Potsdam vor 75 Jahren: Erinnerung an den Bombenangriff vom 21. Juni 1944
"Eine riesige Feuersäule entlang der Havel": Horst Goltz hat die Bombenangriffe auf Potsdam dokumentiert, auch den wenig bekannten vom 21. Juni 1944.
Potsdam - Es war der vorletzte Schultag vor den Ferien. „Wir saßen alle friedlich beisammen in der Klasse“, so hat es Horst Goltz in sein Notizbuch geschrieben, einige Wochen nach jenem 21. Juni 1944: „Das Wetter war nicht klar und nicht bewölkt.“ Als die Klingel dreimal schellt, war für Goltz und seine Mitschüler in der zweiten städtischen Oberschule für Jungen klar: In 15 Minuten ist mit Fliegeralarm zu rechnen. Wer die entsprechende Erlaubnis hatte, durfte nach Hause. Alle anderen, darunter auch Goltz, gingen in den Schutzraum im Keller des Schulgebäudes – das heutige Einstein-Gymnasium in der Innenstadt. Routine. Und doch auch nicht.
Horst Goltz war 13 Jahre alt und schon damals ein Sammler und Beobachter. Penibel führte er Buch über den Zweiten Weltkrieg in Potsdam, notierte jeden Alarm, jeden Luftangriff, auch Zwischenfälle wie Flugzeugabstürze im Stadtgebiet. Auf eigene Faust inspizierte er Einschlagstellen auf der Suche nach Überbleibseln. Oder stromerte durch den Wald, sammelte Splitter von Flak-Granaten oder Flugzeugteile ein. „Die wurden auf dem Schulhof getauscht – wie Briefmarken“, erklärt der heute 89-jährige Diplombiologe.
Die meisten dieser Fundstücke bewahrt Goltz bis heute auf. Es ist, als lasse ihn diese Zeit nicht los. Und als versuche er – ganz Naturwissenschaftler – eine Ordnung hineinzubringen in das, was er damals erlebte. Als der Ausnahmezustand Alltag war. Weil der Krieg, den Nazi-Deutschland über Europa gebracht hatte und in dem auch Goltz’ Vater kämpfte, zurückgekommen war in die deutschen Städte. Nach Potsdam. Und nach Hermannswerder, wo Goltz groß geworden war und wo er mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester lebte.
Heute wohnt Goltz mit seiner Frau gar nicht weit davon entfernt. Das bescheidene Reihenhaus in der Templiner Vorstadt ist buchstäblich vom Keller bis zum Dachboden gefüllt mit Geschichte. Da sind stapelweise Bücher, Alben, Hefter und Ordner, Kisten und Plastikdosen mit metallenen Fragmenten, datiert und beschriftet, ein riesiger bauchiger Glasbehälter voller Granatsplitter, eine Sammlung von Flugblättern, die Horst Goltz – verbotenerweise und unter Lebensgefahr – noch zu Kriegszeiten angelegt und später vervollständigt hat, und immer wieder handschriftliche Unterlagen und Zeitungsausschnitte. Goltz’ Tagebucheinträge mit den genauen Daten sind in Hans-Werner Mihans Standardwerk „Die Nacht von Potsdam“ zum Bombenangriff vom 14. April 1945 eingeflossen. Und wenn die PNN mal wieder über einen Blindgänger berichten, dann meldet sich Goltz ziemlich sicher in der Redaktion. Weil er noch einen Hinweis hat.
So war es auch im Januar 2019, als Sprengmeister Mike Schwitzke vom Kampfmittelbeseitigungsdienst einen Blindgänger US-amerikanischer Bauart in der Speicherstadt entschärfte. Dass die 250-Kilogramm-Bombe vom britischen Angriff am 14. April 1945 stammt, hält Goltz nämlich für unwahrscheinlich. Er glaubt, dass es sich um ein Überbleibsel des weniger bekannten Angriffes vom 21. Juni 1944 handelt, eines Angriffs also, der heute vor 75 Jahren stattfand. Vor allem die Lage der Bombe weise darauf hin, sagt er. Der Bombenteppich habe sich damals von der Havel nördlich von Hermannswerder in Richtung Südosten über die Halbinsel, die Speicherstadt und das Bahnhofsgelände bis hin in die nördlichen Ausläufer der Nuthewiesen gezogen. In seinem Notizbuch hat er eine kleine Karte angefertigt. Nach Angaben der US-Armee – Goltz schlägt das Buch in englischer Sprache auf – gingen dabei 103 Tonnen Sprengstoff auf die Stadt nieder. 40 bis 50 Bomben, so schätzt Goltz, waren es auf Hermannswerder.
Engländer nachts, Amerikaner tagsüber
Bemerkenswert war dieser 21. Juni, weil es der erste größere Angriff bei Tage auf Potsdam war. Seit Januar 1944 waren neben den englischen auch US-amerikanische Flugzeuge immer wieder über der Stadt unterwegs gewesen. „Die Engländer kamen nachts, die Amerikaner am Tage“, erinnert sich Goltz. Am 21. Juni verfolgten er und seine Mitschüler im Keller am Radio die Entwicklungen. Zunächst sah es danach aus, dass Potsdam verschont bleiben würde, die Flieger auf Berlin aus gewesen waren. „Mit einem Mal rumste es gewaltig“, so schrieb Goltz es in sein Notizbuch. Als die Schüler sich draußen ein Bild machten, sahen sie „eine riesige Feuersäule entlang der Havel“. Goltz sorgte sich um seine Mutter und seine Schwester zu Hause. Angst habe er aber nicht gehabt: „Das war mir fremd.“
Einziges Todesopfer auf Hermanswerder
Auf dem Weg in Richtung Kiewitt zur Fähre wurde klar, dass das Haus noch steht – eine Erleichterung. Am Fähranleger war er dann doch schockiert: Massenweise tote Fische trieben auf der Havel, außerdem große Dreckbatzen, die Fähre war komplett vollgespritzt. Aber der Fährmann lebte und konnte übersetzen. Mutter und Schwester waren wohlauf.
Aber Hermannswerder war hart getroffen. Auch das einzige Todesopfer dieses Angriffs war dort zu beklagen – im Hoffbauer-Mutterhaus, das damals als Lazarett genutzt wurde: „Der Operationssaal ist vollkommen vernichtet worden“, notierte Goltz. Die Röntgenschwester, die wohl aufräumen wollte, kam zu Tode. Licht- und Wasserleitungen waren beschädigt, die Reparatur dauerte mehrere Tage. „Ganz Hermannswerder musste sich vom Fährhaus oder anderswo Wasser holen.“
Goltz dachte zuerst pragmatisch: „Ich habe mir ein Boot ausgeliehen und die toten Fische eingesammelt“, erzählt er. „Davon haben wir uns sehr lange noch ernährt.“ In den Tagen nach dem Angriff seien die Blindgänger auf Hermannswerder ausgegegraben worden. An das Bild der Bomben, die dann vor den Häusern lagen, erinnert er sich noch gut: „Da konnte man sich draufsetzen.“
Dass er den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, nicht in den letzten Kriegstagen noch an die Front geholt wurde, das verdanke er ironischerweise dem großen Angriff am 14. April 1945, ist Goltz überzeugt. Er hatte bereits an einer Ausbildung der Hitler-Jugend teilnehmen müssen, auch am Abend der Bombardierung. Das Ausmaß der Zerstörung in Potsdam hat er damals dokumentiert. Danach sollte er Hermannswerder bis zum Kriegsende nicht mehr verlassen: „Ich habe mich in der Stadt nicht mehr blicken lassen.“
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