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Gedenken auf dem Marktplatz in Halle
© Fabrizio Bensch/REUTERS
Update

Nach dem Anschlag in Halle: Zentralrat sieht „neue Qualität des Rechtsextremismus in Deutschland“

Nach dem Anschlag mache sich Sorge bei Juden in Deutschland breit, sagte Zentralratspräsident Schuster. Bayerns Innenminister gibt der AfD eine Mitschuld.

Nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Halle/Saale sieht der Zentralrat der Juden in Deutschland eine „neue Qualität des Rechtsextremismus in Deutschland“. Zentralratspräsident Josef Schuster sagte am Donnerstag im Deutschlandfunk, der Anschlag auf die Synagoge verändere das Gefühl jüdischer Menschen in Deutschland. „Es macht sich Sorge breit.“

Er beobachte eine politische Entwicklung, die Rechtsextremismus fördere, sagte Schuster weiter. Deshalb sei die Tat nicht ganz unerwartet gewesen. Nun sei entscheidend, dass die deutschen Behörden sicherstellten, dass jüdische Menschen unbeschadet eine Synagoge besuchen könnten.

Ein schwer bewaffneter Täter hatte in Halle/Saale am Mittwoch zwei Menschen wahllos erschossen, eine Frau vor dem jüdischen Friedhof und einen Mann in einem Döner-Imbiss. Zuvor hatte er versucht, in die Synagoge von Halle einzudringen, er scheiterte aber an der besonders gesicherten Tür. Zu dem Zeitpunkt hatten sich laut jüdischer Gemeinde 70 bis 80 Menschen in der Synagoge befunden, um Jom Kippur – den höchsten jüdischen Festtag – zu feiern.

Noch am Mittwochabend hatte Schuster schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben. „Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös“, sagte er. „Diese Fahlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt.“

Nur glückliche Umstände hätten ein Massaker verhindert, sagte Schuster in Würzburg. „Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock.“

Jüdischer Weltkongress fordert mehr Sicherheit

Auch der jüdische Weltkongress dringt auf stärkere Sicherheitsvorkehrungen. Der staatliche Schutz jüdischer Einrichtungen in Deutschland müsse verbessert werden, erklärte der Präsident des Weltkongresses, Ronald S. Lauder, am Mittwoch in New York. Zugleich bedürfe es eines geschlossenen Bündnisses gegen Neonazis und andere extremistische Gruppen.

Der Weltkongress sei dankbar für die Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft durch den deutschen Staat. „Aber jetzt sind Taten und keine Worte gefragt“, sagte Lauder.

Bayerns Innenminister gibt AfD Mitverantwortung

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann gab der AfD eine Mitverantwortung an der Tat in Halle. „Das eine sind diese schrecklichen Gewalttäter, vor denen wir uns schützen müssen, das andere sind auch die geistigen Brandstifter, da sind in letzter Zeit auch einige Vertreter der AfD in unverschämter Weise aufgefallen“, sagte der CSU-Politiker im Interview mit dem Sender Bayern 2 des Bayerischen Rundfunks.

Namentlich nannte Herrmann in diesem Zusammenhang den Thüringer AfD-Spitzenpolitiker, Björn Höcke: „Höcke ist einer der geistigen Brandstifter, wenn es darum geht, wieder mehr Antisemitismus in unserem Land zu verbreiten. Darüber müssen wir jetzt die politische Auseinandersetzung konsequent führen.“

Steinmeier besucht Synagoge in Halle

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will am Donnerstagmittag das jüdische Gotteshaus besuchen. Geplant ist auch ein Treffen mit Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), wie das Bundespräsidialamt am Morgen mitteilte. Erwartet wird auch Bundesinnenminister Horst Seehofer. Er will auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Zentralrats-Präsidenten Schuster und Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über neue Erkenntnisse informieren.

Der mutmaßliche Täter, der Rechtsextremist Stephan B. aus Sachsen-Anhalt, wurde am Mittwochnachmittag festgenommen. B. soll die Tat per Helmkamera gefilmt und Videos ins Internet gestellt haben.

Manifest aufgetaucht

Nach der Tat tauchte ein Dokument im Internet auf, bei dem es sich nach Angaben einer Expertin um eine Erklärung des Angreifers zu handeln scheint. Das PDF-Dokument zeige Bilder von Waffen und enthalte einen Verweis auf das Live-Video, das von der Tat verbreitet worden sei, twitterte Rita Katz, Leiterin der auf die Beobachtung von Extremisten spezialisierten Site Intelligence Group.

In dem Text wird laut Katz das Ziel genannt, „so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, vorzugsweise Juden“. Das Dokument sei anscheinend am 1. Oktober angelegt worden und gebe Hinweise darauf, wie viel Planung und Vorbereitung der Täter in die Attacke gesteckt habe. Ob es tatsächlich von dem mutmaßlichen Täter stammt, ist bislang unklar.

Ermittler bezeichnen Manifest als authentisch

Nach ersten Prüfungen werde es von den Ermittlern aber als „authentisch“ bewertet, berichtete der „Spiegel“ unter Berufung auf Sicherheitskreise. Unter anderem stimmten die in dem „Manifest“ abgebildeten und vom Täter offenbar teils selbst gebauten Schusswaffen mit den tatsächlich bei dem Anschlag eingesetzten Waffen überein.

Katz bezog sich auch auf ein Bekennervideo, dass der mutmaßliche Täter in sozialen Netzwerken hochgeladen haben soll. Das Video dokumentiert allem Anschein nach den Ablauf der Angriffe in Halle aus Sicht des Attentäters. Die Aufnahmen stammen wohl von einer Kamera, die am Helm des Schützen befestigt war.

Bis zum Morgen gab es aber keine Bestätigung der Behörden dafür, dass es sich bei dem Mann im Video um den Attentäter handelt. Das Video wurde nach Angaben der Streaming-Plattform Twitch von rund 2200 Menschen angesehen, bevor es dann nach 30 Minuten gelöscht wurde. Über den vor etwa zwei Monaten erstellten Account sei zuvor nur einmal etwas veröffentlicht worden.

Ladehemmung verhinderte wohl höhere Opferzahl

Eine noch höhere Opferzahl wurde möglicherweise von Defekten an mindestens einer Waffe des Täters verhindert. In dem angeblichen Tatvideo ist zu sehen, wie in mindestens zwei Fällen Ladehemmungen das Leben von Menschen zu retten scheinen. Der Täter setzte eine vermutlich im Selbstbau hergestellte Langwaffe, eine Pistole und Sprengsätze ein.

[Auch am Tag nach der Tat in Halle halten wir Sie mit einem Liveblog über die Geschehnisse und die Erkenntnisse der Ermittler auf dem Laufenden.]

Nach Einschätzung von Extremismusforscher Matthias Quent wollte der Täter offenkundig eine international verbreitete, rechte Internet-Subkultur erreichen.

„Er spricht Englisch, und er greift Verschwörungstheorien auf, zum Beispiel über die angeblich zerstörerische Macht des Judentums. Er äußert sich auch abwertend über Feminismus“, sagte Quent der Deutschen Presse-Agentur. Das seien Motive der weltweiten populistischen und radikalen Rechten. „Das Video folgt der Ästhetik eines Videospiels, auch durch die Ego-Shooter-Perspektive“, sagte Quent. (Tsp, dpa, epd, AFP)

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