zum Hauptinhalt
Willkommen in Deutschland. Ein Hauptfeldwebel begrüßt im Wartezentrum in Erding (Bayern) eine Familie aus dem Irak.
© dpa

Flüchtlinge in Deutschland: Zu Hause in der Fremde – syrisch, muslimisch, deutsch

Bald wird es bei uns viele Menschen mit vielen Identitäten geben. Denn abstreifen wie Staub auf der Kleidung können die Flüchtlinge ihre Vergangenheit nicht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Klaus Mann war ein amerikanischer Schriftsteller. Hannah Arendt war eine amerikanische Philosophin. Albert Einstein war ein amerikanischer Physiker. Doch so steht es nirgendwo. Stattdessen wird ihre Herkunft mit „deutschsprachig“ oder „deutsch-jüdisch“ umschrieben. Dabei hatten sie alle die amerikanische Staatsbürgerschaft, zum großen Teil schrieben und sprachen sie auf Englisch. Ginge es nach den Kriterien der aktuellen deutschen Einwanderungspolitik – Sprache lernen, Integrationskurse besuchen, Werte teilen, Deutscher werden –, müssten Mann, Arendt und Einstein zweifellos als Amerikaner betrachtet werden.

Aber waren sie nicht stark geprägt von deutscher Tradition und Geistesgeschichte, von deutscher Kultur und Sprache? Ja, das waren sie. Sie führten, wie auch die Jeckes in Israel, eine Doppelexistenz mit multiplen Identitäten. Einfach aus der einen Haut in eine andere zu schlüpfen, war ihnen verwehrt. Sie bildeten, wie man das heute abwertend über Migranten sagt, eine Parallelgesellschaft.

Die eigene Sprache sei „die einzige Heimkehr aus dem Exil, die man nie ganz aus den Träumen verbannen kann“, schrieb Hannah Arendt 1947 an Karl Jaspers. Klaus Mann, der ab 1940 viele seiner Werke auf Englisch verfasste, bemerkte gegenüber einem Freund: „Damals hatte ich ,eine' Sprache, in der ich mich recht flink auszudrücken vermochte; jetzt stocke ich in zwei Zungen. Im Englischen werde ich wohl nie ,ganz' so zu Hause sein, wie ich es im Deutschen ,war' – aber wohl nicht mehr ,bin'.“ Schalom Ben-Chorin hat diese Erfahrung in einem Essay unter der Überschrift beschrieben: „Im Exil wird die Muttersprache zum Schutzwall“.

Ob man sie nun Einwanderer nennt, Neuankömmlinge oder Flüchtlinge: Diejenigen, die aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Eritrea zu uns kommen, haben auch eine Muttersprache, in der sie sich heimisch fühlen. Natürlich sollen sie Deutsch lernen und unsere Regeln und Gesetze kennen. Aber abstreifen wie Staub auf der Kleidung können sie ihre Vergangenheit nicht. Nicht ihre Sprache, nicht ihre Religion, nicht ihre Kultur und Tradition. Wer das von ihnen erwartet, zerstört eine durch Flucht und Vertreibung ohnehin beschädigte Identität.

Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren

Hannah Arendt floh 1933 nach Paris, wurde dort im Mai 1940 als „feindliche Ausländerin“ verhaftet und im Frauenlager „Gurs“ in den Pyrenäen interniert. Sie konnte entkommen und emigrierte 1941 in die Vereinigten Staaten. Einen der ersten Texte, den sie auf Englisch verfasste, veröffentlichte sie im Januar 1943, er heißt „We Refugees“ (Wir Flüchtlinge). „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren“, schreibt sie. „Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“

Flüchtlinge sind Entwurzelte. Sie ziehen nicht ins Land ihrer Träume, sondern dahin, wo sie in Sicherheit sind. Sie verlassen ihre Heimat nicht freiwillig, sondern unter Lebensgefahr. Sie hängen an ihrer Herkunft, sehnen sich nach Freunden, Verwandten, ihren Familien. Viele von ihnen wissen nicht, wie lange sie überhaupt bleiben, ob sie die Staatsangehörigkeit wechseln oder nur auf Zeit im Exil leben wollen. Flucht und Einwanderung sind verschieden. Der Flüchtling will in erster Linie von einem Ort weg, der Migrant will in erster Linie zu einem Ort hin.

In Deutschland wird es bald viele Menschen mit Mehrfachidentitäten geben. Sie fühlen etwa syrisch, muslimisch und deutsch. Oder eritreisch, christlich und deutsch. Im Internet lesen sie die Zeitungen aus ihrem Herkunftsland, verfolgen im Satellitenfernsehen die Nachrichten von dort, schreiben E-Mails in ihrer Muttersprache, halten über Facebook, Whatsapp und Skype den Kontakt. Warum auch nicht? Das seelische Weiterleben in der alten Heimat kann durchaus Halt und Orientierungssicherheit in der neuen Heimat geben. In der Sprache der Migrationsforscher nennt man das „Hyper-Connectivity“. Es ist leichter als je zuvor in der Geschichte, die Verbindungen zu fernen Orten aufrechtzuerhalten.

War Klaus Mann ein amerikanischer Schriftsteller? Er hatte die amerikanische Staatsbürgerschaft, schrieb auf Englisch, diente in der US-Armee. Und doch sträubt sich etwas gegen eine solche Zuordnung. Dieses Etwas ist es, das den zu uns Geflüchteten als Fortbestehen ihrer Eigenheit ebenfalls zugestanden werden sollte.

Zur Startseite