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Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz nimmt der Potsdamer Historiker Thomas Schaarschmidt das KZ-System der Nationalsozialisten in den Blick, fragt nach der Motivation der Täter, dem Leben der Häftlinge und ob so etwas wie der Holocaust immer wieder passieren könnte.
Herr Schaarschmidt, es ist bereits viel über Auschwitz gesagt und geschrieben worden, mancher meint sogar alles. Entsteht hier eine neue Sprachlosigkeit?
Sprachlosigkeit hat es eher in den ersten Jahrzehnten nach dem Kriegsende gegeben, teils aus Entsetzen über den fabrikmäßigen Massenmord, teils weil man nicht darüber reden wollte. Diese Sprachlosigkeit haben wir in den vergangenen Jahrzehnten überwunden. Viele Fragen wurden bereits gestellt: wie es überhaupt zum Holocaust kommen konnte, warum die Massenvernichtung in dieser Phase des Krieges eingesetzt hat, wer die Planer, wer die Akteure waren, wie sich die deutsche Mehrheitsbevölkerung dazu verhielt. Auch die Auseinandersetzung mit dem Leiden der Opfer und den Erfahrungen der Überlebenden gehört dazu.
Welche offenen Fragen haben die Historiker heute noch?
Unser Interesse richtet sich heute auf die Häftlingsgesellschaft in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Da die Gefangenen unterschiedlicher nationaler und sozialer Herkunft waren, gab es natürlich untereinander auch Spannungen. Die Forschung kommt von dem idealisierten Bild einer solidarischen Häftlingsgemeinschaft ab und schaut sich die Interaktion zwischen den Gruppen genauer an. Interessant bleiben auch die Täterkarrieren: Welche Vorgeschichte hatten die Menschen, die zum Lagerpersonal zählten, wie kamen sie dorthin, welche Motive hatten sie? Wichtig sind nach wie vor auch Fragen nach der wirtschaftlichen Ausbeutung in den Konzentrationslagern und der Zusammenhang von Kriegsverlauf und Holocaust.
Bereits Hannah Arendt hatte auch die Frage der Judenräte aufgebracht.
Das schließt an den Punkt der Häftlingsgesellschaft an. Hier stellen sich Fragen nach der Selbstorganisation in den Ghettos, nach dem Verhalten der einzelnen Funktionäre der Judenräte, nach Privilegien und auch nach ihrer Mitverantwortung. Das hatte Hanna Arendt mit ihrer Kritik bereits markant auf den Punkt gebracht.
Warum wurde gerade Auschwitz zum Synonym für den Massenmord an den europäischen Juden?
Zum einen stand in Auschwitz noch verhältnismäßig viel an Gebäuden bei der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee. Die Spuren der drei Lager der Vernichtungsaktion Reinhardt – Belzec, Sobibor und Treblinka – waren hingegen seit dem Sommer 1944 weitgehend beseitigt worden. Dieser Übergang war in Auschwitz relativ knapp. Die Häftlinge, die auf Todesmärsche geschickt worden waren, hatten das Lager seit dem 17. Januar verlassen. Dahinter kam schon die Rote Armee. Hinzu kommt, dass es im Vergleich zu den ausschließlichen Vernichtungslagern eine ganze Reihe von Überlebenden gab.
In Auschwitz gab es mit über einer Million Toten die meisten Opfer unter den sieben Vernichtungslagern in Ostpolen.
Auch in den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt kamen über zwei Millionen Menschen zu Tode. Das Ganze gehörte zu einem riesigen Vernichtungskomplex, der schon vor dem Betrieb der Gaskammern in den Lagern durch die Massenmorde der Einsatzgruppen und Polizeibataillone unmittelbar nach dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion begann. Diese Massenmorde wurden durch das fabrikmäßige Morden in den Vernichtungslagern abgelöst, das stand in engem Zusammenhang.
Warum waren die mörderischsten Lager im Gebiet des „Generalgouvernements“ in Ostpolen errichtet worden?
