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Gefährliche Brotzeit? Auch Schinken zählt zu dem verarbeiteten Fleisch, das das Krebsrisiko erhöht.
©  Wolfgang Kumm/dpa

WHO-Warnung: Zu den Deutschen gehört das Faustische genauso wie das Wurstige

Die Deutschen sind verrückt danach, sie können nicht ohne: Der Trend zum Fleischlosen ist bei vielen nur Rhetorik. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Arno Makowsky

Schauen wir doch mal, was es diese Woche in der Kantine gibt. Okay, Hühnchencurry mit Dattelsauce, Bohnen im Speckmantel und das Rehgulasch „Försterin“. Und natürlich Königsberger Klopse, den Klassiker. Na klar, her damit. Oder etwa nicht? Die Kollegin aus dem zweiten Stock hat schon das Tablett im Anschlag, aber sie schaut ein bisschen verunsichert. Diese Klopse, sind die nicht … wie war das? Verarbeitetes Fleisch. Und dann auch noch rotes Fleisch, trotz weißer Kapernsoße! Die Kollegin setzt einen freundlich-entschlossenen Blick auf: „Die Kürbislasagne, bitte.“ Eine gute Woche ist es nun her, dass die Weltgesundheitsaufpasser von der WHO eine Warnung aussprachen, die Fleischfreunde, Berufspessimisten und Hypochonder erschauern ließ: Das Krebsrisiko steigt, wenn man zu viel rotes Fleisch isst. Und verarbeitetes Fleisch, also Wurst und Königsberger Klopse. Was für ein Horror!

Essen die jetzt vegane Fleischpflanzl?

Und wie reagieren wir? Gedanke am Tag eins nach der WHO-Meldung: Heute nehmen wir in der Kantine mal das vegetarische Menü. Tag zwei: Das kann doch nicht wahr sein. Nicht in Deutschland, der großen Wurstnation. Was ist die größte Sehenswürdigkeit in Prenzlauer Berg? Genau, die Imbissbude Konnopke, unter der U-Bahnstation Eberswalder Straße. Das Heiligtum aller Wurstgläubigen wäre erledigt, wenn die WHO recht hat, nach 85 Jahren.
Und was macht jetzt bitte der Sepp auf der Baustelle in Oberpframmern, der seinen Lehrling jeden Morgen die Leberkässemmeln für alle holen lässt? Essen die jetzt vegane Fleischpflanzl? Kurz: Es ist undenkbar.
Schon wenige Tage nach der Krebswarnung steht deshalb für praktisch alle deutsche Medien fest: Die spinnen, die WHOler. Die Empörung richtet sich nicht gegen die schlechte Nachricht, sondern gegen ihren Überbringer. In Leitartikeln und Grundsatzaufsätzen wird die Organisation als Spaßbremse gegeißelt, die den Menschen einreden will, hinter jeder Pizza Salami lauere schon die tödliche Krankheit. Ein bisschen was sei schon dran am Risiko, aber unterm Strich: Alles völlig übertrieben.

Tag drei nach der Meldung: Wir ziehen diesen alarmistischen Unsinn ins Lächerliche. Auf Twitter geht es um die wichtige Frage: Was ist eigentlich mit den Passivwurstessern? Sind die genauso gefährdet wie Passivraucher? Und müssen vor Restaurants, in denen es Fleisch gibt, jetzt große Schilder aufgestellt werden: „Schnitzel führen zu Zahnausfall, Impotenz und frühem Tod“? Sicher: Nicht alle Deutschen verteidigen das Menschenrecht auf tägliche Wurstvertilgung. Natürlich gibt es auch Vegetarier, Veganer und überzeugte Tierschützer. Die lehnen jeglichen Fleischkonsum ab; die meisten von ihnen nicht wegen der Krebsgefahr, sondern weil sie das perverse System der Erzeugung kritisieren. Man hört recht viel von dieser Gruppe, auch hat man das Gefühl, dass immer mehr Leute ihre Lebensmittel im Bio-Supermarkt kaufen. Fleisch von glücklichen Schweinen, die sich sogar in der Schlachtbox total wohlfühlen. Das wäre alles schön, es stimmt nur leider nicht. Im ersten Halbjahr 2015 wurden in Deutschland mehr Tiere geschlachtet als je zuvor, insgesamt 4,07 Millionen Tonnen Fleisch. Sagt das Statistische Bundesamt. Der Biofleisch-Anteil beträgt: zwei Prozent. Die Händler berichten, mehr sei nicht durchsetzbar, weil die Leute es billig haben wollen und immer noch billiger. Und billig geht nur mit Massentierhaltung, mit Antibiotika, mit Quälerei.

Die Würde des Tieres spielt keine Rolle

Den Biotrend, so scheint es, gibt es leider vor allem auf der Tonspur. Es ist genau wie bei VW: Alle finden den Skandal ganz schrecklich, aber der Konzern verkauft nicht weniger Autos als vorher. Wahrscheinlich verhält es sich mit den Autos ähnlich wie mit der Wurst: Die Deutschen sind verrückt danach, sie können nicht ohne. Das Faustische und das Wurstige, es steckt einfach drin im Germanen, da können die WHO-Experten warnen, wie sie wollen.

Vielleicht gibt es noch einen anderen Grund, warum in diesem Land der Fleischkonsum nicht zu bremsen ist. Fleisch gilt nicht als Luxus, als nichts Besonderes. Man muss nicht wie Wolfram Siebeck die deutsche Esskultur als barbarisch beschimpfen, um festzustellen: Der Wert eines Steaks, die Würde des Tieres, von dem es stammt – so etwas spielt keine Rolle. Fleisch gibt es immer und täglich, an der Bude und zu Hause. Und das lassen wir uns nicht vermiesen, schon gar nicht von diesen Besserwissern der WHO.

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