Oberbürgermeister in Frankfurt (Oder): Der anderslenkende René Wilke
Er sei gegen die Ausweisung krimineller Flüchtlinge, hatte er gesagt. Und jetzt macht er genau das. Was ist dieser René Wilke, Linker, Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) – ein Chamäleon? Oder nur konsequent?
Frankfurt (Oder) - Der Platz vorm Rathaus liegt weit und verlassen im leichten Vormittags-Nieselregen, eine Frau läuft ganz allein diagonal über die gepflasterte Leere, mit einem wetterabweisenden Lächeln im Gesicht, das kommt von weiter her und geht tief nach innen. Weltaufgang innen: So sind Menschen am schönsten.
Irgendwie schien es zuletzt, als ob sogar die Stadt selbst etwas von diesem Lächeln wüsste. Ausgerechnet Frankfurt an der Oder! Bei der Bundestagswahl vor einem Jahr trat Alexander Gauland hier als AfD-Direktkandidat an. Er hatte wohl keinen Augenblick an seinem Mandat gezweifelt, doch das holte einer von der CDU, der zu Hause zwei Flüchtlinge aufgenommen hatte. Ausgerechnet in Frankfurt an der Oder!
Und im Mai dieses Jahres konkurrierten zwei Männer namens Wilke um das Bürgermeisteramt, die die gleiche Grundüberzeugung einte: Unsere Stadt ist international! Dabei war es einmal gar nicht ungefährlich für Ausländer, Frankfurt an der Oder mit Frankfurt am Main zu verwechseln. Ein Jordanier, der versehentlich im falschen Frankfurt ausstieg, wurde noch am Bahnhof zusammengeschlagen. Das war vor bald 20 Jahren.
Wilke ist jüngster Bürgermeister Brandenburgs
René Wilke von der Linkspartei hat am Ende mit überwältigender Mehrheit gegen den bisherigen parteilosen Bürgermeister Martin Wilke gewonnen.
René Wilke ist 34 Jahre alt, er ist der jüngste Bürgermeister Brandenburgs und der erste seit 1990 mit einem linken Parteibuch im ganzen Land. Dass man seinen Namen inzwischen weit über die Grenzen Brandenburgs hinaus kennt, hat aber einen anderen Grund: Wilke leitete ein Ausweisungsverfahren gegen eine Gang arabischer Flüchtlinge ein, die Ende August den Frankfurter Club Frosch überfallen hatten. Anderswo weiß man gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt, nach Paragraf 53 des Aufenthaltsgesetzes. Und dieser Neuling macht es einfach. Ausgerechnet ein Linker! Ausgerechnet Wilke, der noch im Wahlkampf gesagt hatte, er sei gegen die Ausweisung krimineller Flüchtlinge. Ist der Mann ein Chamäleon? Und was wird gerade aus Frankfurt?
Das Rathaus ist schön, es ist eines der wenigen alten Gebäude, die die Stadt noch besitzt. Aber am großen Ratssaal warnen Schilder vorm Betreten. „Da ist die Decke eingestürzt!“, wird der Bürgermeister nachher beiläufig erklären. Er könnte die Nachricht noch ergänzen: 120 Millionen Euro Schulden, 90 Millionen Reparaturrückstau und 30 Prozent Armutsquote hat Frankfurt auch. Außerdem ist es die Stadt Kleists, der am Schluss seines mutwillig beendeten Lebens bekannte, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war. Viele Frankfurter hielten sich bis eben für die legitimen Erben Kleists.
Ein Gesicht wie eine politische Ansage
In Wilkes Vorzimmer wartet eine Gruppe von Stadträten aus Eisenhüttenstadt. Der schmale junge Mann, der jetzt eintritt, hat gleichsam noch den Fahrtwind in den Haaren. So steigt man nicht aus einem Auto, höchstens vom Rad. Aber nein, nicht in den Haaren, die trägt er skinheadkurz, der ganze Mann scheint wie von Aufwinden umweht. Die eckige schwarze Brille gibt seinen gelösten Zügen eine fast intellektuelle Strenge. Ein Gesicht wie eine politische Ansage: Offenheit, aber klare Linien!
Und 629 Punkte.
