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Der übergreifende Auftrag, demokratiebildend zu wirken, müsse Lehrern und Ausbildern immer wieder bewusst gemacht werden, so Schubarth. Auch das soziale Lernen spiele dabei eine wichtige Rolle.
© Karla Fritze/UP

Interview | Wilfried Schubarth: Bildungsexperte: "Die Demokratie steht auf dem Spiel"

Der Potsdamer Bildungsexperte Wilfried Schubarth über Demokratiedefizite bei Schülern, die Anfälligkeit für Rechtspopulismus und die Rolle der Lehrer.

Herr Schubarth, ich möchte mit Ihnen über die Ursachen von Demokratiedefiziten sprechen. Der Mensch wird sicherlich nicht als Demokrat geboren?
Nein, das ist ein Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation, dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, Elternhaus, Schule, Peer-Group, die politische Kultur und heutzutage auch die Sozialen Medien. Studien besagen, dass politische Information heutzutage stark über das Internet erfolgt, weniger über die Schulen. Da sind wir schon beim Problem.

Und zwar?
Dass politisches Wissen und Partizipationsbereitschaft bei den Schülern im internationalen Vergleich bei uns in Deutschland unterdurchschnittlich ist. Auch ermuntern Lehrkräfte die Schüler zu selten, ihre Meinung im Unterricht zu äußern. Dieser Eindruck hat sich in jüngster Zeit verstärkt. Das hängt sicher auch mit der Verunsicherung zusammen, die das AfD-Meldeportal an den Schulen verursacht hat.

Was muss geschehen?
Wir müssen mehr machen für demokratische Bildung und Aufklärung. Vor allem weil die Wahlerfolge der AfD besonders bei den Jungwählern ins Auge fallen: Es ist ein Skandal, dass dies nicht in der Schule und Politik zum Thema gemacht wurde. Wie kann es sein, dass Schüler, die zehn bis zwölf Jahre die Schule durchlaufen haben, immer anfälliger werden für rechtspopulistische Parolen? Hier muss nun genau hingeschaut werden, was in der Schule falsch läuft, was der Auftrag der Schule eigentlich ist. Wir brauchen hier ein Umdenken. Wir müssen schauen, wie wir in der Schule bei allen eine demokratische Grundhaltung erreichen können. In der Kultusministerkonferenz gab es 2018 zwei Beschlüsse, Demokratie als Ziel und Gegenstand in der Schule und die Menschenrechtsbildung als Aufgabe von Schule zu fördern. Das Problem ist also bereits erkannt.

Aber?
Es kommt nicht so richtig bei den Schulen an. Es muss mehr gemacht werden. Den Aufbau unsers politischen Systems abzufragen reicht nicht aus. Es ist ein Schwachpunkt, dass Demokratie häufig auf Politikvermittlung reduziert wird. Politische Bildung fristet insgesamt leider ein Schattendasein; nur zwei Prozent der Lernzeit an den Schulen wird für politische Bildung genutzt, wobei es Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt.

Ihre Lösung?
Der politische Bildungsauftrag sollte von den Lehrkräften in allen Fächern erkannt werden, als übergreifendes Fächerprinzip. Als Lehrkraft muss man sich als politischer Bildner verstehen – und nicht nur als Fachvermittler. Es gibt einen übergreifenden Auftrag, demokratiebildend zu wirken. Das müssen sich Lehrer und ihren Ausbilder immer wieder bewusst machen. Das geht sonst im Alltag unter.

Wie haben Ihre Studierenden die eigene Schulzeit erlebt?
Sie berichten, dass es an den Grundschulen vom Klassenrat bis zur Konfliktschlichtung noch einige Aspekte der Demokratiebildung gibt. Später aber spiele das kaum noch eine Rolle, dann gehe es nur noch um Noten. Es müsste aber vielmehr darum gehen, in allen Fächern demokratische Werte zu vermitteln und eben, soweit das möglich ist, Demokratie auch in der Schule zu leben. Das muss über die Entscheidung, wohin die Klassenfahrt geht, hinausgehen. Es muss auch darum gehen, wie man miteinander umgehen möchte, welche Normen und Regeln es gibt und warum Minderheiten nicht ausgegrenzt werden dürfen.

