Anzeigen wegen Übergriffen in Asylheim: Schutzlos in Eisenhüttenstadt
In einem Flüchtlingsheim meldete Vivian Mabura, vergewaltigt worden zu sein. Zunächst wurde sie von einem Mitarbeiter vertröstet, er rief aber nicht die Polizei. Auch andere Frauen berichten von sexuellen Übergriffen, die niemand ernst nahm.
Eisenhüttenstadt - Im Flüchtlingsheim in Eisenhüttenstadt wird Vivian Mabura als „ubv“ geführt: unbekannt verzogen. Ihre neue Adresse ist geheim. Seit zwei Wochen lebt Mabura in einem Frauenhaus im Berliner Umland. Als Treffpunkt hat sie die örtliche Aldi-Filiale vorgeschlagen. Davor steht sie zwischen parkenden Autos: eine kleine, rundliche Frau Mitte 40. Grauer Männeranorak von Adidas, braune Leggings, schwarze Fleecemütze. Vivian Mabura ist nicht ihr richtiger Name. Gestern habe sie sich zum ersten Mal getraut, bis zu Aldi zu laufen, sagt die Kenianerin. Denn wenn sie Männern mit arabischen Gesichtszügen begegne, gerate sie in Panik.
"Ich habe mich geschämt"
Vier Wochen sei es jetzt her, dass zwei Männer, die ihrem Äußeren nach aus einem islamischen Land stammten, wie Mabura glaubt, nachts um vier in ihrem Zimmer im Flüchtlingsheim gestanden hätten. Zu dem, was dann passierte, will sie nur so viel sagen: Sie hielten ihr den Mund zu und vergewaltigten sie. „Die waren noch ganz jung. Wie sind die nur drauf? Ich könnte ihre Mutter sein!“, sagt Vivian Mabura aufgebracht. „In meiner Heimat wäre das undenkbar.“ Anschließend habe sie stundenlang gezögert, den Vorfall zu melden. Den ganzen Sonntagmorgen ließ sie verstreichen. „Ich habe mich so geschämt“, erklärt sie. „Andererseits wollte ich Gerechtigkeit.“ Schließlich habe sie sich doch einem Mitarbeiter des Flüchtlingsheims offenbart, ihn aufgefordert, die Polizei zu verständigen. Doch der entgegnete, dass die Behörden in Deutschland sonntags geschlossen hätten. „Die nächste Nacht schlief ich nicht. Ich blieb sogar sitzen, weil ich Angst hatte, dass die Vergewaltiger erneut in der Tür stehen würden“, sagt Mabura. Erst am Montagmorgen, als der Sozialdienst der Einrichtung seine neue Arbeitswoche begann, wurde ihr geholfen. Der Leiter des Sozialdienstes tat das Naheliegende und wählte die 110.
Der Vorfall ereignete sich in der Erstaufnahmeeinrichtung „Unterschleuse“ in Eisenhüttenstadt. In genau der Einrichtung, die vor zwei Wochen bereits in den Polizeimeldungen vorkam, weil es dort zu Fällen von sexueller Belästigung gekommen sein soll.
Sexuelle Gewalt gegen weibliche Flüchtlinge
Frauenrechtsorganisationen beklagen seit langem, dass weibliche Flüchtlinge in Heimen sexuelle Gewalt erlitten. Doch vieles bleibt im Dunkeln. Nach Angaben des BKA machen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ungefähr zwei Prozent der insgesamt in Sammelunterkünften angezeigten Delikte aus. Am häufigsten kämen Schlägereien vor, gefolgt von Diebstählen und Rauschgiftdelikten.
Die Polizei in Frankfurt/Oder will nicht sagen, wie viele Straftaten ihr insgesamt im Erstaufnahmelager „Unterschleuse“ gemeldet worden sind. Es handelt sich um dreizehn Hallen, weiß, mit schrägem Dach. Ein Teil der Flüchtlinge, die in der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadts Zentrum, sozusagen dem Lageso Brandenburgs, registriert worden sind, verbringt hier einige Tage oder Wochen. Betrieben wird das Heim vom Roten Kreuz. Zurzeit leben nur Männer in den Hallen: Syrer, Iraker, Afghanen. In den Tagen um Neujahr, als Vivian Mabura dort untergebracht war, gab es auch einige Familien. Doch sie war die einzige auf sich gestellte Frau.
Zehn Anzeigen wegen sexueller Belästigung
Zehn Anzeigen gab es wegen sexueller Belästigung. Sie stammten von Mitarbeiterinnen des Heims, die von einem Kollegen bedrängt worden sein sollen: einem Hausbetreuer, der arabisch sprach und deshalb als Übersetzer eingesetzt worden war. Vivian Mabura hat vom Übersetzer wenig mitbekommen. Sie sagt, sie habe im Heim keine sexistische Atmosphäre gespürt. Mabura fühlte sich in der „Unterschleuse“ oft abgewertet, aber aus rassistischen Motiven. Das, was schließlich passierte, ist vielleicht gar nicht typisch für die Stimmung im Heim, sondern für den Umgang der Heimleitung und Teilen des Personals mit Problemen.
