Landtagswahl: Platzeck sieht SPD in existenzieller Krise
Zu Hause im märkischen Idyll, schlank, trainiert, braungebrannt – alles am einstigen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck signalisiert: Ich bin ein zufriedener älterer Herr und politischer Rentner. Doch natürlich stimmt das nicht. Nicht vor einer für seine SPD schicksalhaften Landtagswahl.
Flieth/Uckermark - Der Mann, der wie kaum ein anderer die Gefühle der Ostdeutschen sezieren kann wie der Chirurg einen Körper, sitzt an einem heißen Freitagmittag neun Tage vor der Wahl in Brandenburg in einem kleinen Laden; es ist eine Art moderner, ökologischer Konsum mit Cafébetrieb im Herzen des Dorfes Flieth in der Uckermark. Matthias Platzeck ist mit dem Fahrrad gekommen, trägt ein weißes Basecap, ein kurzärmeliges Trekkinghemd und Slipper ohne Strümpfe, vor ihm steht ein alkoholfreies Weizenbier. Der Wirt, dessen Frau Touren mit dem Esel durch das Biosphärenreservat anbietet, serviert Radieschen.
Für den, der hier ein Auskommen hat, ist das Idyll mit Blick über hügeliges Land, Felder und sumpfige Erlenwälder ein perfekter Ort in einer Welt voller Abgründe, die auch Platzecks Partei bedrohen. Das Dorf ist nach Potsdam-Babelsberg sein zweites Zuhause. Er ist schlank, trainiert, braungebrannt, der Drei-Tage-Bart sitzt akkurat, im Dezember wird er 66 Jahre alt. Gerade ist ein Teil seiner Familie samt Enkelkindern aus Schweden zu Besuch. Alles an Platzeck signalisiert vor einer für die SPD wieder einmal schicksalhaften Wahl: Ich bin nur ein zufriedener älterer Herr und politischer Rentner.
Angst vor Verlusten
Natürlich stimmt das nicht. Denn der Privatier, der er hier ist, kann ziemlich hibbelig werden und mit großem Eifer reden – übers Politische. Er trifft sich auch gern mit Vertretern anderer Parteien. Er kann nicht verstecken, dass es in ihm, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg, der dem Land 23 Jahre in verschiedenen Ämtern diente, lichterloh brennt: aus Angst um seine SPD und um den Zusammenhalt im Land. Hier am Holztisch, keine Menschenseele weit und breit, Heuduft in der Luft, gestikuliert er bald wild, mit den Armen ins Nichts rudernd: „Die Angst vor Verlusten darf und wird die SPD nicht lähmen.“ Dann werde man auch gewinnen.
Er ist kein Privatier, sondern Polittier.
2013 ist Platzeck nach elf Jahren im Amt nach einem Schlaganfall als Ministerpräsident zurückgetreten, und der politische Anstand verlangt uneingeschränkte Solidarität mit seinem Nachfolger Dietmar Woidke, den Platzeck selbst ausgewählt und für schwergewichtig genug für dieses Amt gewogen hatte. Doch am Sonntag könnte die SPD nach 29 Jahren ihre Regierungsmacht verlieren. Platzecks politisches Lebenswerk, das er mit Kreislaufzusammenbruch, Hörstürzen und leichten Schlaganfällen teuer bezahlt hat, läge in Trümmern. Es wäre zudem ein weiterer Fall in die Bedeutungslosigkeit der gesamten Sozialdemokratie, deren Vorsitzender er 147 Tage lang sein durfte, gewählt im November 2005 mit 99,4 Prozent der Stimmen, ehe er von diesem Amt auch schon aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat.
Und nun – was kann er tun in diesem polarisierten Deutschland?
Matthias Platzeck hat ein feines Gespür für Gefahren, die aus Gefühlen entstehen. Das hat nichts mit Gefühlsduselei zu tun, sondern mit der Fähigkeit, Emotionen als einen Teil einer größeren Komplexität zu betrachten. Als mentale Erfahrungen von körperlichen Zuständen, die wiederum eine Reaktion auf äußere Ereignisse sind. Psychoanalytiker würden Traumata sagen.
