Jüdisches Leben in Potsdam: "Die meisten Überlebenden kehrten nach 1945 nicht zurück"
Nationalsozialisten vernichteten die Jüdische Gemeinde der Stadt. Erst nach 1990 entstand sie neu. Was Juden in Potsdam heute bewegt.
Potsdam - Das Zentrum der jüdischen Gemeinde in der Werner-Seelenbinder-Straße ist ein Provisorium aus Containern. Davor steht ein Polizeiwagen. Der stünde dort seit dem Anschlag in Halle im Oktober, sagt der Gemeindevorsitzende Evgeni Kutikow. Das sei ein unhaltbarer Zustand. „Es ist schrecklich, wenn deutsche Bürger vor anderen deutschen Bürgern geschützt werden müssen”, sagt er.
Laut der Fachstelle Antisemitismus Brandenburg gab es 2018 sieben antisemitische Vorfälle in Potsdam. Im Vorjahr waren es vier. „Bei knapp zwei Drittel der Straftaten der letzten fünf Jahre handelt es sich um Volksverhetzungen“, teilt Sprecherin Dorina Feldmann mit.
DDR-Gedenkkultur habe Juden ausgeblendet
In Potsdam gibt es keine Synagoge. Die Alte Synagoge am heutigen Platz der Einheit wurde in der Reichspogromnacht 1938 verwüstet und später während des Zweiten Weltkriegs bei einem Luftangriff zerstört. „Die meisten Überlebenden kehrten nach 1945 nicht zurück“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Elke Vera-Kotowski vom Moses-Mendelssohn-Zentrum (MZZ). In der DDR sei Religion tabuisiert gewesen, die offizielle Gedenkkultur habe sich auf verfolgte Kommunisten beschränkt und Juden ausgeblendet.
Heute gibt es drei jüdische Gemeinden
„In der DDR-Zeit gab es kein jüdisches Leben in Potsdam”, sagt auch Kutikow. „Doch nach der deutschen Wiedervereinigung kamen Zuwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.” Viele Mitglieder seiner Gemeinde seien aus Russland, der Ukraine, Belarus und Kasachstan gekommen. Nur deshalb gibt es heute wieder jüdische Gemeinden in Potsdam – und zwar gleich drei. Die „Jüdische Gemeinde Stadt Potsdam” entstand im Jahr 1996 und wurde 2000 ins Vereinsregister eingetragen. Davon unabhängig gründete sich 1999 die „Gesetzestreue Jüdische Landesgemeinde Brandenburg”. Zuletzt entstand die „Synagogengemeinde Potsdam” als Abspaltung von der „Jüdischen Gemeinde”. Bei der letzten amtlichen Prüfung der Mitgliederlisten 2010 hatten alle drei Gemeinden zusammen gerade einmal 673 Mitglieder.
„Es gibt in Potsdam heute keinen einzigen Nachkommen aus der ehemaligen jüdischen Gemeinde”, sagt Ud Joffe von der Synagogengemeinde. Deutsche Nicht-Juden würden oft übersehen, dass die heutigen Potsdamer Juden aus fernen Regionen der Welt kommen. „Die Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion oder Israel bringen ganz andere Erfahrungen mit.” Die Mitglieder seiner Gemeinde beschäftigten sich viel mit der Frage, was es bedeute, Jude zu sein. Joffe selbst ist in Israel aufgewachsen. Seine Kinder möchte er zu einer „jüdischen Identität” erziehen, sagt er. Das sei nicht einfach. Weil es keine jüdischen Kindergärten und Schulen gäbe, müssten sie in nicht-jüdische Einrichtungen gehen.
