Fluchtpunkt Deutschland: Zurück in den Irak: Ein Flüchtling will nach Hause
Ein irakischer Flüchtling hält es in Deutschland nicht mehr aus. Das Leben in der Turnhalle, das Abwarten, die Ungewissheit, wann er seine Familie nachholen darf. Jetzt will er seine zerstörte Heimatstadt mit aufbauen.
Als sein Entschluss, nach Hause zurückzukehren, feststand, wollte er sofort loslaufen, sagt Murad Kulli. Hinaus aus der Turnhalle, in der er seit fünf Monaten lebte, zunächst Richtung Süden. Die ganzen 3000 Kilometer bis in den Nordirak. Er würde denselben Weg nehmen, den er vor einem halben Jahr gekommen war, nur umgekehrt. So hatte er es sich überlegt. Aber so einfach geht das nicht.
Murad Kulli ist ein zierlicher Mann. 31 Jahre ist er alt, sieht aber älter aus. In einem ungemütlichen Café im Norden von Hannover, in der Nähe seiner Turnhalle, möchte Kulli darüber sprechen, warum er dringend wegwill aus Deutschland. Weil er kaum Englisch und noch weniger Deutsch spricht, hat er einen jungen Syrer mitgebracht, einen Freund und Mitbewohner, der für ihn übersetzt. Draußen regnet es. Sein Wunsch, zurückzugehen, sei stark, sagt Murad Kulli. Er zeigt auf die randvolle Teetasse vor ihm auf dem Tisch. „Es ist wahrscheinlich so wie bei dieser Tasse.“ Pfeifend stößt er seinen Atem aus. „Es ist einfach genug.“
Die Wut platzt aus ihm heraus
Und dann platzt es aus ihm heraus. Er habe nicht mehr ertragen, klagt er, dass niemand ihm sage, wann er seine Familie endlich nachholen dürfe. Diese schreckliche Ungewissheit. Er könne doch nicht in Deutschland sitzen und warten, während seine Kinder keine 200 Kilometer von den Islamisten entfernt seien.
Murad Kulli ist Jeside. Er lebte in Sindschar, bis im August vergangenen Jahres die Terroristen des „Islamischen Staats“ in die Region vordrangen, mordeten und vergewaltigten, Frauen versklavten, Tausende ins Gebirge trieben. Kulli gelang damals die Flucht Richtung Norden. Zusammen mit seiner Frau, den fünf Kindern und seinen Eltern schaffte er es bis nach Zakho, eine Stadt fast an der türkischen Grenze. Sie richteten sich notdürftig in einer Bauruine ein, ohne Strom und fließendes Wasser. Überleben konnten sie nur dank der Essensmarken des UN-Flüchtlingshilfswerks. Weil sie fürchteten, dass der IS auch diese Stadt überrennen werde, dachte sich Murad Kulli: Ich gehe los nach Europa. Und hole die Familie rasch nach. Jetzt muss er einsehen, dass sein Plan nicht funktioniert hat.
In der Unterkunft liegt er jede Nacht wach
Etwas leiser sagt Murad Kulli dann, er könne auch nicht mehr in dieser Turnhalle leben, in der er zusammen mit hundert anderen Flüchtlingen untergebracht sei. Wo er jede Nacht wachliege. Umgeben von Musik, die blechern aus Handys scheppert, von den lauten Stimmen der Mitbewohner, von ihren Schreien im Schlaf. Er müsse raus aus dieser Halle, in der er nichts anderes tun könne, als ständig auf dem Handy durch die Bilder seiner Familie zu klicken und daran zu denken, was ihm andere Asylbewerber sagten: dass es Jahre dauern werde, bis er die Frau und die Kinder nachholen könne.
Als Jeside aus dem Irak gehört Murad Kulli zu jenen Asylbewerbern, für die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im November 2014 ein „beschleunigtes Verfahren“ eingeführt hat, „um eine zeitnahe Anerkennung als Flüchtling zu ermöglichen“. Für einen wie ihn soll die Anhörung wegfallen, jenes Gespräch, auf dessen Grundlage ein Beamter entscheidet, ob der Asylbewerber in Deutschland bleiben darf. Er kann seine Fluchtgründe schriftlich darlegen. Sobald er in Deutschland anerkannt ist, kann er laut Aufenthaltsrecht seine Familie nachholen. Er muss allerdings „ausreichend Wohnraum zur Verfügung“ haben.