Mit einem 629 Punkte-Programm ist Wilke angetreten. 228 sind schon geschafft oder in Arbeit. Bleiben noch genau 401 Punkte. Der Punkt „Ausweisung krimineller Flüchtlinge“ war nirgends vorgesehen, er ist jetzt gewissermaßen die 630 geworden. Die Eisenhüttenstädter sind Punkt 312. René Wilke muss jetzt mit ihnen über den gemeinsamen Flugplatz reden. Das Problem bei Punkt 312 ist, dass die Frankfurter den „Verkehrslandeplatz“ nicht wirklich brauchen, aber mit finanzieren. Kann sich eine Stadt mit eingestürzter Ratssaaldecke und allgemeinem Kleistproblem nicht wirklich leisten. Also streichen, Wilke hat es versprochen. Aber wenn Frankfurt das macht, hebt auch Eisenhüttenstadt nicht mehr ab.
Die Gabe des Chamäleons?
Ein Tag mit dem Oberbürgermeister, das war die Verabredung, doch die Eisenhüttenstädter sind auf Zeugen nicht gefasst. René Wilke ist ein Mann, der selbst die Absage einer Zusage auf so gewinnende Weise moderieren kann, dass man fast glaubt, freiwillig draußen zu bleiben. Die Gabe des Chamäleons?
Auf dem großen Platz vorm Rathaus hat es schon eine Messerstecherei gegeben. Jetzt steht dort ganz allein ein avantgardistisches Rennrad, rot wie die Fahne der Arbeiterklasse und die Weltrevolution. In Berlin könnte man das nicht einfach irgendwo anlehnen, doch es wäre nicht klug, in Frankfurt das Rad des Frankfurter Oberbürgermeisters zu klauen.
An dem Tag, als in Chemnitz Daniel H. auf offener Straße erstochen wurde, überfiel eine arabische Straßengang den Club Frosch, nahe dem Fluss, dort, wo Frankfurt schon fast zu Ende ist. Sie kamen mit Messern und Eisenstangen. Sie riefen: „Wir sind Araber! Wir stechen euch alle ab!“ und „Allahu akbar“. So berichten es Zeugen. In Panik und Todesangst krochen die Neunziger-Jahre-Party-Gäste unter parkende Autos. Die im Club Schutz suchten, hörten Fensterglas splittern. Als die jungen Syrer, Pakistaner und Palästinenser die Polizeisirene vernahmen, ließen sie ab. Vielleicht dauerte das alles nur fünf Minuten, den Beteiligten kam es vor wie eine Ewigkeit. Es gab Verletzte, keine Toten. Manchen scheint das wie ein Wunder, die Messer zielten auf den Hals.
Wilke: „Das is' doch für’n Arsch!“
Am nächsten Morgen war René Wilke im Frosch. Und dann verfasste er eine Presseerklärung: „Wir verurteilen auf’s Schärfste ...“ Dieser Ton. Doch dann sei ihm die Hand von der Tastatur gefallen, sagt Wilke später. Und erdachte einen Satz, der so in keine Presseerklärung passt: „Das is' doch für’n Arsch!“
Er brauchte an den Tagen danach nur nach Chemnitz zu schauen, um zu wissen, was passiert wäre, hätte es Tote gegeben. Die rechte Szene von Frankfurt, der Schatten über seiner Jugend, über seiner Stadt, wäre wieder da und Frankfurt nur noch ein Schlagwort im Krieg der Geister. Das wundersame Lächeln, das die Stadt zuletzt umfing, es wäre endgültig verloren. Und ein Gedanke wurde immer stärker in ihm: „Ich will nicht eines Tages sagen müssen, es habe eine Möglichkeit gegeben, einen Toten zu verhindern.“
Ausweisung von sieben Flüchtlingen
Aber welche? Kollektives Nachdenken im Rathaus. Bis einer Paragraf 53des Aufenthaltsgesetzes vorlas: „Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen“, wenn nach sorgfältiger Prüfung des Einzelfalls das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Wilke wusste, was er tun würde.
Er bekam grünes Licht aus dem Potsdamer Innenministerium. Gegen sieben Flüchtlinge wurde das Ausweisungsverfahren eingeleitet. 7 von fast 1400, die in Frankfurt leben.
Als die Eisenhüttenstädter das Büro des Bürgermeisters verlassen, sehen sie latent zufrieden aus. Wilke auch. Dann schaut er auf die Uhr. Er müsste schon längst bei den Akademikern seiner Partei sein, die tagen gerade in Frankfurt. Auch sie sind in seinem 629-Punkte-Plan nirgends vorgesehen und doch wäre es ein Affront, da zu fehlen. Er wird ihnen viel erklären müssen, vor allem Punkt 630. Wilke seufzt lautlos. Er ist jetzt ein halbes Jahr im Amt, und es kommt ihm vor wie zwei Jahre.
