Besuch in der Prignitz: Die Angst des Schäfers vor dem Wolf
Marc Mennle ist Schäfer. Einer der letzten der Mark. Knapp 300 Mutterschafe hat er. Doch seit es das Raubtier hier wieder gibt, hat sich für ihn vieles verändert
Potsdam - Seit der Wolf Marc Mennle besucht hat, schläft er nicht mehr gut. „Ich schrecke immer wieder auf“, sagt der hünenhafte und muskulöse Mann. Dazu das Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit. „Man weiß nie, wann er wieder kommt“, sagt er und fügt ein bisschen verbittert hinzu: „Wir werden allein gelassen.“
Mennle ist einer der letzten Schäfer im Land. Rund 600 Mutterschafe hat der 43-Jährige auf seinen Weiden in der Prignitz. Eigentlich. Denn die anhaltende Dürre in diesem Jahr hat auch bei ihm Spuren hinterlassen. „Es war nicht genug Futter für alle da“, sagt Mennle. Fast die Hälfte seiner Tiere hat er notgedrungen verkaufen müssen. Und nun ist da auch noch der Wolf.
Zwei Wochen ist es nun her. Mennle fuhr wie jeden Morgen mit seinem verbeulten und rostigen Jeep zu seinen Schafen. In diesen Tagen grasen die Tiere auf dem alten Elbdeich in der Nähe der Stadt Lenzen. Eigentlich ein Idyll, nur einen Steinwurf von Niedersachsen entfernt. Viele Touristen kommen mit ihren Fahrrädern, genießen die Ruhe und die Landschaft. Doch als Mennle an jenem Morgen zu seiner Herde kommt, ist alles anders. „Das eine tote Schaf sah ich schon aus der Ferne“, erinnert er sich. „Es lag einfach nur da“, sagt Mennle. Als er das Tier umdreht, sieht er die blutigen Gedärme aus dem Bauch heraushängen und den Kehlenbiss. Für den Schäfer ein Schock. 2016 hatte er einmal Ärger mit dem Wolf, danach hat er aufgerüstet. Neue Zäune, neue Herdenhunde. Ohne Erfolg. „Der Wolf ist ein Vollprofi“, sagt Mennle und erklärt, dass er sich gegen den Wind angeschlichen haben muss. Während der Großteil der Herde und die drei Pyrenäenhunde vermutlich am Elbstrand lagen, suchte sich der Wolf zwei abseits grasende Schafe aus.
Leben unter dem Existenzminimum
Den Riss meldet Mennle dem Landesumweltministerium, das ein obligatorisches Gutachten erstellen lässt. Außerdem erhöht der Schäfer die Zahl seiner Hunde. „Das Ministerium empfiehlt Pyrenäenhunde, aber da gibt es auch seit 150 Jahren keine Wölfe mehr“, sagt Mennle. Er ist nach dem ersten Wolfsriss 2016 nach Mazedonien gefahren und hat kaukasische Herdehunde gekauft, einige davon kampferprobt gegen Wölfe und Bären. Als Mennle am folgenden Tag wieder zu seiner Weide fährt, erlebt er ein Déjà-vu: Wieder ist ein Schaf gerissen worden. Wieder kommt der Gutachter. Wieder deutet alles auf einen Wolfsangriff hin.
Zwei Wochen später steht Mennle auf dem windigen Deich und zeigt auf die Stelle, wo die Schafe geweidet haben. Inzwischen stehen die Tiere ein paar hundert Meter flussabwärts. „Ich bin kein Wolfhasser“, sagt Mennle nachdrücklich. Er sei Naturschützer, deshalb sei er Schäfer geworden. „Nur wieso wird der Wolf über alle anderen Arten gestellt?“ Tatsächlich darf man Wölfe in Deutschland nicht erschießen. Die Population nimmt rasch zu, allein in Brandenburg schätzt man die Zahl auf 240 Tiere. Jedes Jahr vermehren sie sich um rund ein Drittel. Als erste Landesregierung hat die rot-rote Koalition immerhin eine Wolfsverordnung erlassen. Seit Januar ist sie in Kraft und definiert ein paar wenige Ausnahmen, um ein Tier „entnehmen“ zu dürfen – sprich erschießen: Wenn ein Tier Menschen gefährlich wird oder wenn es nachweislich mindestens zweimal in eine gesicherte Anlage eingedrungen ist.