Sich nicht kaputtmachen lassen
Platzeck aber ist Kybernetiker von Beruf, er sucht nach Gesetzmäßigkeiten für Situationen, um sie steuern zu können. Zersetzt er komplexe Probleme in Einzelteile, sehen sie schon mal kleiner aus. Er sagt: „Natürlich ist die SPD in einer existenziellen Krise, die auch mich nachts umtreibt. Ich will mich aber davon nicht kaputtmachen lassen. Und auch die SPD wird das nicht tun. Denn alle offenen Fragen der Gesellschaft sind doch in Wahrheit sozialdemokratische Fragen. Wir werden gebraucht. Das ist die gute Nachricht.“
An diesem heißen Freitagnachmittag in Flieth ist Platzeck auch deshalb so großväterlich, weil die jüngsten Umfragen die SPD wieder vorne sehen. Und so erzählt er freimütig darüber, was er seit 1989 in so vielen Positionen und Situationen studieren konnte: in der Noch-DDR als Sprecher der Grünen Liga, als Minister in der Regierung Modrow, dann Bundestagsabgeordneter, als Umweltminister im ersten Kabinett von Manfred Stolpe, als Potsdamer Bürgermeister, als Ministerpräsident. Der Ingenieur für biomedizinische Kybernetik, Absolvent der Technischen Universität Ilmenau, an der sich Angela Merkel vergeblich bewarb, hat entdeckt, dass der aktuelle Zustand der Gesellschaft, der Hass auf die Etablierten, die Angst vor der Zukunft, die bedrohlich wiederkehrenden Vorurteile zwischen Ost und West nicht ohne das richtige Verständnis für das Vergangene geheilt werden können.
Zuviel für eine Generation
Schon 2009 schreibt Platzeck in seinem Buch „Zukunft braucht Herkunft“, dass die Perspektivlosigkeit ganzer Regionen bei vielen Menschen „bleibende seelische Verletzungen“ hinterlassen hätten. An diesem Tag, im schattigen Café in Flieth, sagt er: „Die in Ostdeutschland oft zu spürende Ablehnung etablierter Parteien ist gefährlich und wirkt demokratiezersetzend. Ein Teil der Erklärung kann darin liegen, dass die Summe der Ereignisse wohl zu viel für eine Generation war: Zusammenbruch nach 1990, Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, Flüchtlingskrise 2015 und dazu der Wegzug hunderttausender junger Menschen in den Westen.“ Alles zusammen habe das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates und der Volksparteien erschüttert.
Wut über die SPD-Performance
Zehn Tage vor dem Gespräch in Flieth sitzt ein anderer, nicht so demonstrativ tiefenentspannter Matthias Platzeck hinter dem Berliner Haus der Kulturen der Welt an der Spree und muss seine eigene Wut über die Performance der SPD bändigen. Zu diesem Zeitpunkt liegt die AfD in Brandenburg vorn, hinter den Kulissen der Brandenburger SPD herrscht Panik und Hilflosigkeit. Am Tag vor dem Treffen an der Spree hat Platzeck der Deutsche Presse Agentur ein Interview zur Lage der SPD im Bund gegeben und durchdekliniert, über welche Kompetenzen ein neuer Vorsitzender verfügen müsse: Mut und Herz, die Fähigkeit, Menschen anzusprechen, Organisations- und Politikerfahrung, Handlungsfähigkeit und die Mentalität, „erdrückende Verantwortung“ zu tragen. Fragt man ihn hier, ob er damit auch die Fähigkeiten beschreibt, die ein Landesvater in Brandenburg haben müsse, schweigt er. Seine Augen schreien einen vorwurfsvoll an: Was soll jetzt diese Frage! Achselzucken.
Mindestens zwei Veranstaltungen pro Tag
Platzeck ist zwar offiziell kaum irgendwo, inoffiziell aber fast überall: Er tröstet im Landtag, macht Mut auf Sommerfesten, führt unentwegt Gespräche auf Parteitagen, reist durch die Bundesländer, die nun wählen und verspricht allen Wahlkämpfern, die ihn fragen, dass er hilft. In der nun anbrechenden, der letzten Woche, begleitet Platzeck jeden Tag mehrere Landtagskandidaten auf mindestens zwei Veranstaltungen pro Tag.
An jenem 13. August kommt Platzeck gerade aus dem Schloss Bellevue, der Bundespräsident hat zum 58. Jahrestag des Baus der Mauer eine Gesprächsreihe eröffnet, in der sich Ost und West ein Jahr lang austauschen sollen. Das ist, wenn man so will, sein Lebensabendthema – neben der Freundschaft zu Russland als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. Wo es aber um das gleiche Prinzip geht: sich hineinzuversetzen in die Lage und das Denken des anderen, um sich zu verstehen. Platzeck ist der oberste Russlandversteher in Deutschland – oft ist es nicht als Kompliment gemeint.