In der kleinen Stadt im Berliner Umland sucht Mabura jetzt ein Café, um über die Versäumnisse des Heimpersonals zu berichten. Der Imbiss am Bahnhof hat bereits um elf Uhr morgens zugemacht. Die Bäckerei an der Kirche ist aber noch offen. Mabura setzt sich an den äußersten Tisch. Anorak und Mütze lässt sie an. Beides stammt aus der Kleiderkammer des Heims. Die Handtasche aus türkisfarbenem Leder, in der sie jetzt nach ihrem Handy kramt, ist noch aus ihrer Heimat Kenia. Sie zeigt das Handy. Es ist ein billiges Plastik-Modell, ebenfalls bereits in Afrika angeschafft, versehen mit einer Prepaid-Card, damit sie möglichst wenige Spuren hinterlässt.
Von Kenia nach Deutschland
Von Beruf sei sie „Business Woman“, sagt Mabura, Gründerin eines Investmentfonds. Kenia ist ein korruptes Land. Sie muss zwischen die Fronten geraten sein. Aus Angst um ihre beiden Töchter, die noch in Kenia leben, will sie nicht genau sagen, wie und mit wem aus der Regierung sie in Konflikte geriet. Jedenfalls war sie festgenommen worden, saß für zwei Tage im Gefängnis, kam auf Kaution frei. Als sie Hinweise bekam, dass ihr Leben bedroht sei, setzte sie sich nach Deutschland ab. Sie reiste mit einem Schengen-Visum ein. Sie habe nur so lange bleiben wollen, bis ihre Rechtsstreitigkeiten gelöst seien, sagt sie: sich vielleicht für die Zeit eine kleine Wohnung anmieten. Doch dann wurde ihr in Kenia das Konto eingefroren und in Deutschland das mitgebrachte Geld gestohlen. Eine Bekannte, bei der sie damals in Leipzig zu Gast war, schrieb ihr den Weg nach Eisenhüttenstadt auf. Dort könne sie Asyl beantragen. Dass man das vielerorts kann und nicht nur am östlichen Rand der Bundesrepublik, wusste Vivian Mabura nicht. So geriet sie in die Erstaufnahmeeinrichtung „Unterschleuse“.
Es war bereits später Abend, als sie dort eintraf. Sie sei mit einem ihr fremden Mann aus Kamerun auf ein Zimmer gelegt worden. In Flüchtlingsheimen ist es üblich, nur Männer und Frauen aus einer Familie in einem Zimmer unterzubringen. Mitarbeiter des Heims sagen, dass sie die beiden für Verwandte gehalten haben. „Wie kann man das ernsthaft glauben?“, fragt Mabura. „Der Mann sprach nur Französisch und ich nur Englisch.“
Keine Schlüssel für die Zimmer
Als sie sich nach einem Zimmerschlüssel erkundigte, erfuhr sie, dass es in der Unterkunft keine Schlüssel gebe. Die Begründung sei, dass die Feuerwehr im Notfall schnell in die Räume gelangen müsse. „Dabei sind alle Zimmer ebenerdig!“, sagt sie. Die beiden jungen Männer konnten einfach durch die unverschlossene Tür reinkommen. Ihr Zimmergenosse habe ihr nicht geholfen.
Ausgemacht ist, dass Mabura nicht über die Vergewaltigung sprechen muss, sondern nur über das, was davor und danach geschah. Danach habe sie sich zunächst einer Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes anvertraut, berichtet sie. Die Frau habe so gewirkt, als ob sie Anteil nehme, signalisiert, dass sie Unterstützung hole, denn sie selbst verstand kein Englisch. Erst fünf Stunden später sei die Frau mit einem Angestellten des Heimes, der Englisch konnte, in ihr Zimmer gekommen. Nach der falschen Auskunft über die Öffnungszeiten deutscher Sicherheitsbehörden hätten die beiden Mitarbeiter Maburas Zimmer verlassen, jedoch versprochen, zurückzukommen. Sie seien nicht mehr gekommen.
