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Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern, beim Tagesspiegel-Interview.
© Mike Wolff

Interview mit Thomas de Maizière: „Wir werden mit der Bedrohung leben müssen“

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im Tagesspiegel-Interview über Terror, Fahndung per Gesichtserkennung und seine Erfahrung in der Flüchtlingskrise.

Herr de Maizière, ist es nur eine Frage der Zeit, bis in Deutschland der nächste Terroranschlag Menschenleben fordert?

Wir werden auf lange Zeit mit der terroristischen Bedrohung leben müssen. Wir dürfen unser Denken und Fühlen aber nicht von Terroristen beherrschen lassen. Und wir dürfen nicht das Geschäft der Terroristen betreiben, indem wir selbst dazu beitragen Angst zu verbreiten. Da sind auch die Medien gefragt, Art und Weise ihrer Berichterstattung vor allem über die Täter verantwortungsvoll zu gestalten.

Wie macht man das, wenn eine Terrornachricht die nächste jagt?

Wir brauchen Achtsamkeit im Umgang miteinander und so etwas wie trotzige Gelassenheit im Umgang mit der Gefahr. Ich fand es großartig, wie solidarisch, diszipliniert und fröhlich sich die Fans bei „Rock am Ring“ verhalten haben – sowohl bei der Räumung des Geländes wegen der Terrorwarnung als auch an den nächsten Tagen. Das sind die richtigen Antworten.

Glauben Sie, dass alle Deutschen so cool sind?

Wenn eine Umfrage ergibt, dass 80 Prozent der Deutschen mit einem Terroranschlag in nächster Zeit rechnen, Großveranstaltungen aber trotzdem gut besucht sind, dann ist das ein Zeichen für einen souveränen Umgang der Menschen. Ich war auch von den Reaktionen auf den Anschlag am Weihnachtsmarkt in Berlin positiv beeindruckt.

Im vergangenen Jahr hat der „Islamische Staat“ in Deutschland mehrere Anschläge verübt. Sind wir ein spezielles Ziel der Terrormiliz?

Wir sind kein spezielles Ziel. Wir sind Teil des Westens, und deswegen sind wir ein mögliches Ziel für den sogenannten IS. Für diese Mörderbande ist allein ein freiheitliches System eine Bedrohung. Und an unserem freiheitlichen System werden wir nichts ändern.

Die britische Premierministerin Theresa May sagt: Wenn Menschenrechte beim Kampf gegen den Terror stören, werden sie geändert. Ist das eine akzeptable Haltung?

Die Debatte um zusätzliche Befugnisse im Kampf gegen den Terrorismus haben wir bei uns auch geführt – etwa als es um die Vorratsdatenspeicherung ging. Dabei geht es immer um eine Abwägung von Freiheit und Sicherheit. Ein Entweder/ Oder kann es da nicht geben. Wenn im Kampf gegen den Terror und Kriminalität Maßnahmen eingesetzt werden, die Grundrechte einschränken, dann müssen diese geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Das sagt auch das Bundesverfassungsgericht, und danach richten wir uns.

May hat sich nach den Anschlägen in London auch für eine stärkere Regulierung des Cyberraums ausgesprochen. Die britischen Sicherheitsbehörden stört etwa die Verschlüsselung von Nachrichten bei Diensten wie Whatsapp. Müssen die Anbieter dem Staat Zugriff auf diese Kommunikation ermöglichen?

Die Sicherheitsbehörden brauchen innerhalb und außerhalb des Internet nicht mehr, aber eben auch nicht weniger Befugnisse. Die rechtlichen Voraussetzungen für Eingriffe von Sicherheitsbehörden müssen gleich sein, egal ob ein Tatverdächtiger per Messenger-Dienst oder SMS kommuniziert. Das ist die rechtliche Seite. Die technische ist mindestens genauso wichtig. Wir wollen, dass Messenger-Dienste eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung haben, damit die Kommunikation unbescholtener Bürger ungestört und sicher ist. Trotzdem brauchen Sicherheitsbehörden, wie bei einer SMS auch, unter bestimmten Voraussetzungen Zugriffsmöglichkeiten. Dazu brauchen wir zum Beispiel Instrumente wie die Online-Durchsuchung und Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Und daher ist es ein wichtiger und überfälliger Schritt nach vorn, dass wir noch in den kommenden Sitzungswochen diese Instrumente verbindlich in der Strafprozessordnung regeln. Ich hätte mir auch hier gewünscht, dass man den Koalitionspartner nicht wie so oft in den letzten Jahren zum Jagen tragen musste.

Was genau sind diese beiden Instrumente?