Einheitsjahr soll kein rein staatlicher Feierakt werden
Was das Ost-West-Thema angeht, steht er mit Frank-Walter Steinmeier in engem Austausch, schließlich ist Platzeck auch Vorsitzender der Kommission „30 Jahre deutsche Einheit und friedliche Revolution“ und will verhindern, dass das Einheitsjahr der Deutschen zu einem „reinen staatlichen Feierakt“ verkomme. Er will, dass geredet wird; träumt von der Neubelebung der alten Städtepartnerschaften, Begegnungen zwischen den Menschen im ganzen Land, spricht sogar von gemeinsamen Tanzabenden. Es klingt romantisierend. Er meint es ernst.
Im Schloss Bellevue hat es ihn auch nicht lange auf dem Stuhl in der ersten Reihe gehalten, er ist aufgestanden und hat einem seiner Vorredner, Werner Schulz, Grüner und DDR-Bürgerrechtler, mit dem er einst noch am Zentralen Runden Tisch der DDR saß, widersprochen. Der hatte darauf beharrt, dass es in der Bundesrepublik keine Bürger zweiter Klasse gebe und die Ostdeutschen sich nicht so sehen dürften. Platzeck sagt, das möge so sein, es reiche aber aus, dass sich viele Ostdeutsche so fühlten, und daraus entstehe nun mal der Zorn. Man müsse das endlich zur Kenntnis nehmen und nicht beiseitewischen. Der Ossi-Versteher ist ein Ossi-Flüsterer geworden.
Platzeck ist gerne in der Rolle des Mediators. Macher funktioniert ja auch nicht mehr – ohne Macht.
Deichgrafen und Oberhaupt der Jammer-Hauptstadt
Um Platzecks politische Rastlosigkeit zu verstehen, muss man zurückschauen auf zwei Ereignisse, die ihn spüren ließen, dass er es kann, dass er ein Land führen und befrieden kann. Das erste Erlebnis war die Oderflut 1997. Da war er noch Umweltminister und ging als „Deichgraf“ in die Geschichte ein, fortan mochten ihn die Menschen und glaubten ihm, und Manfred Stolpe wusste seitdem, dass der junge Mann ihm einmal nachfolgen könnte. Im Sommer 2002 tritt Stolpe zurück und macht Platzeck, der inzwischen Oberbürgermeister in Potsdam ist, damals „Jammer-Hauptstadt des Ostens“, wie der „Spiegel“ schrieb, zu seinem Nachfolger. Was zum zweiten Erweckungserlebnis führt: Wahlkampf führen und die Agenda-Politik der SPD verteidigen.
Kurz nach der Verkündung der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen ist das Land im Ausnahmezustand. Tausende gehen vor allem in Ostdeutschland gegen die Politik von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die Straßen. Platzecks SPD liegt im Landtagswahlkampf 2004 sechs Wochen vor dem Urnengang neun Prozentpunkte hinter der Linken auf Platz drei. Platzeck redet auf 32 Wahlkampfkundgebungen vor mehr als 30.000 Menschen ohne eine politische Botschaft zu haben, die den Menschen konkrete Hilfe geben könnte. Im Rückblick sagt er: „Es war damals ein Gefühl wie Kotzen.“
Platzeck, der Unbeirrbare
In Senftenberg sind nach der Wende im Verhältnis neun von zehn Arbeitsplätzen weggefallen, die Stadt in der Bergbauregion ist Arbeitslosen-Hochburg, Platzecks Mitarbeiter und die Polizei sind besorgt um seine Sicherheit. Die Menge brüllt ihn von der ersten bis zur letzten Minute nieder, Mittelfinger werden gereckt. Platzeck redet einfach weiter.
In Schwedt, in der Uckermark, ist es nicht anders; Eier fliegen, Platzeck guckt in hasserfüllte Augen und spricht von „Zumutungen, die jetzt unumgänglich“ seien. Aber wie er es sagt, lässt die Menge aufhorchen: „Auch wir Sozialdemokraten waren am Anfang zu feige, diese Reformen anzupacken. Auch wir hatten mehr Schiss in der Hose als Vaterlandsliebe.“ Die Pfiffe verstummen, die Leute bleiben auf dem Platz, Platzeck geht in die Menge und unterhält sich. Später wird er einmal sagen, es sei zwar nicht schön gewesen, aber die Reaktion der Leute habe die Sache für ihn „verklart“. Was er meinte: Er hat die Wut verstanden, er konnte sie körperlich nachfühlen.
