Brandenburger NSU-Ausschuss: Keine gemeinsame Bewertung zum Versagen des Verfassungsschutzes
Der Brandenburger NSU-Untersuchungsausschuss legt seinen Abschlussbericht vor. Im mehr als 3200-seitigen Dokument fehlen allerdings gemeinsame Bewertungen und Schlussfolgerungen für die Zukunft.
Potsdam - Der NSU-Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtags konnte sich im Gegensatz zu den Ausschüssen im Bund und in anderen Ländern nicht auf eine gemeinsame Bewertung zum Versagen des Landesverfassungsschutzes und anderer Behörden einigen. Der Bericht soll am Montag Landtagspräsidentin Britta Stark (SPD) übergeben werden. Doch nach Tagesspiegel-Recherchen fehlen in dem 3200 Seiten dicken Abschlussbericht nach drei Jahren Ausschussarbeit die vom Parlament im April 2016 beauftragten Empfehlungen.
Keine Schlussfolgerungen für die künftige Abwehr von Rechtsextremismus
Der Ausschuss sollte Schlussfolgerungen ziehen für die künftige Abwehr von Rechtsextremismus, für die parlamentarische Kontrolle von Polizei und Verfassungsschutz, für eine nötige Neuaufstellung der Behörden, die Weiterentwicklung der Prävention gegen Rechtsextremismus und für besseren Schutz und Hilfe für Opfer rechter Gewalt. Doch davon findet sich im gemeinsamen Bericht des Untersuchungsschusses, der gemeinhin als schärfstes Schwert des Parlaments gilt, nichts. Gemeinsam hat der Ausschuss nur die Erkenntnisse zusammengetragen - diese aber nicht in einem Votum bewertet und Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen. Stattdessen gibt es sieben Sondervoten - von der rot-roten Koalition, SPD und Linke einzeln, von CDU, Grüne, von beiden gemeinsam und von der AfD. Der Abschlussbericht des Ausschusses war bis zuletzt unter Verschluss, die digitale Fassung auf einem besonders geschützten Server gespeichert. Grüne und SPD haben ihre Sondervoten vorab per Sperrfrist an die Presse geschickt. Der Tagesspiegel konnte unabhängig davon die Zusammenfassungen aller Sondervoten einsehen.
SPD räumt stellenweise Versagen ein
Am zurückhaltendsten geht die SPD-Fraktion von Regierungschef Dietmar Woidke mit Verfassungsschutz, Polizei und Justiz ins Gericht. Doch selbst die Sozialdemokraten räumen stellenweise ein Versagen ein. „Die Gefahr eines rechtsextremistisch motivierten Terrorismus wurde (…) aus heutiger Sicht (…) unterschätzt“, heißt es im rot-roten, 67 Seiten starken Sondervotum. Ansonsten beharrt die SPD weitestgehend darauf, dass kritische Vorwürfe nicht erwiesen seien.
Überlagert worden war das Ausschuss vom koalitionsinternen Streit der rot-roten Koalition um die Novelle des Verfassungsschutzgesetzes. Vor der Landtagswahl hat die SPD eine Aufstockung des Verfassungsschutz von 93 auf 130 Stellen durchgesetzt, aber auch neue Vorgaben: Die Anwerbung von V-Männern soll stärker reglementiert werden, sie dürfen nicht wegen schwerer Straftaten verurteilt werden und die parlamentarische Kontrolle soll ausgeweitet werden. In der Koalitionskrise hat die Linke das alles mitgetragen, um einen Bruch vor der Landtagswahl zu vermeiden.
Linke geht zur offenen Konfrontation über
Entsprechend zurückhaltend gegenüber dem Verfassungsschutz fällt das SPD-Votum aus. Mit den Neuerungen solle verlorenen gegangenes Vertrauen zurückgewonnen werden, hieß es. Die Linke dagegen geht in ihrem Votum - trotz des Koalitionskompromisses bei der Verfassungsschutzreform - zur offenen Konfrontation über: „Der Verfassungsschutz als staatliche Behörde konnte seinen Wert als ,unverzichtbarer’ Bestandteil einer demokratischen Sicherheitsarchitektur nicht unter Beweis stellen.“ Daher lehnt die Linke in ihrem Votum weitere Befugnisse für den Verfassungsschutz ab und fordert sogar langfristig die Ersetzung der Behörde - durch eine Dokumentationsstelle für neonazistische, rassistische und antisemitische Vorfälle.
