Jugend in Europa: Zwischen Freiheit und Unsicherheit
An Frieden denken junge Leute heute kaum noch, wenn sie das Wort „Europa“ hören. Für sie bedeutet Europa Freiheit - aber eben auch Arbeitslosigkeit und Lohndumping, kurz: Krise und Stress.
Robert Opaterni verschränkt die Arme und mustert die beiden jungen Leute vorne an der Tafel. „Ihr redet das doch schön!“, sagt er. Nicht sehr laut, aber doch so laut, dass es alle verstehen. Gloria Amoruso runzelt kurz die Stirn. Dann lächelt sie. „Nein“, sagt sie, „so sind eben die Fakten.“ Es ist ein Freitagmittag Mitte Januar im Oberstufenzentrum in Berlin-Weißensee, in der Ausbildungsklasse „Fachkraft Küchen, Möbel, Umzug“ fällt heute der normale Unterricht aus. Stattdessen sitzen die 14 jungen Männer seit vier Stunden im „EU-Kompaktkurs“ und diskutieren. Gloria Amoruso und ihr Kollege Dominik Sonnleitner haben der Klasse gerade vorgerechnet, dass Deutschland an den Zinsen für Griechenland verdient und von der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien profitiert. Damit widersprechen sie so ziemlich allem, was die Schüler hier glauben.
Gloria und Dominik, sie sagen im Kurs alle Du zueinander, sind schon weit hinter ihren Zeitplan zurückgefallen: Eigentlich haben sie ein straffes Programm, es soll um die Grundwerte der EU gehen, die Geschichte, die Institutionen und schlussendlich auch um die Europawahl, die im Mai diesen Jahres ansteht. Es ist ein wichtiges Jahr für Europa, und das Image der Union bei der Jugend ist nicht besonders gut, das wissen auch die beiden „EU-Trainer“, die im Auftrag der Schwarzkopf-Stiftung „Junges Europa“ durch die Berliner Schulen ziehen. Die Themen sind überall andere. Während die Gymnasiasten in Zehlendorf die EU ziemlich toll finden und sich nur über die strikte Asylpolitik aufregen, wird in Neukölln vor allem der Beitritt der Türkei zur Union diskutiert, und hier in Weißensee ist die Stimmung richtig skeptisch. Schon in der Vorstellungsrunde wollen Robert und die anderen lieber reden als lernen, so sehr ärgern sie sich über die Themen in den Nachrichten. Die beiden Trainer am Lehrerpult und ihre Schüler sind fast gleich alt – alle Anfang bis Mitte 20 – doch ihre Ansichten könnten kaum unterschiedlicher sein.
Vor der Klasse stehen Dominik und Gloria, zwei studierte Europawissenschaftler, Robert und seine Kollegen dagegen sind im dritten Lehrjahr und arbeiten bei lokalen Umzugsunternehmen. Sie fürchten Billig-Konkurrenz aus dem Ausland: Dumpingpreise, Schwarzarbeit, Scheinselbstständigkeit – das wollen fast alle von ihnen bei anderen Unternehmen schon gesehen haben. Die „Wer betrügt, der fliegt“-Kampagne der CSU finden einige deshalb ziemlich gut.
Persönlich kennt in der Klasse niemanden einen Bulgaren oder Rumänen, zumindest ist keiner mit einem befreundet. Aber es gibt durchaus Mitschüler mit ausländischen Wurzeln, einer hat Eltern aus Kasachstan, ein zweiter aus Mosambique und ein dritter aus dem arabischen Raum – ziemlich schnell sind sich Robert und seine Kollegen deshalb mit den Trainern einig, dass nicht die Ausländer an sich das Problem sind. Eigentlich geht es um Arbeitsbedingungen, die überall in Europa gleich sein sollten, es aber nicht sind. Nachdem der erste Ärger raus ist, fällt den Schülern auch Positives zu Europa ein: Sie fahren gerne nach Polen zum Einkaufen, Mitschüler waren schon mit einem Auszubildendenaustausch in Irland. Und sie können Sachen im Internet bestellen ohne Zoll zu zahlen. Ein Europa mit festen Grenzkontrollen, mit Geldtauschen, das kennen sie zwar noch, aber nur als vage Kindheitserinnerungen.
