Entscheidung bei der Jungen Union: Zwei wollen Nachfolger von Philipp Mißfelder werden
Nach zwölf Jahren tritt Philipp Mißfelder als Chef der Jungen Union ab. Im bayerischen Inzell kommt es zur Kampfabstimmung: Paul Ziemiak und Benedict Pöttering treten gegeneinander an - beide sind bemüht, auf keinen Fall zu wirken wie Mißfelder.
Der Leiter der Bahnhofsmission fragt: „Hast du eigentlich Migrationshintergrund?“ Paul Ziemiak nickt: „Ja, Polen.“ „Ich auch“, antwortet der Mann und zündet sich eine Zigarette an: „Ich bin mit sieben in der Schule als Polacken-Sau beschimpft worden. Weil meine Mutter aus Olsztyn kam – Allenstein.“ Ziemiak schaut auf den Boden. „Ja, Polacke, das kenn ich. Aber ich war ja auch Rabauke. Ich habe ja andere Kinder auch geärgert, weil sie dick waren oder eine Brille trugen. Diskriminiert habe ich mich nie gefühlt.“ Ziemiak rollt das R ein bisschen, wenn er spricht.
Beide stehen im Tiergarten, vor sich die Stadtbahntrasse und zwei Menschen in Schlafsäcken. Es stinkt nach Fäkalien. Ziemiak trägt graue Chucks, ein rosa gestreiftes Hemd. Darüber eine blaue Weste der Bahnhofsmission. Auf seiner Facebook- Seite schreibt er am nächsten Tag: „Die ,Engel der Gastfreundschaft‘ habe ich auf meiner #Deutschlandtour in Berlin getroffen. Mir fehlen die Worte. Nachdenklich.“
Später, zurück am Bahnhof Zoo, wird Ziemiak noch ein paar Worte auf Polnisch sagen, zu einer jungen Frau, die wie er bei der Essensausgabe hilft. Den Leiter fragt er, was der Staat tun solle, für Obdachlose. Der sagt: „Das ist deine Liga. Ich bin nur Sozialarbeiter, du bist Politiker.“
Erste Kampfabstimmung seit 40 Jahren
Paul Ziemiak ist 29 Jahre alt, Landeschef der Jungen Union (JU) in Nordrhein-Westfalen. An diesem Freitag will er Bundesvorsitzender werden, Nachfolger von Philipp Mißfelder, der nach zwölf Jahren aufhört. Zum ersten Mal seit 40 Jahren wird es beim Jugendverband der Union eine Kampfabstimmung geben. Am Abend wird gewählt, in einer Eislaufhalle im bayerischen Inzell, danach gefeiert. Das Motto des Delegiertenabends: „Heit geh’ ma wieder gar net hoam.“
Ziemiaks Gegenkandidat heißt Benedict Pöttering, 31. Er ist der Sohn von Hans-Gert Pöttering, dem Ex-Präsidenten des EU-Parlaments. Seit Wochen machen beide Wahlkampf gegeneinander. Ziemiak hatte seine Kandidatur im Januar angekündigt, Medienanfragen danach stets abgelehnt. Über Jahrzehnte hatte die NRW-JU eine Art Abo auf den Vorsitz. Dann bewarb sich Pöttering, Mißfelders Vize, und sprach mit der Presse. Pöttering grinst und sagt, er wundere sich, dass Ziemiak nun mit Journalisten spreche.
Beide sind JU-Mitglieder, seitdem sie 14 sind. Haben sich hochgearbeitet, das politische Geschäft studiert. Routiniert wird die Frage gestellt, wie man es denn später mit Zitierungen handhaben wolle. Oder es wird ein kleines Programm zusammengestellt, „damit Sie mich mal in Action sehen können“. Ziemiak hat eine Imagebroschüre aufgelegt. Dort ist er mit orangefarbener Kapuzenjacke zu sehen. Die Farbe kennt man von CDU-Plakaten. „Originals“ steht darauf.
Mißfelder sorgte für Empörung
Das Jahr von Ziemiaks JU-Beitritt war das letzte, in dem Helmut Kohl regierte. Er sei aber nicht wegen Kohl Mitglied geworden. Wie Ziemiak über Kohl spricht, so ähnlich ist es auch mit Mißfelder: Etwas Distanz kann nicht schaden. Den Mut aber, ihn zu stürzen, brachte niemand auf. Mißfelder muss nun gehen, weil er 35 ist. Zu alt für die JU.
In seiner Anfangszeit hatte Mißfelder es geschafft, die JU ins Gespräch zu bringen. Mit einem Interview vor allem, im Jahr 2003, in dem er sagte: „Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen.“ Die Republik war empört. Die „Bild“-Zeitung titelte: „Deutschlands Alte schäumen vor Wut.“ Rabauken müssen die Jungen manchmal sein, um überhaupt gehört zu werden.