Manche Flüchtlinge ertragen die Perspektivlosigkeit nicht
Murad Kulli wusste nichts von diesem beschleunigten Verfahren. Niemand hat ihm gesagt, dass er seine Fluchtgründe aufschreiben kann. Ende August dieses Jahres, in dem das Bamf die Zahl der Neuankommenden so häufig nach oben korrigiert hat, wartete er noch immer auf den Termin für die Anhörung. Formal hatte sein Asylverfahren, nach sechs Monaten in Deutschland, also noch gar nicht begonnen.
In dem Stehcafé in Hannover blickt Murad Kulli jetzt mit traurigen Augen aus dem Fenster auf die Straße, wo eine Mutter mit ihrer Tochter im Nieselregen steht.
Ohne Papiere kann er nicht weg
Bevor Kulli seine Heimreise antreten kann, muss er seine Papiere zurückbekommen. Den Ausweis, die Geburtsurkunden seiner Frau und der fünf Kinder, die Heiratsurkunde. All diese Dokumente hat er bei der Registrierung in Deutschland abgegeben. Er glaubte, so könnten die Behörden die Familie schneller nachholen.
Gemeinsam mit dem syrischen Freund, der Englisch kann, ist Murad Kulli zu dem Sozialarbeiter gegangen, als dieser um acht Uhr morgens seinen Dienst antrat. Der junge Deutsche fragte, wieso Kulli die Papiere zurückhaben wolle, und der Flüchtling erzählte von seinem Plan. Der Sozialarbeiter gab ihm eine Adresse und sagte, dort werde man ihm helfen. Also suchte Murad Kulli das Raphaelswerk auf. Das ist eine katholische Organisation, die jene Flüchtlinge im Auftrag des Bamf berät, die in die Heimat zurückkehren wollen oder müssen.
Es passiert selten, dass ein Asylbewerber während des Verfahrens zurückkehrt. Es gibt nicht mal eine eigene Statistik für diese Menschen. Das Bamf führt sie in der Liste der freiwilligen Rückkehrer. Im Behördeneuphemismus sind das jene Asylbewerber, die einen Abschiebebescheid erhalten haben und bei der Ausreise mit den Behörden kooperieren. Laut Statistik haben im ersten Halbjahr 2015 fast 13 000 Flüchtlinge freiwillig Deutschland verlassen, vor allem in Richtung Balkan. Die absolute Mehrheit von ihnen, erklärt eine Sprecherin des Bamf, hatte zuvor einen Abschiebebescheid erhalten.
Die Rückreise zahlt das Bamf
Deutschland unterstützt die Menschen, die freiwillig gehen. Die Rückreise zahlt das Bamf, jeder Betroffene erhält je nach Herkunftsland zwischen 300 und 400 Euro für die erste Zeit zu Hause. Das Amt finanziert außerdem internationale und europäische Programme zur Rückkehr nach Afrika und Asien, auch in den Nordirak. Partnerorganisationen empfangen den Rückkehrer in der Heimat, helfen, einen Job zu finden.
So weit die Theorie. Murad Kulli kann aber nicht ausreisen, weil er seine Papiere nicht zurückerhält. Nachdem er 48 Tage lang gewartet hat, geht er erneut zur Beratung im Raphaelswerk. Zusammengesunken hockt Kulli in einem kleinen Büro im vierten Stock eines Klinkerbaus. Im Licht der Neonröhre an der Decke erscheinen die Ringe unter seinen Augen noch tiefer, sein lichtes Haar noch schütterer. Gegenüber sitzt ihm Angelika Wagner, eine zierliche Sozialarbeiterin mit hoher, freundlicher Stimme.
Murad Kulli fragt: „Wann bekomme ich endlich meine Papiere zurück?“
Angelika Wagner erklärt, es gebe gute Neuigkeiten. Bald würden sie da sein. Vielleicht könne er schon in zehn Tagen nach Hause fliegen. Murad Kulli schaut finster. „Das wurde mir schon oft versprochen.“ Die Behörde brauche so lang, weil gerade viele Menschen nach Deutschland kommen, da gehe es wohl ein bisschen chaotisch zu, erklärt Angelika Wagner und lacht unsicher.
Allein beim Raphaelswerk in Hannover haben sich in diesem Jahr 67 Menschen gemeldet, die während des Asylverfahrens zurückkehren wollen, im vergangenen Jahr waren es keine 30. Es sind vor allem Männer, die ohne Angehörige nach Deutschland gekommen sind. „Sie wollen ihre Familien nicht länger allein im Irak lassen“, sagt Angelika Wagner. Sie sagt auch: „Manche Menschen ertragen die Perspektivlosigkeit in Deutschland nicht.“
Aus seiner Heimat wurden gerade die IS-Terroristen vertrieben
Später am Tag führt Murad Kulli mit hängenden Schultern durch die Sporthalle, in der er lebt. Mehr als hundert Feldbetten stehen dort dicht an dicht. Es ist kalt und feucht. In ein paar der Betten dösen Männer, in einer Ecke unterhalten sich ein paar Albaner laut vor dem Waschcontainer. Es sieht so aus wie derzeit in vielen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland.