Mit im Stuhlkreis sitzt auch Lehrer Eckhard Enzenbach. Er sagt: „Ich bin im Sommer mit dem Fahrrad am Soldatenfriedhof in Verdun vorbeigefahren. Das ist für mich Europa, ein Zeichen, dass so etwas nicht noch mal passieren darf.“ Ratlose Stille. Verdun? Irgendwann kichert einer verlegen. Aber keiner fragt: Was genau war da? Die Schlacht von 1916, Deutschland gegen Frankreich, so viele Tote, ohne dass etwas gewonnen worden wäre. Verdun wurde zu einem Mahnmal gegen den Krieg – getragen von einer gemeinsamen Erinnerung und der deutsch-französischen Aussöhnung.
So denkt Lehrer Enzenbach, 58 Jahre alt. Er und seine Generation und noch viel mehr die Älteren haben die EU als großes Friedensprojekt nach zwei brutalen Weltkriegen kennengelernt – die eigenen Eltern haben den Krieg selbst erlebt. Aber Frieden und Aussöhnung sind bei den jungen Erwachsenen kein Thema mehr. Europas kriegerische Vergangenheit ist etwas, das nur noch in Gedenktagen aufscheint, in diesem Jahr gleich doppelt.
Einer der Schüler sagt, dass Deutschland oder Frankreich einander sowieso nicht noch mal angreifen würden, „so bescheuert ist ja zum Glück heute keiner mehr.“ Das sei doch selbstverständlich. An Frieden denke er trotzdem nicht, wenn er an die EU denkt. Eher an Stress.
Es gibt viele Studien, die sich mit der Zukunft und den Wünschen genau dieser Generation beschäftigt haben, die heute zwischen 18 und 30 Jahren alt ist. Es ist die Generation, die das Wort „Euro“ assoziativ mit „-krise“ ergänzt. Eine der aufwendigsten Befragungen finanzierte im vergangenen Jahr der spanische Konzern Telefonica. Das Unternehmen wollte herausfinden, wie diese jungen Europäer – von den Autoren der Studie „Millennials“ getauft – ticken. In 12 000 Interviews in 27 Staaten wurden Träume, Ziele und Ängste abgefragt. Dabei kam heraus: Fast allen jungen Europäern ist Familie das Wichtigste im Leben, und „viel Geld verdienen“ kommt in der Rangordnung der Wünsche erst ziemlich weit hinten. Die materiell relativ sorgenfreien Deutschen beschäftigen sich mit Fragen wie „was mache ich mit meinem Leben“. Dagegen sorgen sich die jungen Menschen in anderen west- und südeuropäischen Staaten sehr viel stärker um ihre finanzielle Sicherheit. Weil in manchen Ländern jeder zweite von ihnen nach der Schule und Universität ohne Job dasteht, werden die jungen Spanier, Griechen, Portugiesen zu Krisen-Auswanderern. Sie kommen nach Deutschland, häufig auch nach Berlin.
Jung, arbeitslos und dann von der Freiheit schwärmen?