Das hing zum einen mit den Erfahrungen des Krankenmords in der T4-Aktion von 1940/41 und zum anderen mit der Situation im Generalgouvernement zusammen. Der Mord an den Anstaltspatienten hatte im Reichsgebiet stattgefunden und bald solche Ausmaße angenommen, dass er sich nicht mehr unter der Decke halten ließ. Den Planern des Holocaust war daher bewusst, dass eine weitgehende Geheimhaltung nur möglich war, wenn der Massenmord an den Rand des deutschen Herrschaftsbereichs verlagert wurde. Dafür sprach dann, die Vernichtungslager mit Ausnahmen von Auschwitz im Generalgouvernement anzusiedeln. Dass die Lager dann gerade dort eingerichtet wurden, hing auch mit dem Kriegsverlauf und den Planungen für das Generalgouvernement zusammen. Zum einen war das Gebiet für die territoriale Planung im Reich nicht zentral, zum anderen wollte man dort ein Reservoir von Arbeitsreserven schaffen.
Anfänglich als ein eher „kleines“ Arbeitslager gedacht, wurde Auschwitz zu einer unfassbaren Mordmaschine. War das geplant?
Der alte Streit unter Historikern zwischen Intentionalisten und Strukturalisten ist überholt. Heute wissen wir, dass man vieles stärker zusammendenken muss. Ohne die Intention, die langfristigen Planungen wäre es wahrscheinlich nie zum Judenmord gekommen. Die Planungen gingen aber bis zum Beginn des Krieges noch dahin, die Juden im deutschen Herrschaftsbereich zur Emigration zu drängen. Diese wurde aber immer schwieriger und war dann während des Krieges gar nicht mehr möglich. Zunächst wurden die Deportationen noch damit legitimiert, dass die Juden zum Arbeitseinsatz in den Osten geschickt würden. Für viele Juden stellte das eine letzte Hoffnung dar, zumal auch die Deportationen in die Mordlager als Transporte zum Arbeitseinsatz kaschiert wurden. Als im Kriegsverlauf klar wurde, dass eine Vertreibung der Juden in den Osten nicht mehr möglich war, setzte die NS-Führung die schon immer als politische Option eingeplante Vernichtung des Judentums um. Hier hingen Sachzwänge und Intention elementar miteinander zusammen.
Inwiefern war das KZ-System – bestehend aus Selektion, Zwangsarbeit und Massenmord – auch Kind seiner Zeit, etwa durch das damals verbreitete sozialdarwinistische Denken?
Das hat eine Rolle gespielt, aber nicht automatisch zum Mord ganzer Bevölkerungsteile geführt, die als minderwertig deklariert wurden und denen letztlich der menschliche Status abgesprochen wurde. Das sozialdarwinistische Denken hatte sich im völkischen Milieu sehr stark mit dem rassistischen Denken vermengt, insbesondere seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Hier konnten sich derartig Ausgrenzungs- und Vernichtungsfantasien entwickeln, für deren Realisierung der Krieg die Möglichkeit bot.
Auschwitz bleibt unvorstellbar, unbeschreiblich und unsagbar. Inwiefern ist diese Sicht hinderlich daran, die Logik, die hinter dem Lagersystem steckte, zu erkennen?
Zunächst einmal ist es völlig menschlich, dass man angesichts eines Menschheitsverbrechens dieser Dimension erschrocken und sprachlos darüber ist, wie es dazu kommen konnte. Das kann aber nur der erste Schritt sein – von der emotionalen Überwältigung zur Erkenntnis. Wenn wir verstehen wollen, was in diesem System passiert ist, müssen wir uns dem mit rationellen Mitteln zuwenden. Dazu ist bereits viel geschehen. Wir begreifen heute, warum es dazu gekommen ist, welche Ziele damit verbunden waren, welche Akteure eingebunden waren. Das betrifft die politische Spitze bis hin zu den SS-Wärtern und auch den Kapos.
Hannah Arendt prägte angesichts der gedankenlosen und realitätsfernen Aufgabenerfüllung Adolf Eichmanns, der die Deportationen leitete, den Begriff von der „Banalität des Bösen“.
Hannah Arendt bezog sich darauf, dass diejenigen, die das Böse betrieben haben, banal waren. Das war ein ganz wesentlicher Schritt, zu erkennen, wie ein solches System funktionieren kann. Eichmann stellte sich sogar als Freund der Juden dar und gab sich selbst überrascht, wie er überhaupt in das Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes gelangen konnte. Trotzdem war er eines der ganz wichtigen Rädchen dieses Systems. Und diese Rädchen drehten sich nicht nur aufgrund irgendeines Führerbefehls, sondern sie mussten sich eigenmächtig drehen und Eigeninitiative entwickeln, damit die ganze Maschinerie in Gang kam. Und Eichmann gehörte zu denjenigen, die ganz massiv Eigeninitiative entwickelt haben. In der NS-Forschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es ganz normale Menschen waren, die in dieses System involviert waren. Die meisten von ihnen waren weder sadistisch veranlagt noch große Judenhasser, zum Teil waren sie gut ausgebildet und wohl situiert. Gerade im Reichssicherheitshauptamt arbeiteten viele gut ausgebildete junge Männer. Sie waren Teil eines arbeitsteiligen Ganzen, und behaupteten im Nachhinein, nur Karteikarten ausgefüllt zu haben. Dabei blendeten sie aus, dass unter ihrer Mitwirkung ein Massenmord organisiert wurde. Es ist eigentlich das Erschreckende, dass diese Täter eben keine Verrückten waren, und es bleibt die Frage, wie es passieren konnte, dass ganz normale Menschen an diesem System mitwirkten. Damit stellte sich die Frage, ob so etwas immer wieder passieren könnte.
