Pandemie in Chile: „Wir sterben lieber am Virus, als zu verhungern“
Wie die Covid-19-Pandemie soziale Ungleichheit und Armut in Chile verschärft - und der Präsident versucht, gewaltsame Proteste zu verhindern.
Chiles Gesundheitsminister scheint sein eigenes Land nur schlecht zu kennen. „Ich hatte keine Ahnung vom Ausmaß der Armut und der Enge, in der diese Menschen zusammenleben“, sagte Jaime Mañalich vor wenigen Tagen.
Er sprach jüngst über die Armenviertel am Rande der Hauptstadt Santiago de Chile. Sie erweisen sich derzeit als eines der großen Probleme beim Versuch, das Coronavirus einzudämmen.
Denn rund 15 Prozent der Chilenen, die infiziert sind, gehen mindestens einmal pro Woche arbeiten, wie eine Studie der Universidad de Chile zeigt. Es sind Menschen, die im informellen Sektor beschäftigt sind und ohne ein wenig Einkommen nicht überleben könnten.
Ihre Wohnverhältnisse wiederum sind so beengt, dass sich das Coronavirus in ihren Vierteln explosionsartig ausbreitet. Wegen der prekären Situation kam es Ende Mai bereits zu Protesten in einigen Armensiedlungen an der Peripherie Santiagos. Es gab Plünderungen und Festnahmen.
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Sie zögen es vor, am Coronavirus zu sterben als zu verhungern, sagten die Demonstranten der spanischen Zeitung „El País“. Wie in anderen Ländern Lateinamerikas zeigt sich auch in Chile, dass die Armut eins der größten Hindernisse ist, um die Kurve der Covid-Infektionen abzuflachen.
Die Zahl der Infizierten steigt rasant
Derzeit verzeichnet Chile mehr als 105.000 Covid-19-Fälle und fast 1200 Tote. Es sind zwar Zahlen, die weit unter denen Brasiliens liegen, das in Südamerika die Statistik der Kranken und Toten anführt. Dennoch zählt auch Chile zu einem der Krisenherde der Pandemie, weil die Rate der Ansteckungen immer noch stark steigt.
Es wird nun befürchtet, dass Chiles Gesundheitssystem mit der Zunahme gravierender Fälle ans Limit geraten könnte.
Gesundheitsminister Mañalich hat zugegeben, dass man mit diesem Szenario nicht gerechnet hatten. „Unsere Projektionen sind wie ein Kartenhaus zusammengefallen“, sagte er. Chiles Regierung hatte eigentlich schon Ende April damit beginnen wollen, die strengen Quarantänemaßnahmen zu lockern und die „sichere Rückkehr“ zu einer „neuen Normalität“ zu verkünden. Diese „Normalität“ will sich jedoch bis heute nicht einstellen.
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Wegen der Krise hat der konservative Präsident Sebastián Piñera nun die Opposition trotz großer Animositäten zur Ausarbeitung eines nationalen Aktionsplans eingeladen. Wie überall in Südamerika hat die Pandemie auch Chiles Wirtschaft besonders hart getroffen.
2,5 Millionen Lebensmittelkörbe
Der Zentralbank zufolge schrumpfte sie im April um 14 Prozent, ein „einmaliger“ Negativwert, wie die Regierung geschockt betonte. Sie hat bereits ein Paket zur Stimulierung der Wirtschaft in Höhe von 17 Milliarden Dollar präsentiert, das Kredite für Kleinunternehmer vorsieht sowie finanzielle Hilfen für die Arbeiter im informellen Sektor.
Außerdem sollen 2,5 Millionen sogenannte Lebensmittelkörbe verteilt werden.
Präsident Piñera ist offenbar bemüht, eine Wiederholung des Szenarios von Ende 2019 zu verhindern. Damals gingen Millionen Chilenen wochenlang für eine gerechtere Nation auf die Straße. Das Land zählt zu den wirtschaftlich stärksten Ländern Südamerikas, doch der Reichtum ist extrem ungleich verteilt.
Bildung und Gesundheit kosten viel Geld
Selbst Angehörige der Mittelklasse müssen ums Überleben kämpfen, weil die Lebenshaltungskosten unverhältnismäßig hoch sind. Auch für Bildung und Gesundheit müssen sie enorme Summen aufwenden, weil beide privatisiert worden sind.
Die Demonstrationen mündeten in teils extremer Gewalt, zwei Dutzend Menschen starben, mehr als Tausend wurden verletzt. Schließlich einigte sich Präsident Piñera mit der Opposition auf ein Referendum über eine neue Verfassung, in der auch soziale Rechte verankert werden sollten.
Volkabstimmung über die Verfassung
Sie sollte die alte Verfassung ersetzen, die noch aus der Zeit des Diktators Augusto Pinochet stammt. Das Referendum war für den 26. April angesetzt. Dann kam Corona – und stellte das Land vor eine neue Herausforderung, ohne dass das Verfassungsproblem gelöst war. Die Volksabstimmung ist nun für Oktober geplant
Der Wirtschaftsrat für Lateinamerika und die Karibik warnt davor, dass sich durch die Coronakrise weiterer sozialer Sprengstoff in Chile ansammeln dürfte, weil sie die strukturellen Defizite des Staates offenbare. Selbst Chiles Gesundheitsminister wird offenbar auf diese gerade aufmerksam.