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Amtsärztin Kristina Böhm.
© Sebastian Gabsch PNN

Interview | Potsdams Amtsärztin Kristina Böhm: „Die Reiserückkehrer bringen Covid zu uns”

Gesundheitsamtsleiterin Kristina Böhm über die Corona-Lage in Potsdam, nötige Veränderungen an der Teststrategie und die zweite Welle.

Frau Böhm, am 30. Mai haben die PNN Sie mit folgendem Satz zitiert: „Das Corona-Geschehen ist in Potsdam vorerst durch”. Haben Sie damals zu früh Entwarnung gegeben?

Nein. Das bezog sich ja auf das Ausbruchsgeschehen im April in Potsdam. Das ist wirklich durch.

Aber wir haben doch jetzt eine besondere Dynamik. Wurden Sie davon überrascht?

Ein Stück weit schon. Wir haben vor den Reiserückkehrern ja schon vor Wochen gewarnt, falls sich die Infektionslage in den anderen Ländern nicht beruhigt. Aus den Urlaubsländern Spanien, Kroatien und der Türkei kommen jetzt die positiven Fälle nach Deutschland zurück, auch nach Potsdam.

Ist das Gesundheitsamt jetzt wieder im Corona-Modus?

Wir sind die ganze Zeit in dem Modus geblieben. Als die Fallzahlen fielen, haben wir die Kapazitäten heruntergefahren, aber unser Covid-Kernteam war über den ganzen Sommer damit beschäftigt. Jetzt fahren wir wieder hoch.

Wir haben in Deutschland ein wildes Nebeneinander von verschiedenen Test-Strategien.

Kristina Böhm

Sollte die Test-Strategie verändert werden?

Sie muss verändert werden. Wir haben in Deutschland ein wildes Nebeneinander von verschiedenen Strategien.

Sie meinen den Umgang mit sogenannten Kontaktpersonen ersten Grades und positiv Getesteten?

Ja, wir setzen da seit Monaten die Vorgaben des Robert Koch-Instituts (RKI) um. Da wird etwa bei Positiven aus den strukturrelevanten Gruppen abhängig von ihrer beruflichen Situation getestet, um die Quarantäne vielleicht von 14 auf 10 Tage verkürzen zu können.

Bei Kontaktpersonen ersten Grades schreibt das RKI 14 Tage Quarantäne und zwei Tests vor.

Stimmt. Aber das heißt laut RKI nicht, dass die Betroffenen auf jeden Fall die Quarantäne verlassen dürfen. Und bei Reiserückkehrern soll nur ein Test unmittelbar vor oder nach der Einreise vorliegen. Das ist überhaupt nicht vermittelbar, weil sich der Rückkehrer ja noch kurz vor dem Rückflug angesteckt haben könnte.

Ein Abstrich allein hat deswegen wohl keine Aussagekraft.

Richtig. Er könnte sich ja zu Hause noch in der Inkubationszeit befinden. Deswegen müsste der Rückkehrer mindestens zwei Abstriche in Abstand von fünf bis sieben Tagen haben.

Reiserückkehrer aus Risikoländern wie Spanien, den USA und Luxemburg haben eine Pflicht, sich testen zu lassen, andere nicht.

Genau darin liegt ein Problem. Wir haben in den vergangenen zwei Wochen positive Fälle in Potsdam befundet, die aus Nicht-Risikoländern wie Kroatien kamen. Es gibt keine klare Linie, die brauchen wir aber. Und zwar möglichst bald.

Von unseren Urlaubern geht im Augenblick die größte Gefahr aus?

Das ist so. Die Reiserückkehrer bringen Covid zu uns ins Land. In Potsdam sind es deutlich über 50 Prozent der bestätigten Fälle.

Sie sind mit Ihren Töchtern im Sommerurlaub vermutlich nicht ins Ausland gereist?

Nein, wir sind vorsichtig. Wir waren in Garmisch-Partenkirchen.

Amtsärztin Kristina Böhm.
Amtsärztin Kristina Böhm.
© Sebastian Gabsch PNN

Infektiologen rechneten mit einer zweiten Welle, sagten Sie den PNN Ende Mai. Ist sie jetzt da?

Ja, was wir jetzt beobachten, ist die zweite Welle.