Russlands Präsident Wladimir Putin wird am diesjährigen Auschwitz-Gedenken in Polen nicht teilnehmen. Das europäische Gedenken droht nun seine Einvernehmlichkeit zu verlieren. Kommen wir hier an einen historischen Wendepunkt?
Wir können nicht automatisch von einem einheitlichen Gedenken an die Geschichte ausgehen, gerade was den Zweiten Weltkrieg und den Judenmord angeht – hier gibt es ganz unterschiedliche Erinnerungslandschaften, Gruppierungen und Interessen. Vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte ist es selbstverständlich, dass man in Russland anders an den Krieg erinnert als in Polen oder in Deutschland. An manchen Punkten gibt es Überschneidungen, überlagert werden diese aber immer wieder von eigenen nationalen Narrativen, die dann wichtiger sind als die Gemeinsamkeiten. Infolge der aktuellen Aufladung der internationalen Situation durch die Ukraine-Krise tritt das gemeinsame Gedenken in den Hintergrund. Hier kann man momentan keinen Brückenschlag erwarten.
Sowohl die Sowjetunion als auch die Westalliierten wussten relativ früh vom Massenmord in Auschwitz. Die Alliierten hatten Lufthoheit, machten Luftaufnahmen, bombardierten die Buna-Werke. Warum nicht auch die Verbrennungsöfen und Eisenbahnlinien zum KZ?
Warum die Alliierten nicht handelten, ist eine wichtige Frage. Sie waren seit 1942/43 relativ gut informiert. Es gibt verschiedene Antworten, die angesichts der Dimension, die der Holocaust für uns hat, vielleicht nicht ganz befriedigend sind. Man muss davon ausgehen, dass die Westalliierten und die Sowjetunion primär ein strategisches Ziel hatten: Sie führten Krieg, den sie so schnell wie möglich gewinnen wollten. Dabei mussten sie von den Möglichkeiten, die sie hatten, ausgehen. Obwohl sie mit ihren Bombern relativ weit ins Reich eindringen konnten, war das Generalgouvernement bis 1944 nur mit Mühe zu erreichen. Mit den Bombenangriffen sollte primär Infrastruktur zerschlagen und die deutsche Bevölkerung demoralisiert werden sollten.
Die 500 000 ungarischen Juden, die 1944 noch deportiert wurden, hätten durch gezielte Bombenangriffe vielleicht gerettet werden können.
Die Überlegung, mit Bombern die Vernichtungsaktion zu stoppen, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Die Frage war auch, was man mit der Bombardierung der Lager hätte erreichen können. Dort waren viele Menschen auf engem Raum konzentriert, sodass es bei Luftangriffen auch viele Tote unter den Gefangenen gegeben hätte.
Wissen wir heute durch die Geschichte von Auschwitz mehr vom Wesen des Menschen?
Ich denke ja. Das ist der Punkt, an dem man auch die Schüler packen kann. Wenn man die Täterbiografien betrachtet, wird deutlich, dass dies sehr gewöhnliche Menschen waren. Hier tauchen dann Fragen auf, wie die Täter sich damals verhalten haben, und warum wir uns heute vielleicht anders verhalten. Das schließt an die Gegenwart an. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte hilft bei der Erkenntnis, dass unser vermeintlicher zivilisatorischer Fortschritt etwas ist, das man sich immer wieder neu erwerben muss. Es geht nicht um eine barbarische Vergangenheit, die mit uns nichts mehr zu tun hat. Das hat sie leider doch.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Thomas Schaarschmidt (54) ist seit 2009 Leiter der
Abteilung „Regime des Sozialen im
20. Jahrhundert“ am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische
Forschung (ZZF).
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