Eine Gefahr für Frauen
Der Leiter des Sozialdienstes, Steffen Adam, sagt, dass Mabura tags darauf „in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung“ vor ihm gestanden hätte. Vor drei Wochen hat er fristlos gekündigt, nicht nur wegen des Falls Mabura. Deshalb ist er der einzige der vielen, die Auskunft geben, der sich mit Namen zitieren lässt. Theoretisch gebe es im Heim verschiedene Hallen für allein reisende Männer und für Familien, sagt er, aber immer wieder würden einzelne Männer zwischen den Familien untergebracht. Das sei eine Gefahr für Frauen. „Einiges, was in der ,Unterschleuse‘ passiert, halte ich mit den Grundsätzen des Roten Kreuzes für nicht vereinbar.“
Darunter fällt auch der Umgang der Heimleitung mit den sexuellen Belästigungen. Eine Mitarbeiterin berichtet, dass sie sich bereits im Oktober beim Heimleiter über den übergriffigen Dolmetscher beschwert habe. Der Heimleiter habe gesagt, der mache nur Spaß. Sie solle sich nicht so haben. Im Januar ging sie dann zur Polizei. Sie war mit Kolleginnen ins Gespräch gekommen und mehrere hatten ihr von ähnlichen Erfahrungen mit dem Mann berichtet. Einer Frau habe der Dolmetscher beispielsweise häufig an den Busen gegriffen, einer anderen in den Arm geboxt. Häufig habe er anzügliche Bemerkungen gemacht. Zu einem Flüchtling habe er über sie sagt: „Die Alte ficke ich auch noch.“
Elf Mitarbeiterinnen seien betroffen, sagt die Frau. Eine wollte keine Anzeige. Sie und andere hätten auch beobachtet, wie der Dolmetscher weiblichen Flüchtlingen nachgestellt und sie belästigt hätte. Die Mitarbeiterin, die das berichtet, hat zum 1. Februar ihren Vertrag auslaufen lassen und einen neuen, der ihr angeboten wurde, nicht angenommen. Jetzt ist sie arbeitslos.
Der Übersetzer wurde suspendiert
Das Rote Kreuz, das auch intern den Vorwürfen nachgegangen ist, bestreitet die Schilderungen der Frauen nicht. Der Leiter des Landesverbandes Brandenburg, Hubertus Diemer, sagt, der Übersetzer sei suspendiert worden, als man von den Anzeigen erfahren habe.
Doch einige Mitarbeiter bezweifeln, dass sich die Einstellung der Heimleitung geändert habe. Am Tag nach der Anzeige soll ein leitender Angestellter zwei junge Kräfte, darunter die 16-jährige Praktikantin, angeschrien haben: Sie hätten sich alles nur ausgedacht.
DRK-Landeschef Diemer weiß auch von dem Vorfall. Der Satz sei in einer hitzigen Auseinandersetzung gefallen. Der Mann sei darüber aufgebracht gewesen, dass sich die Frauen ihm nicht anvertraut hätten. Seitdem habe es Supervisionsgespräche gegeben. Außerdem habe das Heim mittlerweile eine neue Leitung. Bis zum 1. Februar sei es als Notunterkunft geführt worden und jetzt in den Regelbetrieb übergegangen. Das habe zu einer komplett neuen Führungsstruktur und mehr fest geschriebenen Regeln geführt. Was Diemer nur auf Nachfragen zugibt: Einer der alten Chefs ist seitdem für insgesamt fünf Erstaufnahmeeinrichtungen in Eisenhüttenstadt und Frankfurt/Oder zuständig.
Noch nie so verletzlich gefühlt wie in Deutschland
Zum Fall Mabura, sagt Diemer, dürfe er aufgrund der Ermittlungen nicht viel sagen. Dass der Mitarbeiter nicht gleich die Polizei rief, habe der Mann mit einem sprachlichen Missverständnis begründet. „Es tut mir persönlich und den Mitarbeitern dort unendlich leid, was Frau Mabura erlebt hat“, sagt er.
Das Frauenhaus im Berliner Umland ist bereits Vivian Maburas vierte Station, nachdem sie Eisenhüttenstadt verlassen hat. Im Café bei der Kirche hat sie sich ein Stück Eierschecke bestellt, das sie mit der Gabel zerteilt, aber nicht isst. Sie habe sich noch nie so verletzlich gefühlt wie jetzt in Deutschland, sagt sie. Zunächst war sie in einem Frauenhaus in einer anderen brandenburgischen Kleinstadt untergekommen. Doch als es ihr schlechter ging, sie sogar von Selbstmord sprach, wurde sie in die Psychiatrie gebracht, wo sie Psychopharmaka bekam. „Aber ich brauche nicht nur Pillen, sondern auch einen Psychologen zum Reden“, sagt sie.
Wird ihr Fall nicht aufgeklärt?
Dass ihr Fall jemals aufgeklärt wird, ist nicht wahrscheinlich. Die Polizei will zum Stand der Ermittlungen nichts sagen. Noch bevor Mabura Anzeige erstatten konnte, hätten Flüchtlinge das Heim verlassen können. Beispielsweise seien gegenüber von Vivian Maburas Zimmer in der „Unterschleuse“ allein reisende Männer untergebracht gewesen, heißt es aus dem Heim: angeblich Cousins. Einer sei am besagten Sonntag nach Schweden weitergereist. Auch er ist also „ubv“ – wie Mabura.
Unter dem Kürzel werden normalerweise diejenigen geführt, die plötzlich weg sind, ohne sich abzumelden. Wird ein Flüchtling als „ubv“ gemeldet, wird dessen Asylverfahren in der Regel ausgesetzt. Noch so eine kleine Nachlässigkeit des Heims, die für Vivian Mabura große Konsequenzen haben könnte.
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