Wilfried Schubarth (64) ist Professur für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam. Unter anderem ist er Experte für das Thema „Gewalt und Mobbing“ an Schulen.
Wilfried Schubarth (64) ist Professur für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam. Unter anderem ist er Experte für das Thema „Gewalt und Mobbing“ an Schulen.
© F.v. Erichsen, dpa

Wie begleiten Sie die Entwicklung an der Universität?
Zum einen bieten wir Seminare zum Umgang mit Gewalt, Mobbing und Rechtsextremismus an, zum anderen haben wir ein Forschungsprojekt zu Hate Speech, in dem wir schauen, wie Schulen damit umgehen. Beim Thema Mobbing haben wir seit Jahren in Projekten untersucht, was Lehrkräfte wahrnehmen, in welchem Maße sie wegschauen, wie sie helfen können. Das alles hat ja mit demokratischen Werten wie Achtung und Anerkennung der Menschenwürde zu tun. Ich würde das Thema an den Schulen ganz breit verteilt sehen – nicht nur auf Politikkunde beschränkt.

Wie lässt sich selbstbestimmtes Mitwirken und demokratisches Handeln im Unterricht vermitteln?
Es gibt ausgezeichnete Schulen, die es uns vormachen. Etwa eine Brennpunktschule in Bremerhaven, die einen Kinderrat hat, der die Probleme aufnimmt und nach Lösungen sucht. Was muss anders werden, welche Bücher wollen wir an der Schule haben, wie soll das Schulessen aussehen – daran können die Schüler mitwirken, es geht um die Einübung ganz banaler, einfacher demokratischer Prozesse: Kommunikationsregeln etwa, wie spricht man respektvoll mit anderen oder wie findet man Kompromisse. Und man kann noch mehr machen: beispielsweise politisches Handeln und Geschichtsbewusstsein fördern, Fragen zu Antisemitismus und Ausgrenzung klären oder Pro- und Kontra-Diskussionen veranstalten – es geht um praktische Tätigkeiten und soziales Lernen.

Was macht das soziale Lernen so wichtig?
Das hat auch eine demokratische Komponente: Dass man miteinander umgeht, Respekt einfordert und auch bei Streitfällen tolerant reagiert. Die Frage ist, wie man Streitkultur an der Schule einüben kann. Es geht darum, den demokratischen Muskel der Schüler im Unterricht zu trainieren. Beispielsweise auch mit der Dilemmata-Methode in der Werteerziehung: dabei werden Argumente für die jeweiligen Positionen gesammelt und dann die Perspektive gewechselt, um zu erkennen, welche Argumente der anderen Seite wichtig sind. Es ist offenbar verloren gegangen, dem Gegenüber zuzuhören. Dessen Argumente zählen nicht mehr, sondern nur noch die eigene Ideologie.

Hat denn die politische Bildung an den Schulen tatsächlich nachgelassen?
Das Fach war immer schon randständig, durch Umstrukturierungen geriet es in neue Zwänge. Ich denke auch, dass die Pisa-Ergebnisse uns hier keinen guten Dienst erwiesen haben, durch die Dominanz der Messungen in den Basisfächern Deutsch, Mathe, Englisch sind die anderen Fächer zurückgedrängt worden, auch die politische Bildung. Die müsste nun auch auf den Prüfstand, es gibt bereits den Ruf nach einem Moral-Pisa für die Schulen. Es gibt zwar Vergleichsstudien zu politischer Orientierungen und Partizipation, die werden aber nicht wahrgenommen, weil anderes – aus wirtschaftlichen oder sonstigen Interessen – wichtiger erscheint.

Übungen zu Entscheidungsprozessen, sozialem Umgang und Respekt gibt es an den Schulen doch bereits?
Aber der rote Faden fehlt: wie Demokratiebildung als Leitziel gefördert werden kann. Damit könnte man die Dinge besser einordnen und verstehen. Dazu braucht es ein Leitbild, eine Gesamtstrategie. Insofern ist sehr zu begrüßen, dass die neue Koalitionsregierung die politische Bildung stärken will.

Müsste man damit nicht bereits im Studium beginnen?
Demokratiebildung kommt in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz nicht an erster Stelle. Es ist ähnlich wie in der Schule auch an den Unis nachrangig. Wenn die angehenden Lehrkräfte das aber nicht lernen und wertschätzen, wird es nicht weiter in die Schule hineingetragen. Da gibt es einen großen Bedarf an den Hochschulen, im Referendariat und in der Fortbildung. Vielen zukünftigen Lehrern ist gar nicht klar, dass sie auch den Auftrag haben, zu demokratischen Werten zu erziehen.

