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Die Potsdamer Psychotherapeutin Astrid Maroß.
©  Bildhaus Potsdam

Interview | Psychotherapeutin Astrid Maroß: „Fast alle haben Angst“

Die Potsdamer Psychotherapeutin Astrid Maroß über komplizierte Hygieneregeln an Grundschulen, verunsicherte Kinder und die Folgen der Krise für die seelische Gesundheit der Kleinsten.

Frau Maroß, für viele Kinder in Potsdam war diese Woche der erste Schultag nach wochenlangem Homeschooling – allerdings verbunden mit vielen teils komplizierten Abstands- und Hygieneregeln. Viele Eltern berichten hier von Verunsicherung bei ihren Kindern. Wovor haben sie Angst?
 

Meiner Erfahrung nach haben fast alle Grundschüler die Befürchtung, bei den Hygieneregeln etwas falsch zu machen. Sie haben Angst, nicht alles sofort hinzukriegen, mit dem Maskentragen nicht klarzukommen, bei Verstößen gemaßregelt oder bloßgestellt zu werden. Oder dass sie im Unterricht keine guten Leistungen abliefern könnten, weil sie sich selbst nicht fleißig genug im Homeschooling einschätzen. Manche fürchten natürlich auch, sich anzustecken, das hängt meist stark mit dem Elternhaus zusammen. Ängstliche Kinder haben oft auch einen ängstlichen Elternteil.

Haben Sie denn den Eindruck, dass es durch die Krise vermehrt ängstliche Kinder gibt?

Ja, das berichten mir viele Kollegen und Eltern. Das äußert sich etwa darin, dass sie weniger oft Bedürfnisse äußern, weil die Chancen, dass reagiert wird, gesunken sind. Bei vielen sind auch Trennungsängste wahrzunehmen: kleine Kinder, die nachts wieder ins Elternbett kommen, Zehnjährige, die nicht mehr alleine zu Hause sein können. Andere sind trotzig und haben Wutanfälle oder sind matt und zurückgezogen, weil ihnen die Struktur und Gesellschaft fehlt.

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Insofern ist es ja zu begrüßen, dass die Schule wieder anläuft, oder?

Ja, und ich weiß auch, dass bei vielen die Freude überwiegt, Mitschüler und die Lehrer wiederzusehen. Allerdings befürchte ich, dass die vielen neuen Regeln, die den Kindern nun auferlegt werden, das emotionale, soziale und kognitive Lernen behindern.

Inwiefern?

Kinder probieren sich aus, testen Grenzen, üben soziale Beziehungen, Konfliktlösung mit Gleichaltrigen. Sie lernen, Gefühle auszudrücken und sie zu regulieren. Sie verlassen sich auf Bezugspersonen, die ihnen dabei helfen. Viele vertraute Gleichaltrige und erwachsene Begleiter waren wochenlang nicht verfügbar und sind auch jetzt nur eingeschränkt verfügbar. Es braucht eine gewisse Gelassenheit und inneres Gleichgewicht, damit Schulstoff im Hirn ankommen kann. Doch einige nehmen Schule oder auch Kita jetzt als etwas Unsicheres oder Kompliziertes wahr, da können sie sich nicht gut auf Lerninhalte einlassen.

Gibt es denn schon Schätzungen, wie viele Kinder nachhaltige psychische Probleme durch die Krise haben werden?

Seriös kann man das jetzt noch nicht beziffern. Aber schon vor der Coronakrise litten rund zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter Angststörungen. Für sie ist die Krise natürlich eine besondere Herausforderung, auch weil Kinder auf Krisen nicht rational, sondern emotional reagieren.

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Was meinen Sie damit?