Elf Jahre später ist davon nichts mehr zu spüren. Ziemiak lässt sich lächelnd vor einem Plakat fotografieren. Darauf ist eine erleichtert wirkende ältere Frau mit Brille und kurzen grauen Haaren zu sehen, über ihr der Schriftzug: „Haben Sie einen Pflegefall in der Familie?“ Der Kandidat ist zu Besuch bei einem Berliner Start-up, das Pflegematerial für Angehörige vertreibt. Das Geschäftsmodell basiert darauf, bisher brachliegende Zuschüsse von Krankenkassen abzurufen. Aus einem Karton zieht Ziemiak eine Einlage gegen Inkontinenz heraus: „Die sind schon praktisch.“ Er sagt, er fahre jedes Jahr mit einer Gruppe Behinderter nach Lourdes, er kenne sich aus. „Kompliment für diesen simplen und geistreichen Einfall, gute Idee“, sagt er zu der PR-Frau.
Über den Skateplatz in die Politik
Das Rennen scheint knapp, Ziemiak will jetzt über seine Lebensgeschichte sprechen. Er erzählt, wie seine Eltern 1988 mit ihm auf einem Touristenschiff von Swinemünde nach Travemünde übersetzten. In Hamburg verließen sie die Reisegruppe. Dann ging es ins Aufnahmelager Friedland, später in eine „Notwohnung“ im nordrhein-westfälischen Iserlohn – ein Zimmer für zwei Kinder und zwei Erwachsene, eine Toilette auf der Etage. „Das würde man heute nicht mal mehr in einem Asylbewerberheim haben.“ In Iserlohn lebt er noch heute. Dann erwähnt er sein gescheitertes Jurastudium, zweimal fiel er durchs Examen, kurz zuvor starb seine Mutter. Sie war Ärztin, wie sein Vater. Jetzt studiert er Unternehmenskommunikation und hat einen Teilzeitjob bei der Unternehmensberatung PwC. Er sagt, er gehe regelmäßig zur Beichte. Manchmal ist er in Stettin zu Besuch, bei seinem Großvater.
Gegenkandidat Pöttering ist blond, hat einen festen Händedruck, arbeitet für die Versandapotheke Doc Morris in Berlin. Er wirbt damit, jede E-Mail innerhalb von 24 Stunden zu beantworten, will sich als Kandidat der Basis präsentieren. Manche sagen, er sei der Favorit des Mißfelder’schen Establishments. Für jemanden wie Pöttering ist es schwer, mit seiner Lebensgeschichte zu punkten. „Ich war mal Skater, megacool“, sagt er. „Lange Haare, Baggy Pants.“ Sein JU-Beitritt habe nichts mit dem Politikervater zu tun gehabt. Um einen Skateplatz habe er gekämpft, zu Hause im Niedersächsischen. Das habe ihn zur Politik gebracht. Dann mittlere Reife, Fachoberschule, Banklehre, Jugendarbeitnehmervertretung: „Ich war nicht immer auf dem Gymnasium. Ich weiß, wie es ist, nicht Chef, sondern Azubi zu sein.“
Von Pöttering gibt es keine Bilder mit Kapuzenjacke im Internet. Stattdessen Fotos, auf denen er neben Angela Merkel oder Christian Wulff zu sehen ist. Über die Kanzlerin heißt es, sie wünsche sich wohl eher Ziemiak an der Spitze. Pöttering ist wichtig, dass er beim Parteitag gegen die Rente mit 63 aufgetreten ist, anders als Ziemiak. Seine Vermutung: Das habe ihm geschadet im Kanzleramt.
JU-Vorsitz als Karrieresprungbrett
Zwei Jahre Altersunterschied liegen zwischen Pöttering und Ziemiak. Beide sind der Meinung, so könne es nicht weitergehen in der CDU, es werde zu wenig diskutiert, die JU müsse deshalb frecher werden. Fragt man Pöttering, was ihn von Ziemiak unterscheide, dann spricht er über den Maidan in Kiew. Dort sei er im Januar aufgetreten. Ansonsten erwähnt er lange die „Digitalisierung, die alle unsere Lebensbereiche verändert“.
Bei Ziemiak heißt es am Ende der Broschüre: „Es muss endlich Tempo auf die Datenautobahn, sonst ist das deutsche Wirtschaftswunder bald Geschichte.“ Als einen Programmpunkt fordert er mehr freie W-Lan-Spots, „wie in der Knesset in Jerusalem“.
Der JU-Vorsitz ist das vielleicht beste politische Karrieresprungbrett Deutschlands. Von dort aus sind schon viele Minister oder Generalsekretär geworden. Jetzt werden wohl weniger die Inhalte, sondern der persönliche Stil über ihn entscheiden. Ziemiak sagt: „Wir brauchen wieder mehr Jugendherberge bei der JU.“ Erst da wird klar, was sich in der Ära Mißfelder eingebürgert hat: dass JU-Funktionäre auf Vier-Sterne-Hotels bestehen.
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