Nach Axt-Attacke im Regionalzug: Würzburg ist ein Symbol wie Köln
Misstrauen sickert in die Gesellschaft wie Gift. Das Attentat mit der Axt wird den Blick auf Flüchtlinge verändern. Ein Kommentar.
Stellen wir es uns einfach mal so vor: Der 17-jährige Afghane ist zuhause bei der Pflegefamilie; der Praktikumstag in der Bäckerei war anstrengend, jetzt sitzt er am Schreibtisch, schaut aus dem Fenster und krakelt irgendwas in einen Collegeblock. Alles ganz normal.
Er ist ein „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“, von denen in Deutschland mittlerweile 60.000 leben. Viele Familien überlegen sich, einen Jugendlichen, der alleine und ohne Perspektive in unser Land gekommen ist, aufzunehmen. Wer bereit ist, einen Flüchtling bei sich wohnen zu lassen, fühlt sich als Teil der deutschen „Willkommenskultur“.
Dass sie von vielen als naive Gutmenschen bezeichnet werden, stört diese Leute nicht. Was AfD-Anhänger und Rechtsradikale sagen, ist ihnen egal. Sie haben das Gefühl: Wir stehen auf der richtigen Seite. Wir tun etwas für die Integration, wir helfen Menschen in Not. Schließlich gibt es so viele positive Beispiele. So wie es auch am Beginn der Geschichte über den 17-jährigen Afghanen im fränkischen Ochsenfurt scheint. Behörden, Sozialarbeiter, Familien – alle haben alles richtig gemacht.
Dem jungen Mann standen viele Wege offen
Leider geht die Geschichte nicht gut weiter. In seinen Collegeblock krakelt der 17-Jährige keine Herzchen, sondern ein Symbol der Terrormiliz IS, das nach Polizeiangaben die Form einer Fahne haben soll. Und ist er überhaupt Afghane, oder gibt er sich nur als solcher aus, weil er als Pakistaner viel schlechtere Chancen hat, Asyl zu bekommen? Sicher ist nur: Mit Messer und Axt richtet der junge Mann bei Würzburg ein Blutbad an, verletzt vier Menschen schwer, wird von der Polizei erschossen. Ein junger Kerl, dem alles offen stand, und der stattdessen Fanatismus, Wahnsinn und Tod gewählt hat.
Was macht diese Tat mit unserer Gesellschaft? Was sind die Folgen jenseits der erwartbaren rechten Krakeelerei, man habe schon immer gewusst, dass unter den Flüchtlingen jede Menge potenzieller Terroristen nach Deutschland gekommen seien?
Das Gift, das der Täter erzeugt hat, wirkt viel subtiler. Eben nicht bei denen, die sowieso vom Übel der „Flüchtlingskrise“ überzeugt sind. Vielleicht auch nicht bei jenen, die Flüchtlinge grundsätzlich für großartige Menschen halten. Sondern bei den vielen prinzipiell Gutwilligen. Bei dem großen Teil der Deutschen, die eine humane Flüchtlingspolitik für richtig halten. Und die sich wünschen würden, dass der Flüchtlings-Teenager von Ochsenfurt einen Mädchennamen in sein Heft gekritzelt hätte – und kein Todessymbol.
Nach der Kölner Silvesternacht kippte die Stimmung
Vielleicht sind die Folgen der Bluttat von Würzburg vergleichbar mit jenen der Kölner Silvesternacht. Köln – es war das Ende der bis dahin schier grenzenlosen „Refugees-welcome“-Begeisterung, der erste Kratzer im politisch korrekten Migranten- und Selbstbild der deutschen Flüchtlingshelfer. Was möglicherweise notwendig war.
Aber es blieb ja nicht beim Zur-Kenntnis-Nehmen der wenig überraschenden Tatsache, dass sich unter hunderttausenden Flüchtlingen auch Verbrecher und Vergewaltiger befinden. Nein, es bedeutete ein Umdenken in der Gesellschaft. Helfer berichteten, wie sie plötzlich angefeindet wurden, warum sie dieses „Pack“ unterstützten. Die AfD bekam Zulauf, die Stimmung kippte. Wir schaffen das? Schluss damit.
Seit Montag werden die jugendlichen Flüchtlinge anders wahrgenommen
Und jetzt? Es ist wie nach Köln. Der „Axt-Terrorist“, wie „Bild“ ihn bezeichnet, hat nicht nur seinen Opfern lebensgefährliche Verletzungen zugefügt. Er hat auch die ganze Gesellschaft weiter verletzt. Hat mit seiner Tat sämtliche Zweifel, Ängste, Vorbehalte befeuert, die auf dem Markt der politischen Orientierungslosigkeit verfügbar sind.
Wie viele Islamisten leben in deutschen Flüchtlingsunterkünften, jederzeit bereit, ein Massaker zu begehen? Keiner weiß es. Aber seit Montagabend sind es mutmaßlich ganz schön viele. Gibt es radikalisierte Wahnsinnige unter den „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“? Hätte man bisher nicht für möglich gehalten. Seit Montagabend werden diese Jugendlichen mit anderen Augen angesehen.
Ohne Idealisten wird eine Gesellschaft inhuman
Würzburg könnte eine weitere Verschlechterung der Stimmung im Land gegenüber Flüchtlingen bewirken – und den Zusammenhalt der Gesellschaft weiter gefährden. Jede Gemeinschaft braucht Menschen, die an etwas glauben, die als Vorbilder dienen, die unbeirrt (und ein bisschen naiv) ihren Weg gehen. Ohne Idealisten wird eine Gesellschaft inhuman.
Der Afghane oder Pakistaner von Ochsenfurt wird die Deutschen nicht zu rigorosen Flüchtlingsfeinden machen. Aber er macht es sogar den Gutwilligen sehr schwer.