Massenkündigungen in Potsdam: „Das hier hat mit Profit zu tun“
Viele der gekündigten Senioren der Josephinen-Wohnanlage in Potsdam fürchten Räumungsklagen. Der Mieterbund rät aber von Auszügen ab – damit das Gericht entscheidet.
Potsdam - Gisela Haase ist 87 Jahre alt, sie hat in ihrem Leben einiges durchgemacht: Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Flucht im Alter von elf Jahren mit ihrer gehörlosen Mutter und drei jüngeren Geschwistern aus dem damaligen Ostpreußen bis nach Grabow bei Schwerin, ihre neue Heimat. Vor sechs Jahren, als ihr Ehemann starb, der Umzug nach Potsdam. Ihre Nichte Birgit Derwanz-Dahlmann besorgte ihr einen Platz in der Josephinen-Wohnanlage an der Burgstraße 6a.
Ein Appartement in der sechsten Etage, ein geräumiges Zimmer mit Kochecke, ein kleines Bad und Ausblick auf die Freundschaftsinsel. Stolz zeigt Gisela Haase den PNN ihre Wohnung. „Ich habe mich hier immer sehr wohlgefühlt“, sagt sie, „ich habe gedacht, dass dies meine letzte Wohnung ist.“
Mietverträge plötzlich gekündigt
Am 27. Oktober dann der „Schock“, für Gisela Haase und mehr als 100 andere Mieter:innen der Wohnanlage: Die SGG Soziale Grundbesitzgesellschaft Potsdam mbh, die die Wohnanlage betreibt, kündigt die Mietverträge – wenige Wochen vor Weihnachten, meist mit der Frist von drei Monaten. Die Stadt und der Mieterverein halten die Kündigungen für rechtlich unwirksam.
Bei etlichen Mietern aber breitet sich Panik aus, sie fürchten Räumungsklagen. „Manche haben Angst davor, dass der Gerichtsvollzieher kommt“, sagt Rechtsanwalt Dirk Spiel vom Mieterverein Teltow. Einen angesichts der Lage etwas zynischen Klang hat die Eigenwerbung, die auf der Eingangstür prangt: „Josephinen Wohnanlage – Im Alter nicht allein“, steht da, und direkt davor lassen einige Bewohner Unmut und Wut freien Lauf. „Eine unverschämte Schweinerei“ nennt eine Hochbetagte das Vorgehen der SGG. „Ohne jedes soziale Gewissen sind die“, urteilt eine andere. Ein paar Meter weiter wartet der 90 Jahre alte Horst Schmidt auf seine Beratung beim Mieterverein. Er wirkt gefasst, aber traurig: „Ich habe hier zwei Jahre lang gern gelebt. Aber am liebsten würde ich hier doch wohnen bleiben.“
"Das hat es in Brandenburg noch nie gegeben"
„Menschen im hohen Alter einfach vor die Tür zu setzen, das hat es in Brandenburg noch nie gegeben“, sagt Rainer Radloff, Vorsitzender des Potsdamer Mietervereins. Manfred Dreier-Gehle, Vorstand der Hamburger Muttergesellschaft MK-Kliniken AG – vormals die Marseille-Kliniken AG – , hatte die Kündigungen unter anderem mit dem seit „geraumer Zeit“ nicht mehr zur Verfügung stehenden Speisesaal begründet, dessen Sanierung vor zwei Jahren begonnen wurde, dessen Fertigstellung aber, auch wegen Corona-bedingter Verzögerung der Baumaßnahmen, nicht absehbar sei. Für Radloff ist wegen des nicht nutzbaren Speisesaals ohnehin noch eine Rechnung offen. Das rechtfertige eine Minderung des Servicevertrags pro Mieter über 300 Euro um monatlich 20 Prozent, „macht 720 Euro im Jahr und in zwei Jahren bei 100 Mietern 144.000 Euro, die zu viel gezahlt wurden“.
Keine Angst vor Streit
Bis heute scheinen sich die MK-Kliniken AG und ihr Vorläufer, ob in Potsdam oder anderswo, vor Streit nicht zu fürchten. So berichtete das „Handelsblatt“ am 12. Dezember 2018 über massiven Ärger des Gründers und heutigen Aufsichtsratschefs Ulrich Marseille mit Aktionären. Protest habe es gegeben, nachdem der damalige Unternehmenschef im Spätsommer 2017 den Betrieb von 46 Altenheimen an den französischen Investor Chequers verkauft habe, laut der Zeitung für 300 Millionen Euro. Betroffen seien 5400 Heim- und etwa 4000 Arbeitsplätze gewesen. Marseille habe das Unternehmen nach der Wende, so das Blatt, „rasant in den Osten“ expandiert und sei bis 2016 auf Rang elf der größten Anbieter der Branche geklettert.