Die meisten Menschen scheinen kein Problem damit zu haben, dass der Tag nur 24 Stunden hat. Er hält diese Zeitrechnung für vollkommen unrealistisch. Aber was ist denn Realismus? Tatsachengläubigkeit etwa? Soll er etwa an die eingestürzte Decke seines Ratssaals glauben? Oder an Heinrich von Kleist?
Frankfurt hat ein Drittel seiner Einwohner verloren
Wie Chemnitz hat Frankfurt Oder seit der Wende mehr als ein Drittel seiner Einwohner verloren. Als dann die Flüchtlinge kamen, begriffen manche das als Chance. Erstmals ein Einwohner-Plus! Den Prognosen zufolge sollten die Frankfurter 2018 schon 10 000 weniger sein. Inzwischen kommen auch Berliner. Deutsch-polnisch ist Frankfurt ohnehin schon, nichts wird hier geplant, ohne an Slubice zu denken, die frühere Dammvorstadt am anderen Ufer des Flusses. Eigentlich wohnen die Frankfurter in Slubfurt. Die Stadt hat nicht genug Geld für den Rückbau der leeren Wohnblöcke, da konnten die muslimischen Ankömmlinge gleich in Wohnungen statt in Heimen leben. „Im Grunde sind wir eine Musterstadt der Integration“, erklärt Wilke, während er vom Rathaus quer durch die Stadt zur Volkshochschule läuft, wo die Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung längst begonnen hat. Die Frankfurter grüßen ihren vorübereilenden Bürgermeister wie einen guten Nachbarn – und als wollten sie von seinem Gesicht ablesen: Geht es noch aufwärts mit uns?
Wilke hat einen leicht vornüberfallenden Gang, als trete er immer in die Pedale. Diese Art der Fortbewegung ist ihm doch die natürlichere. Er ist mal in zwei Tagen von Görlitz bis an die Ostsee gefahren, immer auf dem Oder-Deich entlang. Er weiß, dass er seinen Genossen von der Luxemburg-Stiftung jetzt gleich erklären muss, warum ausgerechnet der erste linke Bürgermeister weit und breit Law-and-Order-Politik betreibt.
Ein Bekenntnis
„René ist da!“, begrüßen die linken Akademiker ihr früheres Vorstandsmitglied und klopfen auf die Tische. Dieser wiederum heißt sie willkommen „in der schönsten Stadt, die man sich vorstellen kann“. Es liegt kein Gran Ironie darin. Aber auch nichts von der Glätte eines Werbespruchs. Es ist ein Bekenntnis.
Wilke nimmt seine Designer-Schreibmappe aus dem Designer-Rucksack. Mappe und Rucksack verraten einen Menschen, dem es absolut nicht egal ist, wie die Gegenstände aussehen, mit denen er täglich Umgang hat. Vom Typus her könnte er genauso gut zu der heimatflüchtigen „globalisierten Klasse“ von jungen Weltbürgern zählen, von der Alexander Gauland unlängst in einem FAZ-Text sprach. Worauf man ihm vorwarf, eine Hitler-Rede vom 10. November 1933 vor Siemens-Arbeitern in Berlin abgeschrieben zu haben. Seitdem glauben manche, die Gegenüberstellung der ungebremst flexiblen, besser ausgebildeten, polyglotten Weggeher und der viel kümmerlicher lebenden Da-Bleiber, für die „Heimat noch ein Wert an sich ist“, sei per se faschistoid.
Da bleibt einer, der müsste längst weg sein
Für Wilke ist Frankfurt ein Wert an sich. Heimat. Nur drei Absolventen seines Abiturjahrgangs sind in der Stadt geblieben. Wahrscheinlich hat auch das zu seinem Erfolg beigetragen: Da bleibt einer, der müsste längst weg sein. Der hätte es überall schaffen können, aber er ist hier. Wie seltsam. Wilke hat eine schöne Art, den linken Akademikern seine deutsch-polnische Stadt zu erklären, die nun auch ein wenig arabisch geworden ist. Das sei Bereicherung und Belastung zugleich.
Das Chamäleon kann nicht nur seine Farbe spielend jeder neuen Umgebung anpassen, es kann auch mit seiner Zunge Beute fangen und seine Augen einzeln in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Verliert, wer das nicht kann, nicht leicht den Überblick? Womöglich hat das Chamäleon den völlig falschen Ruf.