Potsdam war der Corona-Hotspot in Brandenburg. Beginnt das jetzt alles von Neuem?

Das glaube ich nicht. Die Situation ist nicht vergleichbar.

Sind die Lockerungen zu weit gegangen?

Nein, sie waren überfällig. Es ließ sich ja auch nicht mehr legitimieren, die Bürger so hart in ihren Grundrechten einzuschränken, wenn die Zahlen so gering sind wie sie es dann waren.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich das Virus durch wenige Infektionen Einzelner mit vielen Kontaktpersonen in Potsdam rasant ausbreitet?

Im Moment ist die Lage noch entspannt, die Infektionszahlen sind in Potsdam noch gering. Anders als im März und April haben Positive wegen der Lockerungen aber mehr Kontaktpersonen.

Was wir jetzt beobachten, ist die zweite Welle

Kristina Böhm

Und wenn die Kontaktpersonen in größerer Zahl infiziert werden?

Wir hatten in den vergangenen Monaten etwa zehn Prozent der Kontaktpersonen ersten Grades, die während ihrer Quarantäne erst spät, am 10. bis 14. Tag, positiv wurden. Uns zeigt das, dass die Quarantänezeit sinnvoll ist.

Man sieht, wie wichtig die Unterbrechung der Infektionsketten ist. Das ist schwierig, wo viele Menschen zusammentreffen.

Sicher. Es kann schnell zu einem Superspreading-Ereignis kommen, wo ein Infizierter viele ansteckt.

In einer Bar zum Beispiel.

Da können es in einem engen Raum schnell 20 bis 30 Leute sein, ein Klientel, das wiederum viele soziale Kontakte pflegt. Vor allem, wenn ein Infizierter erst spät als Positiver bekannt wird und er viele Tage lang andere anstecken konnte.

Ist die Stadt jetzt auf eine steigende Zahl von Infektionen besser vorbereitet?

Absolut. Wir haben gelernt. Die Stadt will bis Monatsende ein fünfstufiges Stufenkonzept vorlegen. Wir sind auf Stufe eins: die A-H-A-Regeln, Abstand, Hygiene und Alltagsmaske, müssen mit Nachdruck forciert werden.

Haben Sie auch gelernt, künftig auf unsinnige Einschränkungen zu verzichten? Viele Eltern und deren Kinder haben unter dem Spielplatzverbot gelitten.

Amtsärztin Kristina Böhm.
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© Sebastian Gabsch PNN

Das Konzept ist ja noch nicht abgeschlossen. Aber es ist klar, dass die Schließung von Spielplätzen im neuen Maßnahmenkatalog nicht mehr vorkommen wird.

Warum nicht?

Wir wissen jetzt, dass das keine infektiologische Auswirkung hatte und es wichtig ist, dass die Kinder sich austoben können und nicht freidrehen. Eltern müssen ihre Kinder allerdings auch für die Abstandsregeln sensibilisieren.

Worin unterscheidet sich die aktuelle Lage in Potsdam im Vergleich zur Zeit des Corona-Ausbruchs im Bergmann-Klinikum im März und April?

Es war vieles über Covid damals noch nicht bekannt, es kam aus den Skiferien im österreichischen Ischgl und verbreitete sich unentdeckt. Als die Infektketten unterbrochen wurden, kam das zum Erliegen. Jetzt kommen die Leute aus allen Richtungen nach Hause, und je nach Gesetzesgrundlage plopsen sie bei uns auf oder nicht.

Was können die Potsdamer tun, um die Infektionsgefahr für sich zu minimieren? 

Wir brauchen Rücksicht aufeinander. Vor allem die Achtung der Regeln. Abstand, Hygiene und Maske.

Im Frühjahr hatte ein positiv Getesteter etwa 10 bis 15 Kontakte. Heute sind es 80 Menschen bei einem Schüler der Marienschule, 68 Kinder bei einem Horterzieher. Da herrscht wahrscheinlich Alarmstimmung im Gesundheitsamt.

Im Frühjahr gab es das Kontaktverbot, jetzt kehren die Kinder wieder in ihre normale Umgebung zurück. Ja, wir hatten Alarmstimmung, wir waren angespannt. Wir konnten die Liste in der Marienschule dann mit der Schule auf 52 Kontaktpersonen reduzieren, die wir getestet haben.

