Soziale Hilfe in der Coronakrise: Eine Vollbremsung menschlicher Nähe
Ruf-Frühstück, gepackte Tüten in der Tafel und der Suppenküche: Die Orte sozialer Hilfe in Potsdam müssen in der Coronazeit ihr Angebot anpassen, das Zwischenmenschliche wird oft weniger. Dabei wächst die Not.
Potsdam - Ein Brötchen mit Käse und eins mit Salami, ein paar Salatblätter, dazu ein Apfel und eine Banane. Mit einem Lächeln nimmt Horst Brabant die vollgepackte Frühstückstüte entgegen. Margitta Hornburg vom Büro Kindermut der Arbeiterwohlfahrt (Awo) drückt sie ihm in die Hand und hält noch einen kurzen Plausch. „Ich habe ja sonst keinen zum Reden“, sagt der 68-Jährige.
Er wohnt allein in Drewitz. Vor zehn Jahren, so erzählt er es, zog Brabant aus Leipzig her, den Zungenschlag hat er mitgebracht. Sein engster Freund lebte in Potsdam, sie hatten sich gegenseitig versprochen, füreinander da zu sein. Das waren sie auch. Als der Freund an Krebs erkrankte, pflegte Brabant - selbst auch krebskrank - ihn bis zum Schluss. Doch seither ist er ganz allein. Deshalb ist er so dankbar über das Stadtteilfrühstück im Stadtteilzentrum Oskar und nun, wo dieses wegen der Corona-Verordnung nicht stattfinden kann, zumindest die Tüte und ein paar warme Worte an der Haustür. Ein kleiner Moment, der die Einsamkeit durchbricht.
Seit Beginn der Woche bietet das Awo-Büro Kindermut gemeinsam mit den Stadtteilzentren ein Ruf-Frühstück an. Montags in der Waldstadt, dienstags am Schlaatz und mittwochs und freitags in Drewitz. Es lief langsam an, muss sich erst noch herumsprechen, etwa ein Dutzend Tüten wurden an den drei Tagen insgesamt verteilt. „Das Angebot ist für Leute gedacht, die Bedarf haben, sich in einer Krisensituation befinden“, erläutert Franziska Löffler, die Leiterin des Büro Kindermut.
Ein Anruf im jeweiligen Bürgerhaus oder im Büro Kindermut reicht, dann bringen die Helfer das Frühstück an die Haustür. „Doch es geht nicht nur darum, den Hunger zu stillen, sondern auch um die Begegnung“, so Löffler. Manche ältere Personen, zum Teil schlecht zu Fuß, die Verwandten in anderen Städten, säßen den ganzen Tag allein in der Wohnung.
Zum ohnehin schwierigen Alltag kommt nun die Angst. Die Angst vor einer Infektion. Und, so Löffler, eine Urangst, die immer wieder genannt wird: Die Angst, allein zu sterben. „Die Menschen erleben soziale und finanzielle Krisensituationen, die sie allein mit sich selbst austragen“, so Löffler. „Viele bangen um ihre Existenz.“
50 Prozent mehr Anmeldungen bei der Tafel
Dass die Corona-Krise auch in Potsdam viele in Not gestürzt hat, merken Imke Eisenblätter und ihr Team in der Potsdamer Tafel jeden Tag. „Bei uns in der Tafel sieht man die Folgen von Corona", sagt Eisenblätter. Viele werden plötzlich arbeitslos. Manch einer komme zum ersten Mal in seinem Leben zu der Essensausgabe für Bedürftige. „Die Zahl der Anmeldungen ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 50 Prozent gestiegen“, so Eisenblätter. Die Menge der Lebensmittel pro Person musste bereits reduziert werden, sagt sie. Spenden seien deshalb jederzeit willkommen, lang haltbare Lebensmittel etwa, aber auch Weihnachtsprodukte wie Lebkuchen, oder auch Tee und Kaffee.