Die Flüchtlinge würden so gerne arbeiten
Die Toiletten, sagt Kulli, seien meist so dreckig, dass er sie nicht benutze, er gehe fast immer in eines der Cafés in der Nähe. Er kneift den Mund zusammen. „Wenn wir wenigstens etwas zu tun hätten. Wenn wir arbeiten dürften.“ Dann springt er auf. „Ich muss raus“, sagt er. Er läuft zum Apple Store, wo das W-Lan kostenlos ist, um mit seiner Familie zu sprechen. Er sagt ihr, dass er bald wieder bei ihnen sein werde.
Seine Frau und Eltern, erklärt er dann, seien gleich einverstanden gewesen, als er ihnen verkündete, dass er zurückwolle. „Sie verstehen, dass wir hier keine Zukunft haben“, sagt er. „Lieber sterbe ich in der Heimat, als hierzubleiben.“
Seine Idee, überhaupt nach Deutschland zu kommen, ist jetzt bald ein Jahr alt. Er hatte in Zakho gehört, die Deutschen würden Jesiden wie ihn gut behandeln. Der Schlepper wollte für die Flucht 10 000 Euro pro Person. Murad Kulli ist eigentlich Maurer, in Zakho fand er nur ab und an als Tagelöhner Arbeit. Er besaß gerade mal 5000 Euro. Also bat er seine Frau und auch seine Mutter, ihren ganzen Schmuck zu geben. Er verkaufte alles, um die Fahrt zu bezahlen.
Zwei Wochen war er mit 20 anderen Männern unterwegs, in Bussen, auf einem Schlauchboot, zu Fuß und wieder in Bussen. Am 26. Februar erreichten sie die deutsche Grenze. Polizisten nahmen sie in Empfang, und man brachte sie ins Erstaufnahmelager Friedland in Niedersachsen. Eine Woche später setzte man ihn dort in einen Bus in Richtung Hannover, der ihn vor der Sporthalle im Norden der Stadt absetzte. Bevor er hineinging, erklärte ihm ein Helfer auf Arabisch, dies sei nur eine provisorische Unterkunft. Spätestens nach einem Monat würde er in ein richtiges Haus umziehen, mit Küche und echten Betten. Das war im März. Damals ahnte er nicht, dass diese Turnhalle seine Endstation in Deutschland sein würde.
Die Familie lebt in einer Bauruine
Das Warten auf die Papiere dauert bis Ende Oktober. Dann kann Murad Kulli tatsächlich los. Schon im November sitzt er wieder in der Bauruine im nordirakischen Zakho nahe der türkischen Grenze, in der Hand sein Mobiltelefon. Er ist zurück bei seiner Frau, den Kindern und den Eltern. Über Skype erzählt er, dass sie den Beton des Gebäudes jetzt mit weißer Farbe angestrichen hätten, um es ein bisschen wohnlicher zu machen. Er trägt einen Anzug in Tarnfarben und wirkt so entspannt wie in Hannover kein einziges Mal. Er sagt, er sei glücklich. Und dass er vielleicht schon bald mit der Familie in seine alte Heimatstadt Sindschar zurückziehen werde.
Die ist soeben aus den Händen des „Islamischen Staats“ befreit worden. Von zwei Seiten wurden die Fanatiker am Dienstag vergangener Woche angegriffen, die syrischen Kurden kamen aus dem Westen, die irakischen Kurden zusammen mit einer Kampfeinheit der Jesiden aus dem Osten. Die Befreiung von Sindschar gilt als Triumph, auch deshalb, weil die IS-Gegner damit ein Stück des „Highway 47“ zurückerobert haben – die wichtige Direktverbindung zwischen den Islamisten-Hochburgen Rakka und Mossul. Leider haben die Befreier eine großteils zertrümmerte Stadt vorgefunden. Murad Kulli hat schon gehört, dass auch sein Haus komplett zerstört wurde. Egal. Er ist schließlich Maurer.
Zum Abschied bittet er darum, dass kein Bild von ihm in der Zeitung veröffentlicht wird. Es könnte gefährlich sein, wenn ein Terrorist vom IS ihn erkennt.