Willkommensclubs für Zuzügler
Auch die Uckermark war vom Exodus der jungen Leute nach 1990 betroffen, hier in Flieth schlossen Schule und Konsum, Arbeitsplätze gingen verloren. Jetzt gehört die Uckermark fast zum Speckgürtel Berlins, so erzählen es Platzeck Berliner Immobilienmakler. Er sagt, die Leute kommen mit ihren Kindern zurück, die Bahn erhöhe ihre Taktung, Pendler-Parkplätze werden voller, und im Norden des Landkreises haben sich mehr als tausend polnische Neubürger angesiedelt. Der Zuzug aus Berlin und Polen, den viele alte Dorfbewohner eher misstrauisch registrieren und der nicht konfliktlos abläuft, etwa weil sehr viele Berliner hier nicht dauerhaft leben, sieht Platzeck als notwendige Entwicklung hin zu etwas ganz Neuem. Er schwärmt beim zweiten alkoholfreien Weizen von den Willkommensklubs, die es jetzt gebe, um die Zuzügler oder Zurückkehrer zu begrüßen.
Trotzdem wächst die Diskrepanz zwischen den immer besser werdenden volkswirtschaftlichen Kennziffern und dem Empfinden der Bevölkerung. Die AfD ist der Katalysator für das Auseinanderdriften. Matthias Platzeck spürt diese Gefahr der schneller hochkochenden Gefühle heute wie früher. Er hat aber beschlossen, diese Gefahr als einen Bestandteil der komplexen Wende-Geschichte zu begreifen; eine Geschichte, die weder zu Ende noch auserzählt sei.
Die Sozialdemokratie als Minderheit
Letztens war er in Köthen, Sachsen-Anhalt, 26.000 Einwohner. Köthen hat in den letzten fünf Jahren wie viele andere Orte Ostdeutschlands einen steilen Aufstieg der AfD erlebt. Platzeck steht auf einer Kundgebung der AfD und hört „reinen Nazisprech“. Trotzdem jubeln 2500 Leute den Rednern zu. Ein paar Kilometer weiter in Sachsen muss seine SPD in vielen Orten kämpfen, um überhaupt noch Partei- und Basisarbeit zu gewährleisten. Die stolze Sozialdemokratie ist eine Minderheit. Platzeck sagt ausnahmsweise einmal sichtbar frustriert, dass man in Ostdeutschland immer öfter gar nicht mehr erklären müsse, warum man in der AfD sei, sondern warum man etwa für die SPD eintrete. Er fügt schnell hinzu, dass dieser „teils deutliche Kulturwandel“ die SPD zwar berühren müsse, aber nicht entmutigen dürfe. „Unsere Haltung muss sein: Wir geben da nicht auf. Wir kämpfen.“
Er selbst war nie ein radikaler Kämpfer, sondern einer, der versucht hat, indirekt oder auf Umwegen Einfluss zu nehmen. Vorher hat er versucht, die Wirkung des Tuns zu berechnen. Seine Biografen, die Journalisten Michael Mara und Thorsten Metzner, schreiben: „Es gibt Menschen, die mehr gewagt haben als er, der das Risiko immer wohl kalkuliert …“ Manche, die ihn politisch eng begleitet haben, wissen, dass er häufig dann gesundheitlich anfällig war, wenn es brenzlig wurde. Er konnte nichts dagegen tun. Verschiedene Zeitzeugen halten ihn trotz aller Fähigkeiten im Zwischenmenschlichen für ein „Sensibelchen“, „schwer berechenbar“, der seine Freundlichkeit und charmante Offenheit immer auch als ein Machtinstrument einzusetzen verstand.
Kommt er zurück auf die große Bühne?
Wer in Brandenburg umherreist und nach Platzeck fragt, wird wohlwollende Antworten erhalten. Ein Linken-Politiker, der Platzeck schon lange kennt, hat im Land erlebt, dass „die Leute ihn nach wie vor lieben“. Mehrere Wegbegleiter halten es nicht für vollkommen ausgeschlossen, dass er unter bestimmten Konstellationen noch einmal auf der großen politischen Bühne auftaucht. Was würde passieren, wenn die Brandenburger SPD die Wahl doch verliert oder ein Ergebnis herauskäme, das weder Woidke noch dem CDU-Spitzenmann Ingo Senftleben es ermöglichen, glaubhaft zu regieren?
Eine mögliche Hoffnungsträgerin, die ehemalige Generalsekretärin Klara Geywitz, will mit Vize-Kanzler Olaf Scholz Bundesvorsitzende werden. Sie fällt aus. Wenn andere, was Platzeck von sich aus gar nicht will, aber ihn in Erwägung ziehen würden und parteiübergreifend an sein Verantwortungsgefühl appellierten, vielleicht für einen Übergang?
Matthias Platzeck kann vieles, nein sagen kann er schlecht.
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