"Wut, Trauer und Ohnmacht": Erinnerung an ein Leben mit der Mauer
Nachts hörte Heidi Kröger die Schüsse an der Grenze. Sie lebte nahe der Glienicker Brücke. Dort werden zum 30. Jahrestag der Grenzöffnung einige ihrer Fotos vom 10. November 1989 gezeigt.
Potsdam - Es gibt Augenblicke im Leben, von denen man im selben Moment weiß, dass man sie nie vergessen wird. Mitunter ist da auch ein Geräusch, das untrennbar mit einem solchen Augenblick verbunden ist und wie eine Tonaufnahme für immer gespeichert wird.
Heidi Kröger hat beides vor bald 30 Jahren, am 10. November 1989, an der Glienicker Brücke erlebt, jenem Tag, an dem die Schlagbäume zwischen Ost und West geöffnet wurden. Der Augenblick, das war die endlos scheinende Kolonne von Trabis, die im Schritttempo aus Potsdam über die Brücke in Richtung Berlin-Wannsee schlich. Das Geräusch, das waren die tausendfachen Trommelwirbel auf den Dächern der Trabants, so hießen die Wessis die Ossis willkommen. Rhythmisch schlugen sie mit den Innenseiten ihrer Hände auf jedes Auto, das sie passierte. Es war der Sound der Freiheit.
Heidi Kröger, heute 74 Jahre alt, lebte damals mit ihrer Familie in Berlin-Wannsee. Am 9. November hatte sie im Fernsehen „ungläubig staunend“ die Bilder von der Grenzöffnung an der Mauer gesehen, am nächsten Tag fuhr die Sozialarbeiterin mit ihrem Mann Peter, damals Sprecher des Senders Freies Berlin, nach Berlin zum Brandenburger Tor. Sie ließen sich von der „Euphorie über das Unfassbare“ mitreißen, und als sie am Nachmittag erfuhren, was an der Glienicker Brücke passiert war, machten sie sich auf den Weg dorthin.
Immer wieder drückte Heidi Kröger auf den Auslöser ihrer Kleinbildkamera, sie hielt ein Stück Geschichte fest. Einige dieser Aufnahmen hat sie für eine große Fotoausstellung zur Verfügung gestellt, mit der das Regionalmanagement Berlin Südwest und die Potsdamer Neuesten Nachrichten das bedeutende Datum würdigen. Unter dem Motto „Die Glienicker Brücke vor, am und nach dem 10. November 1989“ sollen am Jubiläumstag die besten 30 Fotografien von der Glienicker Brücke und ihrer Umgebung in den Tagen des Mauerfalls gezeigt werden. Die Fotos werden am 10. November großformatig an der Brücke ausgestellt.
Heidi Kröger berichtet darüber, dass sie „fast ihr ganzes Leben mit der Mauer gelebt“ hat, wie sie von West-Berlin hinübersah in den Osten und gelegentlich sogar ein wenig Alltagsleben der Grenztruppen der DDR oder ganz normaler Bürger beobachtete. Sie ist kein Einzelfall – was sie vor dem Mauerfall erlebt hat, ist Teil der Geschichte von Hunderttausenden. Und doch ist ihr Rückblick auf das Leben mit der Grenze, die den furchtbar untertreibenden Namen Eiserner Vorhang trug, ein sehr persönlicher.
Kröger kam 1945 auf einem großen Bauernhof, dem Gut Marienhof, nahe der nordhessischen Stadt Eschwege zur Welt, nur ein paar Hundert Meter von der Grenze zwischen Hessen und Thüringen entfernt. Deutschland war im Februar 1945 während der Konferenz von Jalta auf der Halbinsel Krim in vier Besatzungszonen unter der Kontrolle der Siegermächte aufgeteilt worden, Krögers Eltern gaben den Hof nahe der Grenze auf und siedelten nach Norddeutschland um.
Dann kam der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus. Die Schülerin Heidi fuhr zwei Wochen danach mit ihrer Klasse der Ländlichen Haushaltsschule nach West-Berlin, und was die Pennäler an einem Abend an der Bernauer Straße erlebten, berührte sie tief. „Viele Menschen hatten sich dort versammelt“, erinnert sich Kröger, „manche lagen sich mit Tränen in den Augen in den Armen.“ Plötzlich sei ein Mann auf einer Trage zu einem Rettungswagen gebracht worden: „Er hatte gerade die Mauer überwunden.“ Ihre Gefühle, sagt sie, „schwankten zwischen Wut, Trauer und Ohnmacht“. 1965 arbeitete die junge Frau im West-Berliner Johannesstift. Mehrmals im Jahr durften Mitarbeiter Bücher im Wert von 100 Mark bestellen, um sie, was nach den Vorschriften der DDR verboten war, heimlich zu Ost-Berlinern zu bringen. Einmal wurde sie dabei am S-Bahnhof Friedrichstraße, einer der damaligen Grenzübergangsstellen von und nach West-Berlin, von Vopos erwischt.
