Brandenburg: Leinen los, Bühne frei
Mit dem „Traumschüff“ führt eine Berliner Theatertruppe Stücke im Havelland auf. Funktioniert der Kulturexport?
Die Regionalbahn hält in Pritzerbe an einem verlassenen Bahnsteig. Die Station, die gut 45 Kilometer Luftlinie westlich der Berliner Stadtgrenze zwischen Brandenburg an der Havel und Rathenow liegt, heißt zwar „Pritzerbe Bahnhof“, doch es gibt nur ein kleines Haus, das direkt am ersten von zwei Gleisen steht. Die Fenster sind verrammelt und das vermutlich nicht erst seit gestern. Kein Späti, kein Bäcker, kein Snackautomat. Nicht mal Fahrkarten kann man hier kaufen. Pritzerbe hat etwas mehr als 1000 Einwohner und gehört zur Kleinstadt Havelsee. Die Pritzerbener legen aber Wert darauf, dass ihr Ort, gegründet im Jahr 948, als Stadt bezeichnet wird.
Hier soll an diesem Sommernachmittag ein Theaterstück aufgeführt werden. Jedoch nicht, wie man es als voreingenommener Großstädter erwarten könnte, in der örtlichen Turnhalle, mit ein paar Schülern in den Hauptrollen. Sondern, total fancy, am Wasser auf einem Schiff – inszeniert und gespielt von einem Berliner Theaterensemble.
Traumschüff heißt das Projekt – mit ü, weil’s so schön Berlinerisch klingt. Am 29. Juli wurde das Theaterschiff in Havelberg zu Wasser gelassen, seitdem ist die Crew damit auf der Havel unterwegs. Legt in verschiedenen Dörfern und Städten an, gibt Theaterworkshops oder Vorstellungen. Bleibt mal einen, mal zwei Tage, oder so wie hier in Pritzerbe auch eine ganze Woche an einem Ort.
Der Weg zur Anlegestelle führt durch eine hübsche, aber gänzlich ausgestorbene Straße. Es ist Sonntag, und die wenigen Einkaufsmöglichkeiten und Cafés, die es gibt, sind geschlossen. In kleinen, gepflegten Vorgärten blühen Blumen. An mancher Stelle bröckelt der Putz von den schlichten Verzierungen und die farbigen Holztüren geben ihre Lackschichten preis. In ein- und zweistöckigen, pastellfarbenen Gründerzeithäusern befinden sich Läden und Wohnungen.
Vielleicht verschafft das Theaterstück ja einen Blick hinter diese Fassaden? Eine knappe Woche hat die Traumschüff-Crew in Pritzerbe auf dem Wasser gelebt, um mit der Hilfe der Einwohner etwas auf die Bühne zu bringen, „Ein Stück Pritzerbe“ ist der Titel.
Das ist auch das Konzept des Traumschüffs. Die Stücke sollen Themen behandeln, die die Menschen am Aufführungsort beschäftigen.
Die Idee zu dem Projekt kam Schauspieler und Traumschüff-Kapitän David Schellenberg letzten Sommer. Nach zwei Jahren am Staatstheater wollte er raus aus dem institutionellen Kulturbetrieb, lieber etwas für Leute machen, die sonst nicht ins Theater gehen. „Weil es ihnen zu teuer, zu abgehoben ist. Oder weil sie zu weit weg von einer Stadt wohnen“, sagt der 27-Jährige. So entstand der Plan, zusammen mit Freunden eine gemeinnützige Theatergenossenschaft zu gründen. Und ein Theater, das zu den Leuten kommt – nicht nur thematisch, sondern auch räumlich: auf dem Wasserweg. Rausfahren, „aufs Land“, die sogenannten Abgehängten besuchen, sich mit Problemen beschäftigen, die jenseits der studierten Elite in den großen Städten liegen.
Aber ist das nicht auch schon wieder elitär, irgendwie herablassend? Nikola Schmidt, eine der Gründerinnen des Traumschüffs, und David Schellenberg hatten solche Bedenken zunächst schon. „Aber es war überhaupt nicht so“, sagt Schmidt. Die meisten Leute seien sehr offen auf sie zugegangen, hätten sich über den Besuch gefreut. Und manche seien tatsächlich zum ersten Mal ins Theater gegangen. Besonders in Pritzerbe habe man sie mit offenen Armen empfangen. „Viele Leute waren bereit, mit uns zu reden, auch über sehr private Dinge“, sagt Nikola Schmidt. Und die Essenz? „Die meisten Leute wollen hier tatsächlich nicht weg. In Pritzerbe gibt es einfach intakte Strukturen: einen Arzt, Einkaufsmöglichkeiten, eine Schule.“ Auch das Gemeinschaftsgefühl, haben die Theaterleute erfahren, spielt eine große Rolle. Nur Neuankömmlinge haben es manchmal schwer.
Das Traumschüff hat vor einem kleinen, halbrunden Platz angelegt, der gesäumt ist von Bänken und Pflanzen. „Ablage“ heißt der Platz unter den Pritzerbenern, nicht mal Google Maps kennt ihn. Hier treffen sich die jungen Leute zum Biertrinken und Abhängen, erzählt Nikola Schmidt. Und hier, auf den runden Stufen, ist sie vor ein paar Tagen gestürzt und hat sich am Bein verletzt – der Platz ist nicht beleuchtet. Aber alles halb so wild, sagt Schmidt, die Pritzerbener seien sehr hilfsbereit gewesen. Hätten ihr Krücken gebracht, Kuchen gebacken und sogar eine Schubkarre geliehen, mit der ihre Kollegen sie herumfahren konnten.
Kurz bevor die Vorführung beginnt, haben sich etwa hundert Menschen auf dem Platz eingefunden. Hundert Zuschauer – nicht gerade Volksbühnenverhältnisse, aber für die kleine Stadt an der Havel doch eine ganze Menge. Immerhin jeder zehnte Bewohner ist also gekommen, um sich bei einem Eis und Sonnenschein auf Bierbänken sitzend junge Berliner anzuschauen, die etwas über das Leben der Brandenburger gelernt haben wollen. Zum Glück nimmt sich auch das Stück kein Vorbild an Frank Castorf und geht nur eine halbe Stunde. Für Besucher von außerhalb sind viele Anspielungen kaum zu verstehen. Aber so viel: Es geht um Freiheit und Heimat. Um vier junge Menschen, die sich nicht einig werden, ob sie da bleiben oder lieber wegziehen wollen. Der eine findet, man habe hier doch alles, was man brauche. Die andere hat Angst, für den Rest ihres Lebens biertrinkend an der Ablage rumzuhängen. Um doch mal etwas zu erleben, machen die vier sich auf die Suche nach einem alten Tunnel, in dem Schätze vergraben sein sollen. Ein Raunen geht durchs Publikum und eine ältere Dame bestätigt: „Den Tunnel gibt’s wirklich.“
Die Traumschüff-Crew zieht über die Havel weiter. Mitte September will sie in Berlin ankommen, dort wird es ein Abschlussevent geben. Mehr Informationen, die Route und alle Termine finden Sie unter www.traumschueff.de
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