In einer ehemaligen Fabrikhalle im Wedding mit hohen weiß getünchten Wänden trainiert Maria. Sie kommt aus Spanien, Barcelona, hat ihre Heimat erst vor wenigen Wochen verlassen. Sie ist Tänzerin und hat Pädagogik studiert. Maria träumt davon, Tanzen in den Unterricht an spanischen Schulen zu integrieren. Bisher gibt es für so etwas in Spanien keine wirklichen Strukturen. Maria hat zu Hause zwar einer Gruppe alter Leute das Tanzen und Kindern das Lesen beigebracht, aber für diese Arbeit wurde sie nicht bezahlt. Dabei hat sie schon vor Jahren extra aufs Lehren umgesattelt, weil die Unterstützung für die Kunst so stark zusammengekürzt wurde, dass eine reine Tanzkarriere undenkbar schien. „Ich war schon vor der Krise viel in Europa unterwegs“, sagt Maria. Sie hat mit 18 in London an der Contemporary Dance School studiert. „Jetzt musste ich Spanien eben ein zweites Mal verlassen“, sagt sie, mit 28 Jahren. Maria will in ihrer Situation auch das Gute sehen, sie mag Berlin, ihr Freund lebt auch hier, sie will Deutsch lernen, ihr Englisch verbessern, sich etwas von der deutschen Organisiertheit abschauen – und viel davon mit zurücknehmen, wenn sie irgendwann wieder nach Spanien geht. Denn dass sie zurück will, da ist sie sich sicher. Sie weiß nur nicht, wann es dort wieder Arbeit geben wird. Manchmal, sagt sie, wache sie morgens auf und sei wütend und traurig. „Ich will mich nicht wertlos fühlen“, sagt sie. „Aber wie soll man sich gut fühlen, wenn man jung ist und keine Arbeit findet?“ Es gehe vielen ihrer Freunde genauso, sagt sie, alle haben sie studiert und sollen nun kellnern, um zu überleben. Und dabei vom europäischen Frieden schwärmen?
Eine Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 50 Prozent kann sich in Deutschland niemand wirklich vorstellen. Sie ist eine Folge der Euro- und Wirtschaftskrise, gegen die bisher kein wirkliches Mittel gefunden wurde und die eine ganze Generation lähmt. Auch in Europa sind sie nicht sicher vor Armut, lernen die Jungen. Die Generation vor ihnen hat die europäische Integration wirtschaftlich vor allem positiv erlebt, gerade in den südlichen Ländern wuchs nach dem Beitritt der materielle Wohlstand schnell – wenn auch viel davon auf Pump.
Trotzdem denkt Maria nicht schlecht über Europa, über die EU. „Ich fühle mich in Deutschland auch deshalb wohl, weil ich weiß, dass wir alle Europäer sind“, sagt sie. Dass sie die Grenzen nie richtig gespürt hat. Amerika zum Beispiel, da ist sie sich sicher, wäre ihr viel fremder. Europa selbst mitgestalten, das allerdings ist ihr fremd, zu viel hat sie mit ihrem eigenen Leben zu tun. An Brüssel denkt sie überhaupt nicht, wenn sie an Europa denkt, sagt sie. Das Europaparlament und die Wahlen im Mai sagen ihr nichts.
Für viele Studenten ist ein Job bei der EU in Brüssel ein großer Traum
Das ist bei Anne Laumen ganz anders. Sie sitzt an einem Donnerstagabend im Januar zwischen 20 anderen jungen Leuten in der Kneipe Gorki Park am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte. Zum „EUtweetUp“ treffen sich hier Interessierte, die beim Kurznachrichtendienst Twitter über EU-Themen schreiben – ein Stammtisch mit jeder Menge Smartphones. Hier sitzt ein Querschnitt der jungen Menschen, die im Gegensatz zum Oberschüler Robert und zur Tänzerin Maria der Administration in Europa nahestehen oder sie sogar mitbestimmen: Einer der Stammtischler betreut für die EU-Kommission in Deutschland soziale Netzwerke, ein anderer sitzt in einem Thinktank, eine junge Frau arbeitet für eine europäische Botschaft. Sie diskutieren über die anstehende EU-Wahl, über die griechische Ratspräsidentschaft, jeder weiß Bescheid, jeder ist im Thema.
