Covid-Betroffene und die Corona-Scham: Der vermeintliche Makel
Covid-Betroffene erleben in ihrem Umfeld Scheu bis hin zuAbweisung - auch in Potsdam. Über Infektionen wird häufig nicht offen gesprochen. Das ist verständlich, aber falsch, meinen Psychologen.
Potsdam - Sie gelten zwar nicht als Ausgestoßene, aber viel zu oft werden sie stigmatisiert: Corona-Kranke und sogar Genesene leiden, wenn Kollegen, Nachbarn und auch Freunde sie ausgrenzen, als seien sie mit einem furchtbaren Makel behaftet. Fast immer ohne jegliche Schuld an ihrem Schicksal ziehen sie sich zurück und schweigen darüber. So wie die 34 Jahre alte Manuela P. Den PNN erzählte die Potsdamerin, die betagten Menschen in Heimen hilft, was sie „sehr verletzt“ hat. Mitte Dezember wurde sie positiv getestet, hatte aber Glück: nur leichte Symptome wie bei einer Erkältung, dazu der oft beobachtete Geschmacksverlust.
Selbst Freunde gehen auf Abstand - und Betroffene überlegen genau, was sie wem erzählen
Zehn Tage Quarantäne, auch für die engsten Freunde als Kontaktpersonen ersten Grades. „Sie hielten mich für die Schuldige an dieser Situation“, sagt P. Danach hätte ihr Leben seinen gewohnten Lauf nehmen können – wäre da nicht eine deutliche Distanz zu ihr spürbar gewesen. Silvester? „Man wollte nicht mir feiern, obwohl das Personen aus zwei Haushalten erlaubt war“, erzählt P. Erst hieß es, „das müssen wir nochmal besprechen, dann signalisierten sie mir, dass es ihnen zu gefährlich sei, obwohl ja keine Gefahr mehr bestand“. Enttäuscht habe sie dann selbst abgesagt und Silvester mit ihren Eltern verbracht. Das Verhalten ihrer Freunde zu einer Zeit, in der keine Ansteckungsgefahr mehr von ihr ausging, machte der jungen Frau schwer zu schaffen. Es war ihr eine bittere Lehre: „Ich überlege bis heute dreimal, wem ich das erzähle.“
Bestattungsunternehmer berichten von einer Scheu, sich zu "outen"
Der Fall zeigt exemplarisch, wie sich nach einem Jahr mit der Pandemie, nach mehr als 2,2 Millionen Infizierten und über 61.000 Toten in Deutschland, eine regelrechte Corona-Scham schleichend im Alltagsleben eingenistet hat. Höchst selten sprechen Erkrankte und Genesene offen über Covid-19, lieber wird das Thema vermieden. Es kommt vor, dass Pfarrer gebeten werden, bei ihrer Trauerrede die Todesursache nicht zu erwähnen. Es kommt sogar vor, dass Angehörige versuchen, selbst Bestattern den Corona-Tod zu verheimlichen – „obwohl wir das“, wie der Beerdigungsunternehmer Hartmut Woite sagt, „auf dem Leichenschauschein eh erfahren“.
Woite, Chef von fünf „Berolina“-Filialen in Berlin und Potsdam, sind erhebliche Unterschiede zwischen den Städten aufgefallen: Potsdamer, sagt er, seien im Vergleich zu Berlinern „viel gehemmter“, wenn sie über Corona-Tote in der Familie sprechen: „Sich zu outen, fällt ihnen sehr schwer.“ Er habe telefonisch den Auftrag für eine Beerdigung in Potsdam erhalten, am nächsten Tag sei ein weiterer Anruf erfolgt: „Ich muss Ihnen da noch was sagen, heißt es dann.“ Berliner seien auch angesichts der Pandemie „klarer, krasser“.
