Putschversuch in der Türkei: Zwischen zwei Dämonen hat Europa nur eine Wahl
Deutschland und die westlichen Partner können keine Politik für eine Türkei nach ihrem Wunsch machen. Gefragt ist Realpolitik. Ein Kommentar.
Die alten Dämonen sind nicht tot, weder der Dämon der Militärintervention noch der Dämon der Islamisierung. Das ist der Hintergrund, warum die Reaktionen der westlichen Partner aufs Erste zwar eindeutig klingen, aber eine zweideutige Botschaft enthalten, wenn man zwischen den Zeilen liest.
Selbstverständlich verurteilen Deutsche, Amerikaner und andere den Putsch gegen Präsident Erdogan. Er ist demokratisch gewählt. Nur garantiert diese Legitimation leider nicht, dass der Gewählte die Regeln von Rechtsstaat und Demokratie achtet. Nach 13 Jahren an der Macht entwickelt sich Erdogan zunehmend zum autoritären Herrscher. Wenn Außenminister Steinmeier „alle Versuche, die demokratische Grundordnung der Türkei mit Gewalt zu verändern, auf das Schärfste verurteilt“, darf sich neben den Putschisten Erdogan mitgemeint fühlen.
Die Türkei rutscht in eine Zwischenlage zurück, in der sich die Absicht, die Demokraten zu unterstützen, nicht so leicht in praktische Politik umsetzen lässt.
Eine hoffnungsvolle Zwischenära geht zu Ende
Klar ist, was wir ablehnen: ein Militärregime. Einen islamistischen Staat. Aber auch einen autoritären Führer, der Proteste am Gezipark und anderswo unterdrückt; der gewählten Abgeordneten, weil sie Kurden sind und die Interessen ihrer Wähler vertreten, die Mandate aberkennen möchte; und der offenbar den Putsch als Vorwand nutzt, um den Griff nach der Alleinherrschaft voranzutreiben, Todesstrafe eingeschlossen.
Eine hoffnungsvolle Zwischenära geht zu Ende. Drei Mal zuvor hatte das Militär seit 1960 geputscht, stets mit der Begründung, die säkulare Verfassung zu verteidigen. 1997 zwangen die Generäle den ersten islamistischen Regierungschef Necmettin Erbakan zum Rücktritt.
Dann geschah überraschend Positives. Seine Nachfolger in der Islam-Bewegung betrachteten eine Europäisierung nicht als zweite kulturelle Bedrohung neben dem aufs Militär gestützten Säkularismus. Sie betrieben die Öffnung nach Westen in der Erkenntnis, dass die in Europa garantierten Grundfreiheiten die von ihnen angestrebte Liberalisierung der Religionsausübung mit sich bringen.
Moderate Islamisierung und Europäisierung gingen für eine gewisse Zeit Hand in Hand. In der dreifachen Liberalisierung von Politik, Wirtschaft und Religion blühte die Türkei auf. Deshalb war es damals richtig, den EU-Beitritt ernsthaft zu verfolgen. Die Perspektive beschleunigte den Reformwillen. Nur leider nicht auf Dauer.
Die Realpolitik entfernt sich von Demokratie und Rechtsstaat
Seither ist gewiss auch der Aufnahmewille der EU erlahmt. Sie hat die Folgen der Osterweiterung noch nicht verkraftet. Den größeren Anteil an der Entfremdung hat Erdogan. Er will das europäische Modell nicht komplett, inklusive der Toleranz gegenüber Andersdenkenden von Politik bis zur sexuellen Orientierung. Freiheit will er nur für die Türken, die fühlen und denken wie er.
Deutschland und die westlichen Partner können keine Politik für eine Türkei nach ihrem Wunsch machen. Sie müssen Realpolitik mit der existierenden Türkei machen. Die entfernt sich von Demokratie und Rechtsstaat. Sie ist aber Nato-Verbündeter. Gastland deutscher Soldaten. Ein Partner in der Flüchtlingskrise. Millionen Menschen, die in Deutschland leben, haben dort Familie. Realpolitik heißt: die Defizite offen ansprechen und zugleich darauf hinarbeiten, dass irgendwann eine neue Phase der Öffnung nach Europa kommt – wenn die Bürger der Türkei Erdogan überwunden haben.