Synagogengemeinde sieht anderen Schwerpunkt
Warum hat sich die „Synagogengemeinde“ abgespalten? Die größere Jüdische Gemeinde leiste vor allem soziale Arbeit für die meist älteren Migranten, sagt Joffe. Das sei zwar wichtig, aber seiner Ansicht nach sollte der Schwerpunkt mehr auf der religiösen und kulturellen Ausbildung der jungen Generation liegen. Die unterschiedlichen Vorstellungen sind auch der Grund für die Differenzen um den geplanten Synagogenneubau.
Mit den Entwürfen des Architektenbüros sei seine Gemeinde nicht einverstanden, sagt Joffe. Er selbst wünsche sich zum Beispiel, dass das Gebäude mit großen, farbigen Fenstern auch nach außen einladend wirke. Dabei ginge es nicht um nebensächliche Details, sondern wichtige Fragen, betont er. Demnächst werde es wieder Gespräche mit Vertretern der Politik geben. Sollten die scheitern, müsse man notfalls einen neuen Bauträger gründen – und ganz von vorn anfangen, sagt Joffe selbstbewusst.
Auch vor dem Abraham-Geiger-Kolleg steht jeden Tag ein Polizeiauto. „Der Anschlag von Halle hat allen Beteiligten gezeigt, dass so etwas überall passieren kann“, sagt Rabbiner und Hochschullehrer Walter Homolka. Einige Potsdamer Studenten seien selbst in der Synagoge in Halle gewesen, in der der Attentäter ein Blutbad anrichten wollte. Seither habe die Politik jedoch ein „klares und beherztes Vorgehen” gezeigt, sagt Homolka.
Vor Kurzem wurde noch über die Finanzierung eines Sicherheitsdienstes am neuen Sitz des Kollegs am Neuen Palais gestritten. Nach den letzten Gesprächen mit dem Wissenschaftsministerium und dem Landeskriminalamt gehe er nun aber fest davon aus, dass das Land die Kosten tragen werde, sagt Homolka. Das restaurierte Nordtorgebäude am Neuen Palais solle ab Sommer bezugsfertig sein und im Herbst offiziell eingeweiht werden. Schusssicheres Glas und andere Sicherheitsvorkehrungen seien schon eingebaut, sagt Homolka.
35 Rabbiner sind aktuell in Ausbildung in Potsdam
Seit 2006 hat das liberale Kolleg insgesamt 35 Rabbiner ausgebildet. Ebenso viele sind laut Homolka aktuell in Ausbildung. Sie werden aber nicht nur in Deutschland praktizieren, sondern auch in anderen EU-Ländern, Russland, Südafrika und Lateinamerika. Die Ausbildung dauert mindestens fünf Jahre. „Vor dem Nationalsozialismus gehörte die Rabbinerausbildung in Deutschland zu den weltweit führenden”, sagt Homolka. Berlin sei damals ein wichtiges Zentrum gewesen. „Ich möchte, dass Potsdams Bedeutung für das jüdische Leben in Deutschland und Europa an diese hohe Messlatte wieder heranreichen kann“, sagt er. Wenn das neue Domizil in einigen Monaten eröffnet wird, wird dort auch die erste Potsdamer Synagoge seit dem Zweiten Weltkrieg stehen. Der Raum biete Platz für etwa 50 Personen, sagt Homolka. Das Gebäude werde auch für Veranstaltungen offen sein. „2020 werden wir die Früchte unserer langen Arbeit ernten”, sagt er.
Shimon Nebrat von der „Gesetzestreuen Gemeinde“ hingegen hält nicht viel vom liberalen Rabbinerseminar. Auch die offiziellen Gedenkveranstaltungen sind für ihn „halbherzige Lippenbekenntnisse“. Seine Gemeinde spricht den anderen beiden Gemeinden ab, authentisches Judentum zu verkörpern. Deshalb beteiligen sich die „Gesetzestreuen“ auch nicht am Synagogenbauprojekt. Doch in einem stimmt Nebrat mit den anderen überein: „Potsdam braucht jüdische Kindergärten und Schulen“, sagt er. Ohne Streit wird es die aber wohl nicht geben.
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