Thomas Schellhase, dessen Bestattungsunternehmen in Potsdam fünf Filialen betreibt, hat während der zweiten Corona-Welle bis zu 20 Covid-Tote pro Woche beerdigt. Dass die Angehörigen „nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen“, wenn der Verstorbene sich etwa in einem Heim infiziert hatte, liege auch an den weitreichenden Konsequenzen, die bevorstehen könnten: Quarantäne oder nicht, den Arbeitgeber informieren oder nicht – je nachdem, wann der letzte Kontakt stattfand. Der Grund, mutmaßt Schellhase, sei nicht nur die Scham wegen Covid-19, sondern auch die Angst vor den Folgen: „Deswegen rücken manche diese wichtigen Daten nicht gern raus und flunkern, wenn wir nach dem letzten Kontakt fragen.“
Erkrankungen werden teils über Monate verheimlicht
Die Scheu ist so groß, dass es mitunter Monate dauert, bis manche zugeben können, an Corona erkrankt gewesen zu sein – und dies als Blamage empfunden zu haben. So legten die Kölner Karnevals-Größe Marita Köllner und ihr Ehemann Peter Serbee im vergangenen Sommer laut der Zeitung „Express“ eine Art Geständnis ab: Sie hätten ihre Erkrankung lange für sich behalten – weil sie befürchteten, „dass man mit dem Finger auf uns zeigt“.
Wie sich die Corona-Scham in der Gesellschaft ausgebreitet hat, erfuhr Heike Borchardt, ehrenamtliche Leiterin des Hospizdienstes Potsdam der Hoffbauer-Stiftung, kürzlich während einer zufälligen Begegnung mit einer Bekannten. Diese erzählte ihr, dass deren 40 Jahre alte Tochter an Corona erkrankt sei und noch unter den Folgen leide. Dann hielt die Frau einen Moment inne: „Du bist die Erste, der ich davon erzähle.“
Aids bis Schweinegruppe: Eine Stigmatisierung der Patienten gab es auch bei anderen Infektionskrankheiten
Wie ablehnend die Gesellschaft auf Infektionskrankheiten reagiert, hat auch Tillmann Schumacher, Oberarzt im Bergmann-Klinikum, schon mehrfach erlebt. Noch ausgeprägter als jetzt sei die Scham in den achtziger Jahren gewesen, als sich die Immunschwächekrankheit Aids verbreitete: „Ärzte durften nicht einmal den Eltern sagen, woran ihr Sohn erkrankt oder gar gestorben war.“ Der Grund: Aids wurde als „Schwulenkrankheit“ gebrandmarkt, Homosexualität war damals weitaus stärker tabuisiert als heute. Eine Stigmatisierung von Patienten hat Schumacher auch 2009, in der Anfangsphase der Schweinegrippe, beobachtet. Damals habe es gegenüber Erkrankten „sehr hässliche Reaktionen gegeben, und das ist jetzt sicher genauso“.
Wer Covid-19 überstanden habe und aus dem Krankenhaus nach Hause komme, werde „nicht immer mit offenen Armen empfangen“, sagt Schumacher: „Man fragt sich, ob es da noch ein Ansteckungsrisiko gibt.“ Das sei „verständlich, weil die Krankheit durch den Patienten ja ein Gesicht bekommt“. Er stellt klar: „Wir entlassen nur Patienten, bei denen wir sicher sind, dass keine Gefährdung von ihnen mehr ausgeht.“
Auch in seinem Familien- und Freundeskreis, so Schumacher, habe er „mitunter eine gewisse Distanz erlebt“, weil er auf einer Covid-Station arbeite. So sei ihm bedeutet worden, „dass es vielleicht besser ist, Weihnachten nicht gemeinsam oder Silvester ein Jahr später zu feiern“ – obwohl er regelmäßig getestet worden sei. Er hat dafür Verständnis: „Wir haben ein höheres Risiko.“
Über Todesursachen und Covid wird grundsätzlich ungern geredet, sagt der Potsdamer Pfarrer Wizisla
Auch Friedhelm Wizisla, Pfarrer des Sprengels Potsdam-Nord für Bornstedt und Eiche, hat „eine gewisse Scheu“ in der Gemeinde ausgemacht, „über Todesursachen und Covid-19 offen zu sprechen“. Das geschehe „grundsätzlich zuallerletzt“. Einen Grund dafür sieht er auch in einem Wandel des Umgangs mit dem Tod: So werde er anders als zu DDR-Zeiten nur noch selten in die Familien gerufen, wenn es jemandem schlecht gehe. „Die Menschen denken: Wenn der Pfarrer kommt, wirst du bald sterben. Das wird als Gruß vom Friedhof verstanden“, sagt er.