„Zeigen Sie mal ihre Tasche“, sagte der DDR-Grenzer, nahm ein Buch von Max Frisch und eines von Heinrich Böll heraus und verschwand damit. „Zwei Stunden hielten sie mich in einem fensterlosen Raum, in dem es nur einen Stuhl und ein Waschbecken gab, fest. Dann durfte ich ohne weitere Bestrafung gehen“, erzählt Kröger.
Immer wieder fand sie ganz legale Schlupflöcher durch den vermeintlichen Schutzwall. Schon im Alter von 16 Jahren entstand eine Brieffreundschaft mit einem Mädchen aus Leipzig, sie hielt auch , als beide eine Familie gegründet hatten. Sie freuten sich aufeinander, wenn sie sich in Ost-Berlin verabredeten, und sie waren miteinander traurig, als sie im Herbst 1963 auf der DDR-Seite am Brandenburger Tor standen. „Ich will doch nur mal nach drüben und gucken, ich will hier doch gar nicht weg“, sagte Heidis Freundin. Die Mädchen umarmten sich fest und weinten.
Für Wessis gehalten
Jahre später stromerten die Freundinnen durch Berlin-Mitte, sie wollten in einer der urigen Kneipen zu Abend essen. Immer wieder ging der Kellner an ihnen vorbei, ohne sie zu bedienen. Nach einiger Zeit gaben sie auf. Am Ausgang zischte ihnen jemand etwas zu: „Ach, merken Sie endlich, dass Sie hier nicht erwünscht sind!“ Das sei „Ablehnung pur“ gewesen, sagt Heidi Kröger, „die hielten uns beide für Wessis“. Ganz anders ein paar Jahre danach, als im Zeichen der beginnenden Entspannungspolitik die D-Mark im Osten als Zahlungsmittel akzeptiert wurde. „Da wurde man plötzlich wie ein König behandelt.“
Heidi Kröger heiratete und zog mit ihrem Mann nach West-Berlin. Sie fanden im Laufe der Zeit ein Haus an der Glienicker Straße, nicht weit von der Grenze. „Nachts hörten wir mitunter Schüsse“, sagt sie, „und in den folgenden Tagen lasen wir dann in einer Zeitung, dass ein Fluchtversuch gescheitert war.“
Ihre Brieffreundschaft hielt. Als beide Frauen verheiratet waren, sahen sich die Familien regelmäßig – aber nur in der DDR.
In Wannsee wanderte die Familie dann und wann einen Hügel hinauf, der einen guten Blick „nach drüben“ ermöglichte – vor allem, wenn die Bäume im Winter kein Laub mehr trugen. „Wir sahen mitunter Vopos, die sich an die Mauer lehnten und frühstückten, wir sahen Menschen, die ihre Gärten bearbeiteten und andere, die gegenüber im Konsum einkauften“, sagt Heidi Kröger, „sie waren so nah und doch so fern“.
Vom Kurs abgekommen
Es gab aber auch Momente des Schreckens. Es war 1983, als Peter Kröger und sein 13 Jahre alter Sohn Timm mit ihren Kanadier-Kanus am Griebnitzsee paddelten. Die Grenze lag in der Mitte des Sees und war mit Bojen gekennzeichnet, nicht weit entfernt patrouillierten Boote der DDR-Grenztruppen. Zu allem Unglück musste Timm Kröger, heute ZDF-Korrespondent in Nairobi, zurück zur Söhnel-Werft paddeln, weil er die Persenning für sein Boot dort vergessen hatte. Auf dem Rückweg in der Dämmerung wurde er jäh gestoppt.
Die Scheinwerfer eines DDR-Patrouillenboots tauchten den Kanadier in gleißend helles Licht. Dann ertönte eine Stimme über ein Megafon: „Sie befinden sich in Hoheitsgewässern der DDR. Sie haben die Grenze verletzt.“ Offensichtlich war der Schüler vom Kurs abgekommen. Doch die Grenzer erkannten wohl auf den ersten Blick, dass sie es weder mit einem Republikflüchtling noch einem Spion zu tun hatten. Sie wiesen ihm den Weg zurück in die West-Berliner Gewässer.
Nach der Wende hielt Heidi Kröger Vorträge an der Potsdamer Sozialfachschule. „Es gab 80 D-Mark Honorar. Davon habe ich mir in einer Kunsthandlung an der Brandenburger Straße Lithografien gekauft“, sagt sie. „Die Freude war groß.“
Carsten Holm
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