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Manja Schüle (SPD) ist Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.
© Andreas Klaer

Interview | Manja Schüle: "Kultur ist nicht nur das Sahnehäubchen"

Brandenburgs Kulturministerin Manja Schüle (SPD) über weitere Hilfen für Künstler in der Krise, Corona-Leugner, einen Feldversuch im Nikolaisaal und die "Baseballschlägerjahre".

Frau Schüle, Kultur in Brandenburg, das sind nicht nur Barberini und Hans Otto Theater. Am Mittwoch besuchten Sie das „Geschichtenreich“ in Börnicke, das kleinste Theater des Landes. Wie kommen gerade diese kleinen Kultureinrichtungen durch die Coronakrise? 

Ich bin viel im Land unterwegs gewesen in den vergangenen Wochen und bin bewusst vor allem zu den kleinen Museen, Galerien, Theatern gegangen, weil ich wissen wollte: Wie ist die Stimmung vor Ort? Wie haben sich die Besucherzahlen entwickelt? Reicht es aus, was wir als Land machen? Ich bin sehr froh, dass es bei den meisten Einrichtungen, die ich besucht habe, ganz gut läuft. 
Also macht das Land aus Ihrer Sicht genug, um die Kultur zu stabilisieren? 

Mir war es von Anfang an wichtig, dass wir die Richtlinien gemeinsam mit den Kulturschaffenden entwickeln. Wir haben Fördermittel in Höhe von 8,9 Millionen Euro ausgereicht, auch wenn geplante Veranstaltungen nicht stattgefunden haben und die Einrichtungen teils neue Projekte auf den Weg bringen mussten. Die Corona-Kulturhilfe – ursprünglich bis zum 1. August befristet – haben wir bis zum Jahresende verlängert und erweitert. Anfangs wurden 50 Prozent der Einnahmeausfälle kompensiert, nun 100 Prozent. Von diesem Schutzschirm in Höhe von 35 Millionen Euro können kommunale Einrichtungen genauso profitieren wie gemeinnützige Vereine – unabhängig davon, ob sie vor Corona vom Land gefördert worden sind. Denn das, was in 30-jähriger, kleinstteiliger Arbeit an Kulturstruktur aufgebaut worden ist, darf jetzt nicht Gefahr laufen, in Schieflage oder Insolvenz zu rutschen. 
Wie sieht es mit Solokünstlern aus?
Freischaffende waren natürlich zuerst gefährdet: Da brechen von einem Tag auf den anderen die Einnahmen weg. Deswegen haben wir das Mikrostipendium ausgelobt: 1000 Euro für ein kleines Projekt, die nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. 
1000 Euro – lange zehren kann man davon nicht.
Dafür waren die Mikrostipendien auch nie gedacht. Es ging immer darum, einer großen Zahl von Kulturschaffenden trotz Corona in den Sommermonaten kleine künstlerische Projekte zu ermöglichen. Das ist gelungen. Und weil Corona noch nicht vorbei ist, wollen wir den Kulturschaffenden dies im Herbst erneut ermöglichen. Wir werden nun noch einmal 1000 Mikrostipendien in Höhe von je 2500 Euro ausloben. Nach einer Vielzahl von Gesprächen mit den Betroffenen haben wir sowohl die Stipendiensumme erhöht, als auch das Verfahren entbürokratisiert. Wir legen darüber hinaus auch wieder die Stipendien-Pakete für Künstlerinnen und Künstler der Sparten Bildende Kunst, Musik, Literatur und Darstellende Kunst auf. Da wird es noch einmal 20 über eine Jury vergebene Stipendien à 8000 Euro geben. Hier haben wir die Zahl der Stipendien wegen Corona in diesem Jahr verdoppelt. Damit sind wir bundesweit Vorreiter in Sachen Freiheit für die Künstlerinnen und Künstler.
Kann man sich für ein Mikrostipendium bewerben, wenn man schon einmal gefördert wurde?