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Mitunter wollen sich Angehörige allein vor dem Verdacht schützen, der Verstorbene sei infiziert. Kurz vor Weihnachten baten Angehörige ihren Pfarrer Jörg Baruth, Seelsorger in der St. Nikolai-Kirchengemeinde, in seiner Predigt keinen Zusammenhang zur Corona-Zeit herzustellen. „Sie haben die gesellschaftliche Debatte über die Pandemie als Panikmache erlebt und wollten ausschließen, dass dazu beigetragen wird“, sagt Baruth. Überraschend für ihn war dabei, dass der Verstorbene nicht einmal ein „Corona-Toter“ war.
Kurzfristige Absagen von Angehörigen oder Freunden - wegen Corona?
Manche haben die Kraft, auch trauernd Klartext zu reden. Die Babelsberger Trauerrednerin Daniela Berg, eine studierte Theologin, erlebte im Januar, dass Angehörige „ohne jedes Tabu erzählen, wenn jemand an oder mit Corona gestorben ist“.
Die Regel ist das nicht. Annett Ruland, Trauerrednerin in Potsdam und Berlin, ist nicht überrascht, wenn Angehörige oder Freunde ihre Teilnahme an einer Trauerfeier kurzfristig absagen: „Ich frage mich dann immer, ob das an Corona liegt. Man spürt, da ist etwas Unausgesprochenes im Raum, verbunden mit einer großen Vorsicht.“ Die Ursachen seien offensichtlich: Etliche Verwandte von Infizierten hätten „in einer unglaublichen Isolation gelebt, und sie wissen nicht, wohin damit“.
Aus Scham- und Schuldgefühlen wird die Krankheit zum Tabu
Auf quälende Weise kann die Corona-Scham auch diejenigen überfallen, die Tag für Tag Abstand halten, eine Maske tragen und sich regelmäßig desinfizieren – und trotzdem von dem Virus erwischt worden sind. Irgendwie, irgendwo.
Die Potsdamer Psychotherapeutin Corina Wartenberg weiß aus jahrzehntelanger Erfahrung, wie Schuld- und Schamgefühle, aber auch Angst entstehen, wenn Menschen Hilflosigkeit und den Verlust der Kontrolle über die Situation erleben – wie jetzt während der Pandemie. Die Betroffenen, sagt sie, „fühlen sich ganz abgetrennt und allein damit, sie fühlen sich ausgegrenzt und einsam“. Infizieren sie sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, könne dies „Schuld und Scham“ hervorrufen, der empfundene „Makel“ werde lieber tabuisiert.
Psychologin Wartenberg rät zum Austausch mit anderen
Es komme vor, so Wartenberg, „dass latente Schuldgefühle reaktiviert werden“. Denn zum Bild von Stärke gehöre bei vielen eine stabile Gesundheit und das Gefühl: „Wenn man alles richtig macht, bleibt man gesund.“ Hinzu komme, dass fast jedem Fehler in der Einhaltung von Hygieneregeln unterlaufen oder manche sie bewusst übergehen und damit „Anteil haben können an der eigenen Erkrankung oder der Ansteckung anderer“. Zudem: Durch die Kontaktbeschränkungen fehle die Möglichkeit, das Erlebte „mit anderen auszutauschen, zu verarbeiten, sich beizustehen oder zu trösten“.
Eine Lösung ist nach Überzeugung der promovierten psychologischen Psychotherapeutin, den Austausch mit anderen zu suchen und zu verstehen, „dass der Mensch ein verletzliches und fehlbares Wesen ist, das krank werden kann auch durch eigenes Zutun“.
Carsten Holm
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