Da kommt einiges auf die Lehramtsstudierenden zu.
Tatsächlich ist die Lehrerbildung bereits überfrachtet. Immer wieder gibt es neue Forderungen, von Inklusion über Sprachbildung, Medienbildung bis hin zu Antisemitismus und Rassismus-Prävention. Das geht sicher nicht additiv, das ist bereits ausgereizt. In der Bologna-Struktur ist das zweite Hauptziel nach der Berufsfähigkeit die Citizenship-Education, also die staatsbürgerliche Persönlichkeit an der Hochschule zu erziehen. Das ist in der ganzen Diskussion offensichtlich weggerutscht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Studierenden immer jünger und verschiedener werden. Die Passung zwischen den individuellen Voraussetzungen und den Erwartungen der Hochschule wird schwieriger, der Integrationsbedarf steigt. Dazu gehört auch, mehr demokratische Lerngelegenheiten an Hochschulen zu schaffen. Der Präsident der Universität Potsdam setzt sich daher stark für eine demokratieaktive Universität ein. Auch eine Professur für Demokratiebildung wird eingerichtet. Gerade in der Lehrerbildung ist es aber schwer, neue Themen zu platzieren. Daher müssen wir versuchen, die Dinge miteinander zu verbinden, etwa Gewaltprävention mit Demokratiebildung und Schulentwicklung. Wir müssen die Dinge im Zusammenhang sehen.

An welchen Punkten könnte man dabei ansetzen?

Einer unserer Studenten hat ein Programm entwickelt, eine Art wahlweises Praktikum in demokratischen Handlungsfeldern der Demokratiepädagogik. Die Studierenden machen dabei dann auch an den Schulen Angebote für die Lehrkräfte oder geben Projekttage zur Demokratiebildung. So etwas müsste in den Curricula integriert werden. Das wäre ein konkreter Vorschlag.

Also nicht nur, wenn in Gemeinschaftskunde gerade Demokratie auf dem Lehrplan steht, sondern auch für Mathe- und Kunstlehrer?
Für alle Lehrkräfte. Gewaltprävention und Demokratiebildung trifft sich beim Thema friedlicher, respektvoller Umgang. Das sind die gleichen Werte, die man durch sein Vorbild und das Handeln in der Klasse weitergeben muss. In einer Studie zum Thema Mobbing hatten wir herausgefunden, dass der Klassenlehrer dabei eine prädestinierte Position einnimmt, weil er die Regeln in der Klasse bestimmt und die Bezugsperson im Verhalten ist. Er muss auch als Demokrat auftreten.

Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei und gibt sich auch als solche. Dass einige in der Partei vielleicht andere Ziele haben, muss man als Jungwähler erst einmal durchschauen können.
Das sollte man beispielsweise in der Klasse offen diskutieren, auch ob man bei Wahlen Vertreter der Partei einladen soll. Uns ist erst einmal wichtig, dass die Diskussion überhaupt geführt wird. Da muss man dann an Beispielen aufzeigen, an welchen Stellen die AfD demokratische Werte und Menschenrechte verletzt. Gerade im Osten ist die Polarisierung zwischen AfD und Grünen sehr groß, damit muss man umgehen, muss zu Sachthemen ins Gespräch kommen. Eine auf Fakten basierende Meinung zu bilden, ist Aufgabe der Schule: Nicht nur Wissen abzufragen, sondern auch Urteilsfähigkeit zu erlangen, eine eigene Meinung zu vertreten. Das geht nur im Training und Meinungsstreit. Aufklärung und Wissen bleiben nach wie vor die Grundlage – und eben nicht nur die Informationen aus dem Internet.

Kann man auf diesem Weg auch das auffangen, was die Schüler nicht von zuhause mitbringen?
Das wäre möglich, funktioniert aber offensichtlich nicht gut. Es geht auch darum, Medienkompetenz zu entwickeln, um Informationen einordnen und nachvollziehen zu können, um sich so eine Meinung bilden zu können. Das ist heute offenbar verkürzt, wenn man nur noch über Likes zustimmt und sich nicht mehr die Mühe macht, über Nachdenken zu einer eigenen Meinung zu kommen. Gegen diese Tendenz muss Schule heute wirken. Kritische Auseinandersetzung mit Information und eigene Meinungsbildung aktiv zu fördern und soziale Kompetenzen zu trainieren ist eine Querschnittsaufgabe für alle Fächer. Die Prioritätenfrage und wie das im Studium verankert wird, müssen die zuständigen Ministerien und Institutionen klären. Das müssen wir nun dringend angehen, denn heute steht die Demokratie auf dem Spiel.

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