Umstrittenes Abkommen TTIP: Zeit für sachliche Argumente
Das öffentliche Bild von TTIP ändert sich. Mehr Einfluss haben Verbraucherzentralen, die das Freihandelsabkommen nicht verhindern - sondern durch konstruktive Kritik verbessern wollen. Ein Kommentar.
Erklären hilft – selbst bei einem emotional so aufgeladenen Thema wie dem Transatlantischen Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP. Man sieht es daran, dass Kritiker und Befürworter, die sich vor einem Jahr noch abweisend gegenüberstanden, heute über Verbesserungsvorschläge diskutieren. Und dass der groß angelegte Aktionstag der kompromisslosen Gegner am vergangenen Sonnabend nur in München Resonanz fand, in Großstädten wie Berlin, Hamburg und Köln jedoch nur wenige hundert Demonstranten anlockte. Eine Massenbewegung sieht anders aus.
Nicht alle, aber viele Debatten über die Vor- und Nachteile von TTIP wirken heute informierter und offener als vor einem Jahr. Dazu haben mehrere Faktoren beigetragen. Zentrale Akteure haben gewechselt und mit ihnen die Kommunikationsstrategien. Das öffentlich sichtbare Gesicht des EU-Verhandlungsteams ist nicht mehr männlich-streitbar, sondern weiblich-verbindlich. Ex-Handelskommissar Karel de Gucht entsprach eher dem Zerrbild eines verschlossenen und arroganten Brüsseler Apparats, das die Gegner verbreiteten, als seine Nachfolgerin, die Schwedin Cecilia Malmström. Sie verband ihren Start mit einer Transparenzoffensive.
Ein Scheitern von TTIP schien zeitweilig denkbar
Vizekanzler Sigmar Gabriel hat TTIP zu seiner Sache gemacht; das verlangt zögerlichen SPD-Genossen eine Entscheidung ab. Der BDI und andere Wirtschaftsverbände sind aus ihrer Schockstarre erwacht. Der Verhandlungsbeginn im Juli 2013 war mit der öffentlichen Erregung über die NSA-Abhörpraktiken zusammengefallen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde Freihandel zum Thema einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Ein Scheitern von TTIP schien plötzlich denkbar. Der öffentliche Druck half den Verbänden, eine Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln, die in nachvollziehbaren Beispielen zeigt, wer welchen Nutzen erwarten darf, nachzulesen in der Broschüre „Wir wollen TTIP“.
Vor allem aber hat die Debatte den Blick auf Kritiker, Skeptiker und Gegner geschärft. Lange wirkten sie wie eine große einige Front. Heute ist das Bild differenzierter. Auf der einen Seite stehen Kampagnen wie Attac, Campact und Foodwatch, die prinzipiell und oft aus ideologischen Gründen gegen Freihandel sind. Auf der anderen Organisationen wie die Verbraucherzentrale, der BUND und ein Gutteil der Gewerkschaften, die Vorbehalte gegen Einzelbereiche von TTIP haben, aber auch Vorteile des Abkommens sehen und Korrekturen anstreben.
Die Ideologen haben es mit ihren schrillen Kampagnen übertrieben
Beide Gruppen haben auf ihre Weise die inhaltliche Klärung vorangebracht. Die Ideologen haben es mit ihren schrillen Kampagnen so übertrieben, dass sie Glaubwürdigkeit einbüßten. Die Chlorbehandlung von Hühnchen – eine Methode, die Keime zuverlässiger tötet als die deutsche Desinfizierung bei der Geflügelschlachtung und in Europa bei anderen Lebensmitteln wie Salat üblich ist – deuteten sie um als amerikanischen Versuch, den Deutschen gesundheitsschädliches Essen aufzuzwingen. Den Vertragsschutz von Investitionen im Ausland samt der Klärung von Streitfällen vor Schiedsgerichten, den die Exportnation Deutschland seit Jahrzehnten praktiziert, weshalb andere Länder dies übernommen haben, interpretierten sie als Neuerfindung geldgieriger US-Rechtsanwälte. Aus der sinnvollen Absprache, dass Europäer und Amerikaner sich über geplante Festlegungen neuer technischer Standards vorab informieren sollten, leiteten sie die Behauptung ab, deutsche Parlamente sollten ihre Gesetzgebungsrechte an die Amerikaner abtreten. Wer derart auf Krawall aus ist, unter Missachtung argumentativer Redlichkeit, macht eine Zeit lang Schlagzeilen, nimmt sich aber schließlich selbst aus der Debatte.
Einfluss gewonnen haben hingegen die Verbraucherzentrale und andere Organisationen, die TTIP nicht verhindern, sondern durch konstruktive Kritik ein besseres Abkommen erreichen wollen. Die offen darüber reden, dass Standards und Verbraucherschutz in manchen Gebieten wie Medikamentenzulassung, Finanzmarktregelungen und Kinderspielzeug in den USA besser sind – und auf anderen Gebieten in Europa. Vielleicht haben auch Umfragen, nach denen die Deutschen mit ihrem hohen Anteil an TTIP-Skepsis eine Ausnahme in der EU sind, Nachdenklichkeit ausgelöst.
Nach knapp zwei Jahren aufgeregten Streits um TTIP ist die Meinungsschlacht noch lange nicht entschieden. Aber der Rauch der Nebelkerzen legt sich, die Schaumkronen künstlicher Erregungswellen glätten sich. Und Sachargumente gewinnen allmählich die Chance, gehört zu werden.
Christoph von Marschall