Kinder verfügen noch nicht über sogenannte Gesundheitskompetenz, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie können nicht einschätzen, was ein großes Risiko und was ein niedriges Risiko ist. Insbesondere kleine Kinder spüren aber seit Wochen, dass die Erwachsenen und die Gesellschaft eine offenbar bedrohliche Situation erleben. Nicht nur was Krankheit und Sterben angeht, sondern auch was die Arbeit beziehungsweise Jobverlust und Einkommenssicherheit der Familie angeht. Sie spüren, dass die Eltern belastet sind, können das aber nicht konkret einordnen. Viele spüren vielleicht auch emotionale Einsamkeit, und es hilft ihnen nicht zu wissen, dass man sich in zwei oder drei Monaten wiedersieht.

Was bedeutet denn der reduzierte Körperkontakt für Kinder?

Direkter Körperkontakt gehört zu den essentiellen Grundbedürfnissen. Größere Kinder können das vielleicht nachvollziehen und einordnen, dass sie nicht mit Oma kuscheln dürfen, aber kleine Kinder nehmen das mit großer Wahrscheinlichkeit persönlich. Das muss nicht für jedes Kind nachhaltige negative Folgen haben, aber es ist in jedem Fall sehr unnatürlich.

Gerade jüngere Kinder brauchen Kuscheleinheiten.  
Gerade jüngere Kinder brauchen Kuscheleinheiten.  
© DVE/Janine Metzger/Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V./obs

Ist es denn so, dass Kleinkinder generell stärker unter der Krise leiden als größere?

Das ist möglich. Vieles wird erst zeitverzögert sichtbar werden, aber dass eine solche bedrohliche gesellschaftliche Situationen psychische Folgen haben wird, ist wahrscheinlich – auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina geht ja davon aus. Aber entscheidend dafür, wie ein Kind aus dieser Krise hervorgeht, ist die Art der Bewältigung. Vermutlich wird sich zeigen, dass Kinder aus Risikokonstellationen am meisten leiden werden, also Kinder aus armen Haushalten, aus Haushalten mit Existenzängsten, in denen die Eltern massiv überlastet oder psychisch krank sind. Deshalb sind auch gesellschaftliche Hilfen zur Bewältigung psychischer Belastungen wichtig.

Finden Sie denn, dass der Infektionsschutz der Erwachsenen über den Schutz der seelischen Gesundheit von Kindern gestellt wird?

Ich möchte diese beiden Dinge nicht gegeneinander ausspielen. Aber ich finde, dass es hier eine gewisse Unausgewogenheit gibt. In der ersten Phase der Pandemie hatten wir logischerweise nur die körperliche Gesundheit im Blick und haben alles gemacht, um den worst case zu verhindern. Dank unseres stabilen Gesundheitssystems und der guten Arbeit der Gesundheitsämter ist die Infektionssituation jetzt aber gut beherrschbar. Nun sollten wir unseren Blick auch wieder auf andere Bereiche von Gesundheit wenden, etwa die seelische. Natürlich brauchen wir weiterhin Infektionsschutz, aber wir sollten uns auf die effektiven Maßnahmen konzentrieren. Und dazu gehört meiner Meinung nach nicht das extreme Separieren der Kinder auf dem Pausenhof oder das Verbot, einen Radiergummi auszuleihen.

Was empfehlen Sie Eltern, deren Kinder verängstigt sind?

Ich empfehle, im Rahmen der erlaubten Regelungen kleine Netzwerke zu bilden, um sich gegenseitig zu entlasten und Kindern Raum zum Bewegen und Spielen zu geben. Auch können Eltern versuchen, sich selbst vor irrationalen Ängsten zu schützen – denn dann strahlen sie Sicherheit und Schutz aus. Wirklich schwierige Gespräche über Erwachsenensorgen sollten nicht in Gegenwart kleiner Kinder geführt werden. Es wäre gut, wenn Kinder ihre Eltern so erleben, dass sie das Beste aus der äußeren Situation machen, ohne sie ständig zu thematisieren. Und Eltern sollten nicht von ihren Kindern verlangen, ständig zu funktionieren und Leistung bringen zu müssen. Wenn die psychische Balance kippt ist es wichtig, dass Eltern sich Hilfe suchen. Man muss nicht mit allem alleine klarkommen.

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