Ja, das ist möglich. 
Was machen Sie, wenn die Stipendien nicht ausreichen?
Dann werde ich noch einmal an Finanzministerin Katrin Lange herantreten.
Die Haushaltslage in Brandenburg ist wegen der Pandemie extrem angespannt. Jeder Bereich braucht Geld: Wirtschaft, Schule, Infrastruktur. Wie argumentieren Sie in Haushaltsverhandlungen: Warum darf Kultur nicht hintenanstehen?
Wir hatten vergangene Woche eine Debatte im Landtag über die kulturpolitische Strategie des Landes. Ein Abgeordneter sprach davon, dass die Kultur der Knorpel sei, der die Gesellschaft geschmeidig mache. Das sehe ich anders! Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass Kunst kein Zeitvertreib ist, der das Leben der Menschen angenehmer macht. Kultur ist nicht nur das Sahnehäubchen, das uns den Alltag versüßt. Kunst und Kultur haben eine gesellschaftspolitische Relevanz, besonders in einer Gesellschaft, die unter Druck geraten ist. Kunst muss auch weh tun dürfen und sich mit bedeutenden gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzen. Da denke ich an Klimawandel, Digitalisierung, soziale Medien, Leben im ländlichen Raum, Strukturwandel in der Lausitz – und natürlich auch die Auswirkungen der Coronakrise.
Was wäre denn, wenn sich ein Künstler für ein Mikrostipendium bewirbt, der mit den Landesmitteln ein Corona-Leugner-Buch auf den Weg bringen will? 
Gute Frage. Nun, die Kultur ist frei, das ist grundgesetzlich verbrieft. Mein Ministerium ist keine Zensurbehörde und ich keine Kulturkommissarin, diese Zeiten sind vor 30 Jahren glücklicherweise zu Ende gegangen. Gleichzeitig garantiert das Grundgesetz die körperliche Unversehrtheit. Sich mit Corona auch provokativ auseinanderzusetzen, ist wichtig, in der ersten Stipendienrunde hatten wir eine Bandbreite von Einreichungen zu dem Thema. Aber wer die körperliche Unversehrtheit mit Füßen tritt, indem er eine Pandemie leugnet, kann keine Unterstützung bekommen. Da hat die Kunstfreiheit für mich ihre Grenzen. 
Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür, Veranstaltungen ins Freie zu verlagern, wird kaum noch möglich sein. Befürchten Sie, dass es für Künstler in den kommenden Monaten noch einmal richtig eng wird? 
Für Veranstaltungen im Inneren haben wir ein Schutzkonzept, das wir gerade überprüfen, um gut gerüstet in Herbst und Winter gehen zu können. Ich möchte ein flexibles Konzept, das es den Kultureinrichtungen ermöglicht, selbst zu entscheiden, welche Variante für sie und ihre Besucher am besten passt: 1,5 Meter Abstand ohne Maske oder wie in Berlin einen Meter Abstand bei einer Sitzverteilung im Schachbrettmuster und Maskentragen während der Vorstellung. Dieses Konzept, das Alternativen zulässt, liegt dem Gesundheitsministerium vor. Meine Kabinettskollegin Ursula Nonnemacher hat schon zugesagt, dass wir dazu auch einen Feldversuch machen werden.
Wie soll der aussehen?
Ursula Nonnemacher und ich werden uns gemeinsam eine Probe und dann eine Aufführung der Kammerakademie im Nikolaisaal anschauen, jeweils betrachten, was die Raummessungen zum Aerosolausstoß ergeben. Das hilft auch den Menschen, die Kultur erleben wollen. Viele sind verunsichert. Kann ich unbesorgt in ein Konzert gehen? Wir wollen zeigen: Wenn wir Kultur anbieten, tun wir gleichzeitig alles, um den Gesundheitsschutz zu garantieren. 