Anne Laumen mag das, die inzwischen 31-Jährige hat selbst sechs Jahre in Brüssel gearbeitet. Für junge Uniabsolventen ist die EU einer der attraktivsten Arbeitgeber überhaupt, ganze Studiengänge zielen auf eine Karriere in den Institutionen ab. Ein gigantisches Programm bringt hunderte Praktikanten aus allen EU-Ländern zeitgleich nach Brüssel. Laumen hat wie einige von ihnen Politikwissenschaft studiert, in Frankreich und Deutschland. Grenzüberschreitend, gefördert von der Europäischen Union – für junge Akademiker ist die EU mit ihren Chancen wahrscheinlich am präsentesten. Sie hospitierte bei der Europäischen Kommission und arbeitete danach lange für eine Brüsseler Lobby-Agentur. Doch irgendwann wurde ihr die Brüsseler Sichtweise auf die EU zu eng. „Ich habe gemerkt, dass die Union für mich mehr bedeutet als nur die Innensicht auf Gesetze und wer wo gerade welchen Posten hat“, sagt die junge Frau bestimmt. Also ging sie im vergangenen Jahr zurück nach Deutschland, nach Berlin. Hier moderiert sie unter anderem EU-Veranstaltungen und -Diskussionen. Es tue ihr gut, wieder von außen draufzublicken, sagt sie. Manchmal sei Brüssel zu weit weg von der Lebenswirklichkeit der Menschen. Die Union ist in den vergangenen zehn Jahren um 13 Mitgliedstaaten angewachsen, die Institutionen wuchsen mit. „Brüssel ist ein eigener Kosmos“, sagt Laumen.
Da denkt sie ganz ähnlich wie die EU-Trainerin Gloria Amoruso, die in Berlin von Schule zu Schule zieht. Obwohl gefühlt zwei Drittel ihres Studienjahrgangs Europawisschenschaften nichts lieber wollten als nach Brüssel, war für die 26-Jährige immer klar: Sie will zwar Europa, aber sie will es zu Hause. Sie leitet mit einer Freundin den Verein „kein Abseits!“, stellt Mädchen und Jungen Paten zur Seite. „Das ist für mich Europa“, sagt sie, „Chancen vermitteln“. Sie kommt aus Berlin, und sie will, dass die Menschen hier mehr von der EU verstehen. Das ist nicht ganz leicht.
Die Europäische Kommission hat vor einigen Jahren deutschlandweit Schulbücher vergleichen lassen, um zu erfahren, wie viel Platz die deutschen Schulen der EU einräumen. Und sie hat festgestellt: Manche Schulbücher widmen der „europäischen Dimension“ – wie die Kommission es ausdrückt – ganze Schwerpunkte, andere einzelne Kapitel, manche sogar nur einzelne Seiten. Besonders häufig taucht die EU im Schulleben der Jugend im Sozialpolitik-Unterricht und in Geschichtsfächern auf. Am wichtigsten sei dabei, so resümieren die Autoren der Studie, dass die Jugendlichen eine grundsätzlich positive Einstellung durch die Bücher vermittelt bekämen.
Auch die Klasse in Weißensee klebt am Ende ihres Kurses pflichtbewusst Institutionen und Bezeichnungen, Verträge und Jahreszahlen an einen Zeitstrahl. Danach hält jeder von ihnen noch einen kurzen Vortrag über eine wichtige Station der europäischen Integration, die meisten lesen vom Blatt. Damit es nicht ganz so verschult wirkt, versuchen die beiden Trainer, ihre EU-Stunde aufzulockern, indem sie zwischen den Vorträgen kleine Filmchen zeigen. Letztendlich hoffen sie einfach, dass genug hängen bleibt. Wenn Robert, der nach dem Kurs immer noch findet, dass die EU eigentlich nur aus reichen Staaten bestehen sollte, im Mai wählen geht – obwohl er am Anfang fand, dass Wählen gehen doch „eigentlich gar nichts bringt“ – dann, finden sie, hätten sie gewonnen.
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