Der Ton, den Marseille auf einer Hauptversammlung im September 2018 in der Hamburger Zentrale der MK-Kliniken AG angeschlagen habe, sei „ungewöhnlich“: „Ich bitte um Ruhe! Sehen Sie, so gehört sich das. Schön ruhig! Und hören Sie brav zu!“
Die Zeiten haben sich geändert, die Tonlage offenbar nicht. In einem auf den 19. November datierten, von Manfred Dreier-Gehle als Geschäftsführer der SGG Soziale Grundbesitzgesellschaft Potsdam mbh unterzeichneten Schreiben an die Mieter beklagt er, das Unternehmen beobachte „mit Sorge“ die „teils überzogenen Äußerungen in der Presse von politisch motivierten Personen und Bündnissen“. In fetten Buchstaben geht es in ungelenkem Deutsch weiter: „Hier soll sich anscheinend an Ihrem Schicksal politisch und emotional bereichert werden.“
Rückkauf durch die Stadt ausgeschlossen?
Nach Dreier-Gehles Worten scheint der Rückkauf der Anlage, über den Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) laut eines Auftrags der Stadtverordneten verhandeln soll, um die Einrichtung möglicherweise mit einem neuen Träger fortzuführen, so gut wie ausgeschlossen zu sein. Es sei eine „bewusste Irreführung“, wenn sich die Sozialdezernentin Brigitte Meier (SPD) so äußere, schreibt der Geschäftsführer: „Hierzu gibt es weder einen rechtlichen noch einen vertraglichen Anknüpfungspunkt.“
Die SGG Soziale Grundbesitzgesellschaft Potsdam mbH hatte dazu schon vor ein paar Tagen lapidar verkündet, der Stadt stehe es „frei, Beschlüsse zu fassen“ und sich auch auf Anfrage der PNN nicht zu möglichen Verkaufsabsichten geäußert. Ins Visier nimmt Dreier-Gehle in seinem Schreiben namentlich Peter Mundt, den Vorsitzenden des Seniorenbeirats, den er „Politbürokrat“ der Partei Die Linke nennt.
Sollen alle Bewohner vertrieben werden?
So schweigsam das Unternehmen über seine Pläne ist – die Potsdamerin Birgit Derwanz-Dahlmann, Repräsentantin des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft mutmaßt, dass die SGG Soziale Grundbesitzgesellschaft Potsdam mbh alle Bewohner vertreiben wolle: „Das hier hat nur mit Profit zu tun.“ Die Anlage stehe in einer „Toplage, die werden etwas Hochpreisiges daraus machen“. Für die Wohnungen könnten „nach ein bisschen Renovierung Kaltmieten von 17 Euro pro Quadratmeter verlangt werden“.
Auch die 85-jährige Mieterin Christa Gruse hat die Kündigung „fassungslos“ werden lassen, wie ihre Schwiegertochter Kerstin Nicole Gruse den PNN erzählte. Christa Gruse liegt seit drei Wochen nach einem schweren Sturz zur Behandlung im Bergmann-Klinikum. Zunächst habe es der Pflegedienst der Josephinen-Anlage abgelehnt, sie nach der Entlassung wieder aufzunehmen, diese Entscheidung aber revidiert. Wie lange, so Kerstin Nicole Gruse, sei aber „völlig offen“. Ihre Schwiegermutter sei „stark“. Aber nicht zu wissen, wo sie dauerhaft bleiben könne, sei „für sie und die Familie eine furchtbare Vorstellung“.
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Mieterbund will Auszugswelle verhindern
Mieterverein-Vorsitzender Radloff hat von „sechs bis sieben“ Senioren gehört, für die Angehörige bereits eine neue Bleibe gefunden haben. Der Mieterverein, die Verbraucherzentrale und der Seniorenbeirat verfolgen aber eine andere Strategie. „Wir wollen mithelfen, dass es nicht aus Panik zu einer Welle von Auszügen kommt“, sagt Peter Mundt.
„Ich wünsche den Mietern, dass sie psychisch so stark sind oder so starken Beistand haben, dass sie durchhalten“, sagt Radloff. Nach den Widersprüchen gegen die Kündigungen sei nun der Vermieter am Zuge – mit Räumungsklagen: „Unter diesen Druck wollen wir ihn bringen“. Der Mieterverein gehe davon aus, „dass solche Klagen vor Gericht abgewiesen werden“.
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