Bislang konnte kein Landwirt diese Auflagen nachweisen. Die Angriffe auf Mennles Herde könnten zum Präzedenzfall werden. Zu beiden Rissen wurden Gutachten erstellt, eine Entscheidung im Ministerium steht noch aus. „Werden beide Attacken als Wolfsriss gewertet, werde ich den Abschuss beantragen“, sagt Mennle entschlossen.
Für Mennle hat sich durch die Anwesenheit der Wölfe viel verändert. Wolfsichere Zäune braucht er jetzt. Die sind höher als die alten und mit mehreren Stromlitzen, außerdem muss er auch zur Wasserseite abzäunen. Die Anschaffung bezahlt das Land, doch den Aufwand hat der Schäfer. Vier bis fünf Stunden braucht er, um den Zaun aufzustellen. Nach drei bis vier Tagen zieht seine Herde auf die nächste Parzelle. Auch die speziellen Herdenhunde bekommt er bezahlt. „Aber für den Unterhalt muss ich selbst aufkommen“, sagt Mennle. 2500 Euro pro Jahr rechnet er pro Hund. Mennle hat 16 Herdenhunde.
Dabei sei die Lage für Schäfer schon angespannt. „Schäfer leben im Prinzip unterm Existenzminimum.“ Sechs Euro verdiene er in der Stunde. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben, sagt er. 40 Prozent seines Unterhalts erwirtschafte er selbst mit Lammfleisch und Wolle, den Rest bekommt er durch verschiedene Förderungen.
„Wir müssen bereit sein, alle Folgekosten zu zahlen“
Ans Aufhören habe er trotzdem nie gedacht. „Zum Schäfer wird man geboren“, sagt Mennle. Tatsächlich kommt er schon als Kind mit den Tieren in Kontakt. In seiner süddeutschen Heimat betreibt der Vater eine Hundeschule. Weil auf dem Gelände noch Platz ist, werden ein paar Schafe angeschafft. Später macht Männle seine Ausbildung und bekommt Flächen auf der Schwäbischen Alb. Hart sei die Arbeit an den kahlen und steilen Hängen gewesen, erinnert er sich. Er macht seinen Meister und arbeitet zweitweise für die Universität, dann zog er vor neun Jahren in die Prignitz. Der schwäbische Zungenschlag ist geblieben.
Dort, am Rand der Prignitz, wo Brandenburg endet, leben seit drei oder vier Jahren wieder ein paar Wölfe. Ein klassisches Wolfsland ist es laut den Angaben des Brandenburger Landwirtschaftsministeriums nicht. Die meisten der Tiere leben an der polnischen Grenze an der Oder und in den Landkreisen Teltow-Fläming und Potsdam-Mittelmark. Trotzdem hat die Anwesenheit der Vierbeiner auch im Osten der Prignitz für Veränderungen gesorgt. „Pilze sammeln geht nicht mehr“, berichten Bürger in Lenzen beim Wochenendeinkauf. An einen sei der Wolf bis auf 200 Meter herangekommen. Ein mulmiges Gefühl habe er da trotz seines Hundes bekommen.
Für Mennle ein weiteres Indiz, dass die Wölfe ihre Scheu verlieren. „Als der Wolf vor 15 Jahren wieder nach Deutschland kam, kannte er noch Blei“, sagt er. Jahrhundertelang war dem Wolf durch Jagd, Abschuss und Fallen signalisiert worden, sich vom Menschen fernzuhalten. Inzwischen, zwei bis drei Generationen in Sicherheit später, würden die Wölfe wieder mutiger werden.
Nicht nur für Mennle ein Problem. Als landesweit erste Stadt erklärte sich Lenzen im April zur wolfsfreien Zone. Ein symbolischer Akt ohne juristische Folgen, angeregt vom Brandenburger Bauernbund – dem lautesten Kritiker des Wolfes. Acht weitere Kommunen sind inzwischen dem Beispiel von Lenzen gefolgt. Für Mennle ein Schritt in die richtige Richtung, er fordert mehr finanzielle Unterstützung für alle Weidetierhalter. „Wenn die Gesellschaft den Wolf so vehement will, müssen wir bereit sein, alle Folgekosten zu zahlen.“
Er will vorerst nicht aufgeben. „Es ist einer der letzten Berufe, in denen man wirklich noch frei ist“, sagt er. Doch er ist auch nachdenklich. Es müsse sich etwas verändern. „So macht es keinen Spaß mehr.“ Nicht nur wegen der Albträume.
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