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Sind die Menschen denn überhaupt bereit, gerade in der Krise Geld für Kultur auszugeben? Wer in Kurzarbeit ist, überlegt sich womöglich, ob er 30 oder mehr Euro für eine Konzertkarte übrig hat.
Kultur ist nicht zum Nulltarif zu haben. Ich habe den Eindruck, dass das Bewusstsein dafür bei vielen gewachsen ist. Was man über zwei, drei Monate vermisst hat – diese immer verfügbare Bandbreite an Kulturangeboten – hat nun einen neuen Wert. Das habe ich selbst erlebt, als ich das erste Mal wieder in einem Konzertsaal saß. Das war ein sehr berührender Moment. 
Wo war das?
Das war im Juni bei der Saisoneröffnung im Nikolaisaal in Potsdam. Zuerst spielte die Berliner Liedermacherin Dota Kehr im Foyer, hinter einer Plexiglasscheibe. Das war ein erstes Herantasten. Dann die vielen Musiker auf der Bühne, die glücklich waren, endlich wieder auftreten zu können, auch wenn nur ein Drittel der Zuschauerplätze belegt werden durfte. Hinterher haben mir viele Besucher gesagt, dass es ein großartiges Erlebnis war, Kultur wieder physisch erleben zu können, wenn auch mit Abstand. Dafür sind viele Menschen bereit, zu bezahlen. Das „Theater am Rand“ im Oderbruch hat ein Konzept, das das sehr schön veranschaulicht.
Wie sieht das aus?
Das Theater nimmt keine Eintrittspreise. Zunächst konnten die Leute vor der Vorstellung an der Kasse entscheiden, wie viel sie geben wollen. Da setzten dann oft die Diskussionen zwischen Ehepartnern ein. Geben wir 20 oder 25 Euro? Mehr? Oder weniger? Inzwischen wird auf der Bühne eine Empfehlung für einen Austrittspreis gegeben. Die Leute zahlen beim Verlassen des Theaters – und geben dann deutlich mehr. 
In den vergangenen Monaten fand Kultur viel per Livestream statt – kostenlos. Daran kann man sich gewöhnen. 
Wir haben als Ministerium binnen weniger Wochen eine Plattform eingerichtet, auf der Kulturangebote im Netz stattfinden können. Das hat großen Anklang gefunden, aber das Digitale kann das Analoge nicht ersetzen. Es ist etwas komplett anderes, ein Bild von Monet oder Hagemeister am Bildschirm anzuschauen oder davor zu stehen. Es ist ein Unterschied, in einem Konzerthaus zu sein oder ein Konzert im Stream anzuschauen. Dennoch: Auch bei Onlineformaten müssen wir wegkommen von dieser Geiz-ist-geil-Mentalität und über ökonomische Modelle nachdenken. 
Die Krise fällt nun auch mitten in die Einheitsfeierlichkeiten. Nehmen wir mal an, Sie wären eine Autorin, die sich für ein Mikrostipendium bewirbt, mit einem Romankonzept zu 30 Jahren Einheit. Welche Geschichte würden Sie erzählen? 
Ich würde eine Geschichte von Neugierde und Begeisterungsfähigkeit erzählen. Ich bin in Frankfurt (Oder) aufgewachsen. Als die Mauer fiel, sollte Heilbronn die Partnerstadt von Frankfurt werden. Kleiststadt – Käthchen von Heilbronn, das passte. Aber ich wollte mehr wissen, den Partner erst einmal kennenlernen. Also habe ich als 14-Jährige den Bürgermeister von Heilbronn angeschrieben. Er hat mich dann tatsächlich eingeladen, ich habe zwei Wochen in Heilbronn verbracht. Der Sprachlosigkeit der Elterngeneration, die viele Brüche verarbeiten musste, Orientierung suchte, stand die Neugier meiner Generation gegenüber. Diese Geschichte würde ich erzählen. 
Könnte man diese Geschichte ohne die „Baseballschlägerjahre“ erzählen?
Nein. Diese Baseballschlägerjahre, diese harte körperliche Gewalt auf den Schulhöfen und in Jugendclubs, haben mich dazu gebracht, mich politisch zu orientieren. Manja Präkels erzählt von diesen Erfahrungen meiner Generation in „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“, verortet in Zehdenick. Christian Bangel, der den Begriff „Baseballschlägerjahre“ prägte, kommt wie ich aus Frankfurt (Oder). Derzeit reist er durch Thüringen, spricht dort über seinen Roman „Oder Florida“ und den Rechtsextremismus der Nachwendejahre. Ich habe ihn angeschrieben, gesagt: Er müsste das auch in Brandenburg machen. Die Landtagsabgeordnete Karla Kniestedt von den Grünen hat das aufgegriffen und nun soll es auch eine Reise durch Brandenburg geben. Denn von den Baseballschlägerjahren muss man immer wieder erzählen. Nicht nur in Zehdenick und Frankfurt (Oder), auch in der Uckermark, in Elbe-Elster und Ostprignitz-Ruppin. 

Zur Person

Manja Schüle wurde 1976 in Frankfurt (Oder) geboren und wuchs dort auf. 1996 zog sie nach Potsdam. Sie studierte an der Universität Potsdam und schloss dort 2006 ihr Studium der Politikwissenschaften als Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einer Dissertation über politische Bildung ab. Bei der Bundestagswahl im September 2017 gewann sie als einzige SPD-Abgeordnete in Ostdeutschland ein Direktmandat für den Bundestag. Während ihrer Zeit im Bundestag war sie Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Seit November 2019 ist sie Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg. Sie lebt mit Mann und Sohn in Potsdam-Babelsberg.

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