Kongo: Zwischen Hysterie und Alltag
Goma im Herzen Kongos ist eine Stadt in Angst. Nachts fallen Schüsse, am Tag machen Gerüchte über geplante Rebellenangriffe die Runde.
Goma – „Krieg also“, denke ich, und radle zur Arbeit, vorbei an einem weiß lackierten Panzer mit der Aufschrift UN. Die Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen bewachen die Universität. Sie schauen ernst, halten die Maschinengewehre im Anschlag – und sie hören dabei leise Radio, fröhliche, kongolesische Rhythmen. Ein Panzer, aus dem Musik klingt? Absurd.
Die Millionenstadt Goma pulsiert am Rande der Schizophrenie, weil im Ostkongo eine neue Rebellion ausgebrochen ist. Ein paar Tage lang geht das Gerücht, der meuternde Armeegeneral Bosco Ntaganda werde Goma stürmen. „Der Krieg kommt“, behaupten manche in der Stadt. Einige Entwicklungshelfer fliehen sofort über die Grenze ins nahe Ruanda. Andere bleiben. Ntaganda wird seit 2006 vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gesucht. Als die kongolesische Regierung im April andeutete, der frühere Kriegsherr könne vielleicht doch ins Gefängnis wandern, gründeten seine Anhänger den Kampfverband „Mouvement 23“ (M23). Seither schwankt Goma zwischen Hysterie und Alltag.
Es ist schon Nacht, als das Handy klingelt. Eine Arbeitskollegin ruft an: „Hörst du die Schüsse? Es ist direkt vor meiner Haustür. Weißt du, was los ist?“ Die Salven vernehme ich, aber ich habe keine Ahnung, was passiert. „Was machst du jetzt?” frage ich zurück. „Ich schaue Fernsehen, heute ist zur Abwechslung mal Strom da”, antwortet sie. Immerhin bleibt Goma an diesem Abend die M23 erspart. Es sind nur ein paar Banditen, die um sich schießen, wie ich später erfahre. Sie wollen ihre Kumpane aus dem Gefängnis befreien. Geschossen wird in Goma häufiger, mal feuern Wächter auf Einbrecher, mal die Polizei auf Demonstranten.
Am nächsten Morgen radle ich zum Markt. Außer Tomaten bieten die Bäuerinnen Gurken und Karotten feil. Ein Glückstag, oft gibt es nur Tomaten und Sombe, ein Gemüse, das wie Spinat schmeckt. Die Bauersfrauen grüßen von Weitem. Sie tragen bunte Kleider und haben beste Laune. Manchmal treffe ich auf dem Markt ehemalige Patientinnen von Heal Afrika. Die kongolesische Hilfsorganisation, für die ich arbeite, betreut im Krankenhaus in Goma und in den Krankenstationen auf dem Land jedes Jahr mehr als 10 000 vergewaltigte Frauen. Was sie erzählen, jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Jenes Mädchen etwa, 15 Jahre alt, wollte auf dem Feld Kartoffeln ernten. Drei bewaffnete Banditen haben sie über mehrere Stunden misshandelt. Ihren Unterleib haben sie derart zerstört, dass sie Dutzende Operationen über sich ergehen lassen muss. Ihr leerer Blick verfolgt mich, wenn ich an die Menschen auf dem Land denke, wo jetzt der neue Krieg wütet.
Rassisten ermorden selbst Babys jener Ethnien, die sie als Feinde betrachten.
Goma ist ruhig im Vergleich zum Umland. Dort fallen Bomben auf Dörfer, Zivilisten fliehen, Jugendliche verstecken sich im Wald vor den Schergen, die sie zum Kämpfen zwingen wollen. Rassisten ermorden selbst Babys jener Ethnien, die sie als Feinde betrachten. Frauen und Kinder rennen um ihr Leben, wenn Plünderer und Vergewaltiger kommen. Verletzte und Kranke sterben, weil Banditen die Medikamente aus den Krankenstationen gestohlen haben. Seit vielen Jahren drangsalieren Verbrecher die Bevölkerung im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Aber das Leben in der Region geht bisweilen überraschend banal weiter.
Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Handy. Wer in Goma ein bisschen Geld hat, kauft mindestens zwei oder drei, reiht sie gerne auf dem Tisch auf, sichtbar für alle. Eines Morgens finde ich ein Telefon auf der Piste. Ich mache den Besitzer ausfindig. Als ich es zurückgebe, gerät er aus dem Häuschen. Nicht nur, dass er sein Telefon wieder hat. Nein, die Weiße mit dem Fahrrad hat sein Telefon gefunden! Auf der Stelle ruft er seine Freunde an und schreit die Botschaft in den Apparat. „Unglaublich, unglaublich, stell dir vor, ja, ja, die Weiße mit dem Fahrrad hat es gefunden”, wiederholt er ein ums andere Mal. Es ist ein bisschen peinlich, aber als Radfahrerin in Goma falle ich auf, als liefe ich nackt durch die Stadt. Weiße Menschen bezwingen die Wege Gomas in der Regel mit dem Geländeauto.Aber immerhin gibt es in Goma so etwas wie Straßen. Als wir Josefine besuchen wollen in einem Bergdorf, müssen wir ein paar Kilometer laufen. Zu ihrer Strohhütte auf dem Hügel führt nur ein Trampelpfad. Meine wohlgenährte Kollegin keucht: „Renne doch nicht so. War echt eine Schnapsidee, hierhinzukommen.” War es nicht. Josefine kann es kaum fassen, dass sie nun in einem Video „mitspielt“. Ihre Nachbarn laufen zusammen und reißen mir beinahe den Computer aus der Hand, um den Streifen zu verfolgen. Die Gemeindearbeiter von Heal Africa haben der Witwe zu ihrem Erbe verholfen, als die Familie ihres verstorbenen Mannes die Frau um ein Feld betrügen wollte. Meine Kollegen aus der Pressestelle haben über das gewaltfreie Ende des Erbstreits ein Video gedreht und es auf die Facebook-Seite von Heal Africa gestellt.
Wie aber erklärt man der alten Frau aus den Bergen, was Facebook ist? Ich versuche es mit einer „Dorfversammlung, an der Menschen aus aller Welt teilnehmen“. Und ich erzähle, dass „wir bei solch einem Treffen den Film über Dich gezeigt haben“. Josefine schaut mich irritiert an. Aber die Bäuerin weiß nun, dass meine Freunde in Deutschland sie kennen. Darauf ist sie stolz.
Auch wir kehren einigermaßen zufrieden ins Tal zurück. Zu unseren Füßen plätschert der tiefblaue Kivusee, Bananenhaine bedecken die Hügel, darüber leuchtet das Abendrot. Unbeschreiblich, denke ich. Welch ein Paradies für Touristen könnte das sein. Aber es ist zu gefährlich, um hier zu übernachten. Hinter dem Hügel lauern Rebellen. Sie agieren skrupellos und unberechenbar, weil der Kommandant ihnen erzählt, dass sie unverwundbar seien. Dank Magie. Die Kämpfer glauben daran. Außerdem widerspricht ein Kongolese niemals seinem Chef. In der ehemaligen belgischen Kolonie steht die Hierarchie über allem, auch im zivilen Leben. Judith Raupp
Frauen und Kinder rennen um ihr Leben, wenn Vergewaltiger und Plünderer kommen. Kranke sterben, weil Banditen Medikamente aus den Kliniken stehlen.
Judith Raupp
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