Wie viele Mitarbeiter waren mit dem Fall des Horterziehers beschäftigt?

Es waren 15. Sonntag wurden wir informiert. Das hieß: Umgehend Kontaktpersonen-Liste aufstellen. Verhindern, dass die Kinder am Montag in die Schule kommen. Denn die Kinder aus der Feriengruppe verteilten sich auf die Klassen eins bis sechs. Das gelang.

Die Gefahr bestand, dass sich die Infektionen andernfalls über alle Klassen verteilt hätten?

Ja, aber das haben wir verhindert. Alle kamen in Quarantäne. Dienstag wurden Abstriche unternommen.

Setzen die Einrichtungen die Konzepte richtig um?

Ganz sicher. Sie alle haben während der Ferien sehr viel vorbereitet: Wegeführung im Gebäude, Mund-Nase-Bedeckung. Das funktioniert. Aber in den oberen Klassen gibt es den Klassenverband ja nicht mehr, da kann die Schule eine Verbreitung des Virus nicht verhindern, und da ist die Ermittlung von Kontaktpersonen weitaus aufwendiger.

Viele haben damit gerechnet, dass es nach den Ferien Coronafälle an den Schulen geben wird.

Ja, ich bin nicht überrascht. Aber Horte, Kitas und Schulen sind vorbildlich aufgestellt. Wir sind jetzt in der Praxisphase und müssen jetzt beobachten, wie sich die Maßnahmen bewähren und was man verbessern kann. Schulen können das besser regulieren als ein Hort.

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Liegt das auch am Personalschlüssel?

Ja. Es fehlen viele Arbeitskräfte in den Horten, wenn die Konzepte denn sinnhaft umgesetzt werden sollen. Da muss das Ministerium aufstocken.

Es gibt die Befürchtung, dass im Laufe der Zeit fast alle Schulen, Horte und Kitas von Corona betroffen sein könnten. Teilen Sie das?

Wir können Coronafälle nirgendwo im Stadtgebiet ausschließen. Ich glaube aber, dass es uns gelingen kann, keine Schule komplett zu schließen. Bei einer Kita oder im Hort ist das schwieriger.

In Oranienburg (Oberhavel) besuchte eine positiv auf Corona getestete Berlinerin ein Schwimmbad. Die Leitung übergab dem örtlichen Gesundheitsamt eine Liste mit rund 800 Besuchern. Könnten Sie eine solche Explosion bewältigen?

Man muss in einem solchen Fall die Liste erst einmal auswerten. Aber ja, das könnten wir mit Unterstützung der Stadtverwaltung im Rücken schaffen.

Amtsärztin Kristina Böhm.
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Wenn Kinder Kontaktpersonen Ersten Grades sind, stehen nur sie unter Quarantäne, Eltern und Geschwister aber nicht. Das macht, gerade weil insbesondere jüngere Kinder kaum Abstand halten können, wenig Sinn.

Jein. Formal ist die Kontaktperson ersten Grades noch nicht erkrankt und noch nicht infektiös. Es fehlt die Rechtsgrundlage, alle unter Quarantäne zu setzen. Aber wenn wir jetzt Kinder unter zwölf unter Quarantäne setzen, betrifft das die Betreuer, die Eltern. Die müssen dann zu Hause bleiben, und die müssen unbedingt Lohnersatzleistungen bekommen. Wir haben das Ministerium deswegen kontaktiert.

Gibt es Akzeptanzprobleme, wenn Sie Quarantäne anordnen? Mehr als im Frühjahr?

Ja. Alle hatten Freiheiten gewonnen. Jetzt ist der Ton angespannter.

Ich rechne nicht damit, dass es zu einem zweiten Lockdown kommt.

Kristina Böhm

Viele fürchten einen zweiten Lockdown. Wie wahrscheinlich ist er?

Ich rechne nicht damit, dass es dazu kommt.

Das Gesundheitsamt kann die Nachverfolgung von Kontaktpersonen offenbar nicht bewältigen, wenn die Zahlen wieder zunehmen. Haben Sie deshalb wieder Unterstützung der Bundeswehr angefordert?

Ja. Die Soldaten waren eine große Hilfe und werden es auch jetzt sein.