Es kommen auffällig viele Studenten
Pro Woche versorgt die Tafel etwa 1200 Personen. Corona hat auch das Profil der Kunden verändert. „Es kommen mehr Jüngere, auch Familien, und neuerdings auch auffällig viele Studenten“, sagt die Leiterin. Ein Phänomen, das möglicherweise damit zusammenhängt, dass typische Nebenjobs als Kellner oder Bedienung im Café nun wegfallen. In wenigen Tagen wird wieder umgestellt von der Selbstbedienung an Körben auf vorgepackte Tüten. „Sonst dauert die Ausgabe viel zu lange. Manchmal stehen 100 Leute draußen in der Schlange und mehr als drei dürfen nicht gleichzeitig rein“, beschreibt Eisenblätter.
Auch die Suppenküche musste aufgrund der Landesverordnungen umstellen. Wo sonst mittags ein warmes Essen serviert wurde und sich die Besucher zwei Stunden am Tisch stärken, sich unterhalten und aufwärmen konnten, werden nun ebenfalls Tüten ausgegeben. Die Küche bleibt kalt. Ein älterer Mann lässt sich Brot einpacken, einen Becher Nudelsalat, ein Stück Kuchen. „Er kommt jeden Tag, meist ab der Mitte des Monats, wenn das Geld knapp wird“, sagt Peter Müller, Leiter der Suppenküche, während der Mann davonradelt.
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Seit die Coronazahlen steigen, kommen weniger Menschen in die Suppenküche. „Viele trauen sich nicht, sie haben Panik“, glaubt Müller. Dazu kommt das alte Problem der weiten Wege. Gerade die Wohnungslosen, die im Obdachlosenheim in Nedlitz oder jetzt in der Winterhilfe in zwei Pensionen unterkommen, können die 4,40 Euro für den Bus hin und zurück nicht aufbringen. Doch etwa 15 bis 20 Tüten werden auch hier täglich ausgegeben, dazu zweimal wöchentlich Kleider aus der Kleiderkammer.
Vieles, was sonst in der Sozialarbeit möglich ist, fällt nun weg. Das trifft vor allem den zwischenmenschlichen Bereich. Im Stadtteilzentrum Oskar sind das all jene Angebote, die sonst vor allem alleinstehende Senioren nutzen. Spielenachmittage, Kinoabende, Konzerte. „Die Alten leiden am meisten unter der Coronazeit“, glaubt Löffler. Soziale Isolation lasse auch das Risiko einer Depression steigen.
Doch neben den Senioren fürchtet Löffler die Folgen für eine weitere Gruppe besonders. „Die Familien fallen hinten runter.“ Es sind Familien, die nicht leicht zu erreichen sind. Manche leben mit vielen Kindern in kleinen Wohnungen, sind mit dem Alltag überfordert. Gewalt ist ein Thema, Arbeitslosigkeit, Fluchterfahrungen, getrennte Familien. Löffler spricht von „multiplen Problemlagen“.
Ins Gespräch kommen
Zum kostenlosen Frühstück kamen einige von ihnen. „Dort kam man ins Gespräch. Dann konnte man weitere Hilfe anbieten, ohne dass es gleich eine Beratung war, für die man sich anmelden muss“, beschreibt Katja Zehm, Leiterin des Oskar. Manche gingen nach dem Frühstück gleich weiter nebenan, zur Grubiso, der „Grundbildung im Sozialraum“, bei der es unter anderem um Alphabetisierung geht. „Jetzt verlieren wir diese Familien“, bedauert Löffler. „Es fühlt sich an wie eine Vollbremsung. Und nachher fangen wir bei null wieder an.“
Anmeldung für das Ruf-Frühstück per Telefon im Büro Kindermut, Tel.: (0331) 20076310. Oder in den Bürgerhäusern der Stadtteile. Bürgerhaus am Schlaatz: Tel.: (0331) 817190. Haus der Begegnung, Waldstadt: Tel.: (0331) 2702926. Oskar in Drewitz: Tel.: (0331) 2019704.
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