Beide Maßnahmen sind nur unter hohen Voraussetzungen zulässig. Bei der Quellen-TKÜ können die Behörden mit einer Software die laufende Kommunikation eines Verdächtigen auf einem Gerät mitlesen, bevor sie verschlüsselt wird. Bei der Online-Überwachung können auch Festplatten zu Ermittlungszwecken ausgelesen werden. Beides jeweils nur unter strengen Voraussetzungen. Der Maßstab ist immer: Was darf die Polizei im analogen Bereich? Das muss sie auch im Digitalen rechtlich dürfen und technisch können.

Verfassungsschutzpräsident Maaßen hätte aber gern noch „mehr Werkzeuge“, wie er kürzlich sagte. Ist es sinnvoll, die Zugriffsrechte der Geheimdienste weiter auszudehnen?

Wir haben in dieser Legislaturperiode eine Menge für die Sicherheit in Deutschland erreicht. Es gibt dabei viele Dinge, die aber erst künftig greifen. Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung trat vor eineinhalb Jahren in Kraft, wirkt de facto aber erst jetzt, ab dem 1. Juli. So lange haben die Unternehmen Zeit bekommen für die technische Umsetzung. Das Gesetz zur Nutzung der Fluggastdaten wird aus dem gleichen Grund auch erst später wirksam. Wir werden ein europäisches Ein- und Ausreiseregister bekommen: Jeder Drittstaatsangehörige wird zukünftig beim Passieren unserer Außengrenzen registriert. Und wir sind uns in der EU einig, dass wir die wechselseitige Nutzung von sicherheitsrelevanten Daten ermöglichen wollen. All das wird in der nächsten Legislaturperiode geschehen und einen fundamentalen Sicherheitsgewinn bedeuten. Sicher ist, dass wir neue Technologien mehr als bisher für die Sicherheitsbehörden nutzen müssen. Und sicher ist auch, dass wir weiter darüber diskutieren werden, ob unsere föderale Sicherheitsarchitektur in Anbetracht der Herausforderungen wirklich unantastbar bleiben sollte.

Von welchen Technologien sprechen Sie?

Eine der wichtigsten Technologien ist für mich die öffentliche Fahndung durch Gesichtserkennung. Wir haben derzeit zwar Videoüberwachung an Bahnhöfen. Wir haben aber bislang nicht die Möglichkeit, das Bild von beispielsweise einem flüchtigen Terroristen in die Software einzuspielen, sodass ein Alarm angeht, wenn er irgendwo an einem Bahnhof auftaucht. Die Grundrechtseinschränkung ist dabei gering, da Unbeteiligte gar nicht erfasst werden. Bei schweren Straftätern und Gefährdern halte ich das für ein adäquates und brauchbares Mittel. Wir werden noch im Sommer am Bahnhof Südkreuz in Berlin einen Probebetrieb mit Freiwilligen aufnehmen, um zu sehen, ob diese Fahndung durch Gesichtserkennung wirklich funktioniert – auch unter schwierigen Bedingungen, zum Beispiel wenn es dunkel ist oder jemand eine Kapuze aufhat.

Sollte diese Technologie auf Bahnhöfe beschränkt sein?

Wenn die Software wirklich zuverlässig funktioniert, sollte sie bei schweren Verbrechen auch an anderen Stellen zum Einsatz kommen können, an denen öffentliche Videokameras eingesetzt werden. Die Nutzung neuer Technologien und eine stärkere Vernetzung – das sind die zentralen Aufgaben für die Zukunft.

Neue Technologie und bessere Vernetzung: Ist das auch der Schlüssel für den Umgang mit bekannten Gefährdern?

Ja, auch. Es bedarf beim Umgang mit Gefährdern besserer verbindlicherer Absprachen zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern untereinander. Die Zahl der Gefährder im Bereich des islamistischen Terrors hat stark zugenommen. Derzeit sind es knapp 680. Im Januar 2013 waren es noch 140. Dieser Zuwachs bedeutet einen größeren Aufwand für alle. Deswegen ist es richtig, dass allein das Bundeskriminalamt in wenigen Jahren einen Personalzuwachs von 25 Prozent bekommt. Andere sollen folgen.

Viele Menschen glauben, die Terrorgefahr sei durch den Flüchtlingszuzug gestiegen. Was halten Sie denen entgegen?

Wir hatten bei den Anschlägen, die hier verübt wurden ebenso wie bei erfolgreich verhinderten, Fälle, bei denen Terroristen verantwortlich waren, die sich unter die Flüchtlinge gemischt hatten. Das ist Teil der Wahrheit und besonders niederträchtig. Wir hatten aber auch Fälle, in denen sich Menschen hier bei uns radikalisiert haben. Egal ob Flüchtling oder nicht: Wir müssen die menschenverachtenden Ideologien der Extremisten und Terroristen bekämpfen. Dabei müssen die Vertreter des friedlichen Islam lautstark das Wort ergreifen. Unschuldige Flüchtlinge sollte niemand politisch haftbar machen.