Sie waren schon Ende Mai darüber in Sorge, dass viele Potsdamer Corona nicht mehr ernst nehmen und insbesondere das Abstandsgebot von 1,5 Metern ignorieren. Ist die Zahl der Ignoranten seitdem nicht sogar gestiegen?

Ich beobachte, dass die meisten sehr diszipliniert sind. Wir haben auch ein hohes Maß an sozialer Kontrolle. Ich habe mehrmals in der Öffentlichkeit erlebt, dass Bürger andere auf Fehlverhalten aufmerksam machten. Manche reagieren dann natürlich gereizt.

Man hört, dass mitunter Kollegen sogar am Arbeitsplatz auf den richtigen Weg gebracht werden.

Wir wissen von einem solchen Fall. Da ist ein Potsdamer aus dem Risikoland Schweden zurückgekommen und hat begeistert von seinem Urlaub berichtet. Es gab für ihn keine Verpflichtung, sich zu melden. Er hätte sich aber nach der Landesverordnung selbstständig in Quarantäne begeben und beim Gesundheitsamt melden müssen.

Es gab auch nicht, wie inzwischen, einen Pflichttest.

Das stimmt. Seine Bürokollegen haben ihn dann freundlich, aber bestimmt aufgefordert, sich beim Gesundheitsamt zu melden.

Hat er das getan?

Hat er.

Musste er in Quarantäne?

Ich habe ihm das erläutert, und er ist dem gefolgt.

Amtsärztin Kristina Böhm.
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© Sebastian Gabsch PNN

Am 10. Juli demonstrierten mehr als 200 Verschwörungstheoretiker am Nauener Tor. Alle ohne Maske, Abstand 30 bis 50 Zentimeter. Ein einziger Infizierter hätte zum Superspreader werden können. Geht der Staat mit Corona-Leugnern zu lax um?

Da bleibt eine bestimmte Restunsicherheit. Wir hätten ja nicht einmal die Kontaktpersonen ermitteln können. Andererseits wäre es unverhältnismäßig gewesen, diese Versammlung mit Ordnungsamt und Polizei aufzulösen.

In Berlin zahlen Maskenmuffel mindestens 50 Euro Bußgeld, wenn sie in Bahnen oder Bussen erwischt werden, in Potsdam wie in ganz Brandenburg nichts. Werden es die Brandenburger vielleicht bereuen, dass Verstöße gegen Parkverbote geahndet werden, nicht aber gegen Coronaregeln?

Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass das ein Widerspruch ist. Es ist völlig unsinnig, dass die Rechtslage in Potsdam anders ist als in Berlin. 

In den PNN haben Sie das Virus Ende Mai als „kleines Mistvieh” bezeichnet. Hat es sich zu einem großen ausgewachsen?

Es ist ein wandlungsfähiges Mistvieh geworden. Labormediziner weisen uns darauf hin, dass das Covid-Virus sich verändert. Das sind richtig clevere Lebewesen, die sich anpassen können.

Das erschwert sicher ihre Bekämpfung.

Absolut. Die Diagnostik ist schwieriger, weil die Prozesse nachjustiert werden müssen. In dieser Phase sind wir, und das macht die Interpretation der Befunde kompliziert.

Heißt das zum Beispiel: Positive Befunde sind nicht mehr eindeutig positiv?

Ja. Wir hatten in den vergangenen Tagen immer mal wieder schwach positive Befunde. Und dann müssen wir herausfinden: ist schwach positiv positiv oder negativ? Das hat ja etwa auf die Entscheidung über Quarantäne erhebliche Auswirkungen.

Um wie viel Prozent geht es?

Das ist noch im einstelligen Bereich. Aber schwach positive Befunde generieren einen sehr hohen Arbeitsaufwand. Labor und Gesundheitsamt müssen gerade hinsichtlich der Quarantäne zum selben Ergebnis kommen. Das ist oft schwierig.

Sie haben den PNN erzählt, dass Sie in Restaurants nur im Freien sitzen, um die Infektionsgefahr zu minimieren. Heißt das, dass sie nicht mehr Essen gehen werden, wenn es draußen zu kalt wird?

Ja. Wir gehen nur in Restaurants, wenn wir draußen sitzen können.

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