Hitlers 56. Geburtstag am 20. April 1945 datiert werden, konnte Anna Luise Kiss in ihrer Arbeit als Verwechslung entlarven. Tatsächlich soll am 20. April ebenfalls eine Abordnung Jugendlicher vor Hitler angetreten sein. Doch zu der Zeit herrschte bereits Filmverbot, Berlin war von Sowjettruppen eingekesselt. Anna Luise Kiss konnte schließlich den 19. und 20. März als mögliche Drehtage verifizieren.
Eigentlich hat die Arbeit der HFF-Absolventin in ihrer Aussagekraft fast schon den Anspruch einer Promotion. „Deswegen habe ich wohl auch den Preis erhalten“, sagt sie selbstbewusst. Und an einer Promotion arbeitet sie nun: Sie will die Rolle von Laiendarstellern im deutschen Film erforschen. Die 5000 Euro Preisgeld sind ihr dabei eine große Motivation. Zumal sie auch an der Geschichte mit Hitlers letztem Wochenschau-Auftritt dranbleiben will.
Seit einem Jahr arbeitet sie bereits als akademische Mitarbeiterin an der HFF. Neben Filmgeschichte gibt sie auch Seminare in Filmdramaturgie. Wie Wissenschaft und Schauspielerei zusammenpassen? Sehr gut, meint die Akademikerin. „Für beides braucht man eine vermittelnde Fähigkeit“, sagt sie. Wenn sie vor Studierenden oder Konferenzteilnehmern steht, sei das auch ein Auftritt. Ihre schauspielerischen Fähigkeiten seien auch der Grund dafür, dass sie so präzise Antworten gibt. „Ich habe gelernt, mich in andere Menschen hineinzuversetzen“, erklärt sie. So wisse sie meist schon, was man sie fragen wolle.
Als sie nach dem Fernstudium merkte, dass sie den Weg der Wissenschaft einschlagen will, ließ sich Anna Luise Kiss 2007 aus der TV-Serie „Um Himmels Willen“ radikal herausschreiben, wie sie sagt. Ein Autounfall, dann war Schluss. Heute bleibt ihr neben der akademischen Arbeit keine Zeit mehr für Filmrollen, allenfalls als Synchronsprecherin arbeitet sie noch. Doch wer weiß, vielleicht lässt sie sich eines Tages wieder in ein Drehbuch hineinschreiben.
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