Die Zahl der nach Europa strebenden Flüchtlinge hat zuletzt wieder zugenommen, mehrere Millionen warten in Jordanien, Nordafrika und der Türkei auf Weiterreise. Rechnen Sie im Spätsommer mit einem erneuten Ansteigen der Flüchtlingszahlen in Deutschland?

Nein. Allerdings müssen wir in Europa auch viel dafür tun, dass es nicht dazu kommt. Daran arbeiten wir durch Nachbarschaftspolitik, durch die Gespräche mit den Staaten in Nordafrika, durch das Bemühen um eine gemeinsame europäische Asylpolitik. Ähnlich wie das Terrorthema wird uns das Flüchtlingsthema auf viele, viele Jahre intensiv beschäftigen. Einig sind wir uns, dass sich ein Flüchtlingszustrom wie im Jahr 2015 nicht wiederholen darf.

5000 Flüchtlinge, die bereits seit Jahren in Deutschland sind, wurden immer noch nicht erkennungsdienstlich behandelt – es wurden also immer noch keine Fingerabdrücke genommen. Wie kann so etwas passieren?

Die Länder hatten mitgeteilt, dass alle vollständig erkennungsdienstlich behandelt sind. Erst jetzt haben sie uns informiert, dass das doch nicht vollständig der Fall ist. Es wird deshalb jetzt mit Hochdruck daran gearbeitet, das nachzuholen.

Mittlerweile werden mehr als 80000 Fälle noch einmal geprüft, weil es bei vielen 2015 getroffenen Entscheidungen Ungereimtheiten gab. Geht von diesen Fällen ein Sicherheitsrisiko aus?

Bei der vorgenommenen Stichprobenprüfung hat es von 2000 geprüften Fällen keinen einzigen gegeben, in dem die Sicherheitsvorgaben nicht eingehalten wurden. Bei den mehr als 80000, deren ohnehin nach drei Jahren anstehende Prüfung vorgezogen wird, geht es um junge Männer aus den zehn Top-Herkunftsländern, die 2015/2016 gekommen sind. Wir beginnen die vorgezogene Überprüfung dort, weil von denen eher Sicherheitsrisiken ausgehen als von Familien mit Kindern.

Ihr Kollege Wolfgang Bosbach forderte in dieser Woche auch, Migranten ohne Pass an der Grenze abzuweisen – auch wenn sie Asyl suchen. Eine legitime Forderung?

Darüber haben wir schon seit zwei Jahren diskutiert. Nach den europäischen Regeln müssen wir an der Grenze erst die Zuständigkeiten prüfen. Wir hatten deshalb Transitzonen vorgeschlagen – also Zonen, in denen die Flüchtlinge sich aufhalten, bis ihre Identität geklärt ist. Dann wäre vieles leichter gewesen. Aber das war mit der SPD nicht zu machen.

Wie haben Sie denn persönlich die Zeit vor zwei Jahren erlebt, als Hunderttausende auf dem Weg nach Deutschland waren?

Mich haben die Stimmungsschwankungen in Teilen der Bevölkerung sehr bewegt. Von großem Willkommen bis zu großer Ablehnung nach der Kölner Silvesternacht. Und da einen Kurs von Maß und Mitte zu steuern, war schon ungewöhnlich schwierig. Und während ja etwa die Euro-Krise etwas Abstraktes war, bedeutete die Flüchtlingskrise einen spürbaren Einfluss der Globalisierung im Alltag der deutschen Bevölkerung. Sie hat sich täglich ausgewirkt bis hinein in eine Turnhalle, wo die Kinder nicht mehr Sport machen konnten. Das war schon eine tiefgreifende Erfahrung und wird sicher eine bleibende Erfahrung sein.

Und auch eine Prüfung?

Wir, auch ich, standen vor schwierigen Fragen: Wie kommen wir unserer humanitären Verpflichtung nach, überfordern unser Land aber nicht? Wie finden wir da die Balance? Diese Fragen haben wir vertrauensvoll in der Regierung miteinander diskutiert.

Haben Sie denn diese Fragen alle richtig beantwortet? Gerade was die Balance angeht?

Es ist zu früh, um das zu beantworten. Jetzt muss Integration gelingen. Die Flüchtlingskrise insgesamt ist auch noch nicht nachhaltig gelöst, wenn Hunderttausende nach Europa wollen und noch immer Menschen im Mittelmeer ertrinken.

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