Umgang um V-Mann "Piatto" unterscheidet sich massiv
Am stärksten zeigt sich der Unterschied zwischen der SPD und den anderen Fraktionen im Fall des V-Mannes Carsten Szczepanski, Deckname „Piatto“. Der war 1995 wegen Mordversuchs an einem Nigerianer zu acht Jahren Haft verurteilt worden, hatte sich aber schon zuvor dem Verfassungsschutz als Spitzel angedient und damit weitgehende Erleichterungen erfahren, konnte sogar ein rechtes Szene-Magazin im Knast produzieren.
Anfang der 1990er-Jahre hatte er Bombenanschläge vorbereitet und einen Ku-Klux-Klan-Ableger in Brandenburg ins Leben gerufen. Aus Sicht der Linken könnte „Piatto“ sogar vom BKA eine Vertraulichkeitszuge erhalten haben und damit faktisch Spitzel der Bundesanwaltschaft geworden sein.
Piatto gab Hinweis auf NSU-Trio
Vor allem aber war er als V-Mann im Umfeld der NSU-Unterstützer eingesetzt und hatte 1998 einen der wenigen Hinweise auf das untergetauchte NSU-Trio von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gegeben. Nach Meinung von Linken, Grünen und CDU hätte die Mordserie des NSU möglicherweise verhindert werden können, wenn Brandenburgs Verfassungsschutz nicht so regide mit seinen Informationen umgegangen wäre. Zumindest sei die Ergreifung des Trios erschwert worden. Rechtswidrig habe der Verfassungsschutz den Quellenschutz für wichtiger befunden als die Strafverfolgung.
Vorwurf: Verfassungsschutz habe Verdacht gegen Neonazis heruntergespielt
Nicht nur bei diesem V-Mann, sondern bei weiteren Spitzeln des Brandenburger Verfassungsschutzes fällt das Urteil von Linke, CDU und Grünen in unterschiedlicher Intensität deutlich aus: Der Verfassungsschutz habe den Verdacht gegen Neonazis teils kleingeredet, heruntergespielt, Neonazis teils unterstützt etwa bei der Produktion von rechten Musik-CD oder hat über V-Männer bevorstehenden Razzien an die rechtsextreme Szene verraten.
Ergebnis in unterschiedlichen Nuancen aus Sicht von Linke, Grünen und CDU: Teils erheblicher Rechtsbrüche durch den Verfassungsschutz und Behinderung der Justiz oder sogar Strafvereitelung, damit V-Männer für ihre Taten nicht belangt werden. Teils hätten Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft Hand in Hand gearbeitet, um die Gerichte zu täuschen und damit den V-Mann zu schützen. „Piatto“ könnte demnach sogar als Agent Provokateur gesehen werden, vom Verfassungsschutz immer weiter in die rechte Szene getrieben. Dabei habe der Verfassungsschutz die rechtsextremistische Szene teils erst gestärkt.
Kritik an V-Männern
Besonders für die Linke und die Grünen sind V-Männer nicht hinnehmbar - im Zweifelsfall nur als ultima ratio. Beide werfen den Landes- und Bundesbehörden bei dem im Jahr 2000 verbotenen rechtsextremen Netzwerk „Blood & Honour“ sogar Komplettversagen vor. Insbesondere die Bundesanwaltschaft sei in der Frage, ob „Blood & Honour“ eine Terrororganisation ist, zurückhaltend gewesen und habe rechtlich komplett daneben gelegen.
Selbst die CDU fordert schärfere Kontrollen für das V-Mann-Wesen, deren Einsatz nur als letztes Mittel möglich sein solle. Die Grünen, die das längste Sondervotum vorgelegt haben, fordern zudem, dass der Auftrag des Untersuchungsschusses durch Wissenschaftler weiterverfolgt wird und sie dazu Einsicht in ungeschwärzte Akten nehmen können.
AfD zieht eigene Schlussfolgerungen
Ganz eigene Schlussfolgerungen zieht die AfD: Linksextremismus und islamistischer Terrorismus müssten in der Arbeit des Verfassungsschutzes mehr Gewicht bekommen. Und die politische Einflussnahme linker Kräfte auf die Sicherheitsbehörden wie im Fall des im November als Chef des Bundesverfassungsschutzes entlassenen Hans-Georg Maaßen müssten verhindert werden.
Die AfD hat offenbar ein Problem mit dem Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten: „Der Verfassungsschutz weiß viel, ab er darf kaum etwas; die Polizei darf viel, weiß aber kaum etwas."