Dramatischer Bericht von Unicef: Zehntausende syrische Kinder allein auf der Flucht nach Europa
Viele syrische Familien sehen keinen anderen Ausweg mehr: Sie schicken ihre Kinder allein los Richtung Europa. Dies zeigt ein neuer Unicef-Bericht.
Sie heißen Anas, Abdel Hamid, Mohamed und Mahmoud. Die vier Cousins sind zwischen sieben und neun Jahre alt, stammen aus Dörfern in der Nähe von Aleppo und konnten dem Morden wie dem Elend in Syrien entkommen. Ohne Begleitung haben es die vier Jungen nach Deutschland geschafft. Sie wohnen inzwischen bei einer entfernten Verwandten. Nicht bei Mutter und Vater. Denn die leben nach wie vor als Flüchtlinge in der Türkei.
Weil das Geld im Laufe der Zeit immer knapper geworden war, hatten die verzweifelten Eltern eine Entscheidung getroffen: In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft schickten sie ihre Kinder los. Richtung Europa. Richtung Sicherheit. Über das lebensgefährliche Meer. In einem kaputten Schlauchboot. Viele andere kamen dabei ums Leben. Doch die Cousins haben es geschafft, irgendwie. Heute können sie zur Schule gehen. Ohne Angst vor Bomben. Aber auch ohne ihre Familien.
Viele müssen sich sogar ohne Verwandte auf den Weg machen
Dieses Schicksal teilen Anas, Abdel Hamid, Mohamed und Mahmoud mit Zehntausenden syrischen Kindern. "Für viele Familien erscheint die Gefahr, in ihrer Heimat oder in den Notunterkünften und Lagern der Nachbarländer zu bleiben größer als die Gefahren einer Flucht nach Europa", heißt es im neuen Unicef-Bericht zur Lage syrischer Kinder, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.
Viele müssen sich sogar ohne Verwandte auf den Weg machen oder werden in chaotischen Situationen während der Flucht von ihren Eltern getrennt. Bis September hatten 214.000 Kinder und Jugendliche in der EU Asyl beantragt. Die Mehrheit stammt aus Syrien. Wenn sie es – vielfach erschöpft, unterernährt und traumatisiert – nach Europa geschafft haben, leben die Mädchen und Jungen zwar zumeist in Sicherheit.
In Europa fehlt es meist an psychologischer Betreuung
Dennoch bleibt ihr Alltag in der Fremde extrem schwierig und belastend. Oft müssen sie in überfüllten Turnhallen, Kasernen und Zeltlagern über die Runden kommen, also auf engstem Raum ohne Privatsspähre. Vielerorts werden außerdem die Mindeststandards zum Schutz von Heranwachsenden nicht erfüllt. Auch Spiel- und Lernangebote sind häufig Mangelware. Ganz zu schweigen von psychologischer Betreuung. Das muss sich nach Überzeugung des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen umgehend ändern.
Noch dringender ist offenkundig, Not und Hoffnungslosigkeit in Syrien selbst und den Nachbarstaaten zu bekämpfen. Seit dem Beginn des Konfliktes vor bald fünf Jahren sind mindestens 11.000 Kinder ums Leben gekommen. Fassbomben, Raketenangriffe und Feuergefechte: "Es gibt im ganzen Land keinen einzigen sicheren Ort für Kinder", sagt Hanaa Singer, Leiterin von Unicef Syrien.
In Syrien werden viele KInder nicht mehr ausreichend ernährt
Entbehrungen, Angst und kaum vorstellbare Gewalt beherrschen den Alltag. Bis zu sieben Millionen Menschen – die Hälfte Kinder – sind Vertriebene im eigenen Land. Nach Angaben der UN-Organisation leben drei Viertel der Bevölkerung in Armut. Es gibt viel zu wenig Lebensmittel und sauberes Wasser. Die Mangelernährung von Kindern hat seit 2011 erheblich zugenommen.
Besonders schlimm trifft es jene zwei Millionen Mädchen und Jungen, die mit ihren Familien in umkämpften oder belagerten Gebieten über die Runden kommen müssen. Denn dorthin gelangt nur sehr selten Hilfe. Ohnehin hält durchschnittlich nur eines von drei Krankenhäusern heute noch den Betrieb aufrecht.
Und jetzt beginnt der Winter. Bald werden die Temperaturen in der Region unter den Gefrierpunkt sinken. Es kann schneien. Aber viele Menschen sind nur ungenügend vor Nässe und Kälte geschützt, weil sie zum Beispiel in ungeheizten Zelten hausen und kein Geld für warme Kleidung haben. Unicef will deshalb in den nächsten Wochen unter anderem 800.000 Decken verteilen.
Neben dem täglichen Kampf ums Überleben leiden Kinder vor allem unter dem weitgehenden Zusammenbruch des Bildungssystems in Syrien. Mehr als 6000 Schulen sind völlig zerstört, stark beschädigt oder werden als Notunterkünfte genutzt. 50.000 Lehrer sind geflohen. Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr zum Unterricht – sowohl aus Angst um deren Sicherheit als auch, weil sie zum Lebensunterhalt beitragen müssen. "Heute gehen deshalb rund zwei Millionen Mädchen und Jungen nicht zur Schule. Das sind zwei Millionen Mädchen und Jungen, deren Zukunft geraubt wird", heißt es im Unicef-Report.
Kaum besser ergeht es den Syrern, die ihr Zuhause verlassen mussten und nun in jordanischen, türkischen oder libanesischen Camps und Dörfern leben. Diese Länder haben die Flüchtlinge zwar mit großer Selbstverständlichkeit aufgenommen. Doch legale Jobs sind ihnen verwehrt, die Ersparnisse aufgebraucht.
Sogar die Jüngsten müssen Geld verdienen
Deshalb müssen sogar die Jüngsten Geld verdienen. Zur Schule zu gehen, ist daher für viele kaum mehr als ein Traum.
Das hat Folgen. Immer mehr Flüchtlingsfamilien sind fest entschlossen, trotz aller Widrigkeiten die Flucht nach Europa zu wagen. Und immer häufiger müssen sich die Kinder allein auf den Weg machen. Wie Anas, Abdel Hamis, Mohamed und Mahmoud. Die vier Cousins, die sich nichts sehnlicher wünschen als nach Syrien heimzukehren. Mit Mutter und Vater.