Regionen attraktiver machen: Ein gutes Beispiel aus Schwedt
Eine Studie zeigt, wie dörfliche Regionen wieder attraktiver gemacht werden könnten. Dazu gehört jedoch auch der Mut, sich über unsinnige Rechtsvorschriften hinwegzusetzen. Ein gutes Beispiel kommt aus Schwedt.
Durch Deutschland geht ein Riss. Berlin, Hamburg, München, die Ballungsräume um Frankfurt und Stuttgart, das alles ist für Demografieforscher heile Welt. "Gewinnerzone" nennt Reiner Klingholz, der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, diese Zentren. U-Bahnen und Busse fahren im Minutentakt, es gibt genügend Mediziner, Einkaufszentren, Kulturangebote, Schulen, Studienplätze, Pflegeheime – die meisten Menschen finden Arbeit, und sie werden gut versorgt. Den Bevölkerungsverlust kompensieren Zuwanderer, auch inländische. Der demografische Wandel richtet nicht wirklich was an.
Kein Bus, keine Schule, kein Bäcker
Die Verlierer leben auf dem Land. In der Uckermark und der Prignitz, den Dörfern und Kleinstädten Nordhessens, der Südwestpfalz und Oberfrankens. In diesen ohnehin schon dünn besiedelten Gegenden verringert sich die Einwohnerzahl den Forschern zufolge jährlich zwischen ein und fünf Prozent - und mit der schrumpfenden Bevölkerung verschwindet immer mehr an grundlegender Infrastruktur.
Eine Abwärtsspirale: Wer keinen Arzt, keinen Ausbildungsplatz, keine Schule mehr findet, zieht weg – und vergrößert das Problem. Zurück bleiben die Alten, die aber, weil sie oft nicht mehr Auto fahren können und medizinisch versorgt werden müssen, besonders auf funktionierende Strukturen angewiesen wären.
Gleichwertige Lebensbedingungen? Von wegen
Der Anspruch auf gleichwertige Lebensbedingungen, wie ihn das Grundgesetz vorgibt, sei "zur leeren Hülse geworden", resümiert Klingholz. Bürger blieben frustriert zurück, würden womöglich populistischen Parteien in die Arme getrieben. Dabei gebe es zahlreiche Ideen, um dörfliche Regionen attraktiver zu machen und der Landflucht zu begegnen. Sie scheiterten jedoch allzu oft an unsinniger Bürokratie und rechtlichen Hürden, an starren Mindestschülerzahlen, Hygienevorschriften, Versicherungsfragen.
Da werden Freiwillige Feuerwehren geschlossen, weil sie nicht mehr das komplette Technikmaterial vorhalten können. Da muss die Bevölkerung überdimensionierte Wasser- und Kanalsysteme finanzieren, obwohl Kleinkläranlagen reichen würden. Da vereitelt das Steuerrecht Nachbarschaftshilfen, da verhindern berufsständische Vorgaben, dass Ärzte und Krankengymnasten gemeinsame Räume nutzen, da dürfen sich Kommunen nicht an Privatschulen beteiligen, obwohl die öffentlichen dicht gemacht werden.
Von Hürden und Helden
In einer von der Generali-Versicherung geförderten Studie haben Klingholz und sein Thinktank nun bundesweit 37 Projekte gesammelt, bei denen solche Blockaden aufgetaucht sind und überwunden wurden (www.berlin-institut.org/publikationen). "Von Hürden und Helden" lautet die Überschrift. Und: "Wie sich das Leben auf dem Land neu erfinden lässt." Nachmachen erwünscht.
Beispiel Nahverkehr. Weil in der hessischen Odenwaldregion kaum noch Busse übers Land fahren, wird der öffentliche Nahverkehr dort nun mit privaten Mitfahrgelegenheiten kombiniert. Was gesetzlich und versicherungstechnisch erst unmöglich schien, wurde mithilfe von Ausnahmeregelungen wasserdicht gemacht.
Rollende Zahnarztpraxis
Beispiel Gesundheitsversorgung. Nachdem viele ihrer älteren Patienten nicht mehr den Weg in ihre Praxis schafften, kommt die Templiner Zahnärztin Kerstin Finger nun zu ihnen nach Hause. Ihre Idee, einen Lieferwagen zur rollenden Praxis umzubauen, scheiterte zwar an der Berufsordnung, die eine Arzttätigkeit "durch Umherziehen" untersagt. Dadurch, dass sie die mobile Versorgung nun mit einem großen Gerätekoffer bewerkstelligt und nur an einem Vormittag pro Woche anbietet, lassen sich die Behandlungen aber als Hausbesuch abrechnen.
Beispiel Kinderbetreuung. Im brandenburgischen Schwedt wollte es die Erzieherin Marlies Helsing nicht hinnehmen, dass es für die vielen Eltern, die dort im Schichtdienst arbeiten müssen, keine Möglichkeit gab, ihre Kinder noch spätabends abzugeben. In Eigeninitiative und gegen alle Widerstände baute sie gemeinsam mit anderen Kollegen und Eltern eine 24-Stunden-Betreuung auf, die nun teilweise auch von örtlichen Unternehmen gefördert wurde. Allerdings dauerte es vier Jahre, bis es die Übernachtungskita in den Bedarfsplan des Landkreises schaffte.
Tante-Emma-Laden mit Sparkasse
Im Landkreis Tübingen wollten es Bürger nicht tatenlos hinnehmen, dass die Pflegestation ihres Klinikums geschlossen wurde. In einer betreuten Wohngemeinschaft kümmern sich dort nun Angehörige um sieben Wachkomapatienten. In Nordfriesland schlossen sich 59 Gemeinden und zwei Städte im Ärger über eine fehlende Internetanbindung zusammen.
Und im nordrhein-westfälischen Jülich-Barmen quittierte der Lehrer Heinz Frey seinen Job, um sich ganz der Idee eines "Tante-Emma-Ladens fürs 21. Jahrhundert" zu widmen. Seither gibt es in dem 1400-Einwohner-Dorf nicht nur wieder einen Lebensmittelladen, sondern darüber hinaus einen Treffpunkt, in dem sich auch Sparkassengeschäfte erledigen, Autos anmelden, Zeitungsannoncen aufgeben und Sozialdienste engagieren lassen.
"Den Regulierungssumpf austrocknen"
Die Gesellschaft, so fasst es der Forscher Klingholz zusammen, brauche "den Mut, Neues auszuprobieren, Normen zu hinterfragen, notfalls auch unsinnige Gesetze zu brechen". Die Studie zeige, dass es auf dem Land nicht an Ideen mangle. Allerdings müsse die Politik engagierten Bürgern und Kommunen mehr Freiraum geben, den "Regulierungssumpf" austrocknen – und akzeptieren, dass manches auf dem Land eben nicht genauso funktionieren könne und müsse wie in den Städten.
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