Wilke sagt, dass der Überfall auf den Frosch nur das vorerst letzte Glied in einer ganzen Reihe war, die seine Amtszeit seit Mai begleitet. Am bedenklichsten war wohl die Situation am Lennépark, als Ordnungsamt und Polizei eine eskalierende Situation nicht mehr kontrollieren konnten und sich zurückziehen mussten. Der 34-Jährige kündigt an, nun etwas „philosophisch hoch Problematisches“ zu sagen. Gespannt schauen die Genossen. Um zu verstehen, was der Frankfurter Oberbürgermeister als so schwierig empfindet, muss man sich bewusst machen, dass zum weltanschaulichen Grundbekenntnis seiner Partei die Weigerung gehört, auch nur einen Menschen grundsätzlich verloren zu geben.
Als Kind sah er Menschen auf der Straße sterben
Darum ist Wilke schon mit 16 Jahren in die PDS eingetreten, zur größten Verblüffung seiner Eltern. Mensch, René, bist du sicher? Etwas Uncooleres war kaum vorstellbar, und in den Augen der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft war man mit diesem Parteibuch ein Paria. Aber als René Wilke Kind war, hatte er Menschen auf offener Straße sterben sehen. Und Passanten, die achtlos an ihnen vorübergingen. „Ich sah sie erfrieren, ich sah sie verhungern. Und niemand beachtete sie. So etwas prägt“, sagt der Frankfurter Oberbürgermeister am Nachmittag bei einem Gang an der Oder entlang.
Wilkes Mutter ist Russin, sein Vater bekam 1990 ein berufliches Angebot aus Moskau. „Diese Umbruchsjahre in Russland waren unvorstellbar hart.“ Mit elf Jahren war er zurück in Frankfurt. In allen traditionellen Gesellschaften gilt der Krieger als Inbegriff männlicher Tugend, so wie Mohammed selbst Krieger war. Wie sollen junge Männer aus streng hierarchischen Kulturen, die seit frühester Jugend nichts kennen als den Krieg, plötzlich in beinahe pathologisch friedfertigen Gemeinschaften mit kaum sichtbaren Hierarchien klarkommen? Sie müssen, glaubt Wilke. Wer die Abwesenheit von Krieg nicht als Vorzug begreift, hat hier nichts verloren.
"Ich gebe meine Stadt nicht verloren"
Keinen Menschen verloren geben? Im Zweifel macht er genau das. Denn ich gebe meine Stadt nicht verloren!, sagt er. Vom Chamäleon lernen: Nur Ideologen schauen mit beiden Augen unverwandt in dieselbe Richtung. Man könnte auch von Güterabwägung sprechen: „Die Gefährdung der öffentlichen Ordnung überwiegt das Bleibeinteresse“, erklärt der Oberbürgermeister bündig. Mit berufsmäßiger Skepsis und doch beeindruckt schauen die Linksintellektuellen. Und wo sind diese Leute jetzt?, fragt einer mit „Fck AfD“-Aufkleber auf dem Notebook. „Die meisten sitzen in Untersuchungshaft, andere sind schon wieder frei“, erklärt Wilke und fügt hinzu: „Sie sind mitten in der Stadt.“ Und doch ist es ruhig geworden in Frankfurt, seit die Anführer fehlen.
Politiker rechnen damit, dass es in Syrien bald Gebiete geben könnte, die als sicher genug gelten, um Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken. Sieben von 1400. Und Wilke versichert noch einmal: „Wenn ich die irgendwie ausweisen kann, dann mache ich das. Ich meine das ganz ernst.“ Niemand widerspricht.
Zwei Ausweisungsverfahren stehen unmittelbar vor dem Abschluss. Die Hürden sind hoch, „und das ist auch gut so“, sagt Wilke. Trotzdem spricht selbst die Ausländerbehörde von aussichtsreichen Verfahren. Nun sollen die Betroffenen selbst gehört werden.
Über die Oderbrücke nach Slubice
Eine halbe Stunde später läuft René Wilke über die Oderbrücke nach Slubice, zur Eröffnung eines polnisch-deutschen Kulturfestivals. Sein Vorgänger hat es nie besucht. Slubfurt. Wilke hat nichts dagegen. Er ist spät dran, und doch bleibt er mitten auf der Brücke stehen: „Ist das nicht schön, dieses Licht?“ Und er fotografiert seine Stadt mit Fluss.
Auf der polnischen Seite begegnet er als Erstes einem Flaschensammler, der nicht so aussieht, als arbeite er schon lange in diesem Beruf. Der Pole grüßt den jungen deutschen Oberbürgermeister, wie man eine Hoffnung willkommen heißt.
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