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SPD-Politiker Martin Schulz: „Wir sitzen auf der Titanic“

Der SPD-Europapolitiker Martin Schulz über Merkels Taktik beim Gipfel und die Rolle der Briten.

Kanzlerin Angela Merkel will beim EU- Gipfel eine Vertragsänderung festzurren, damit sich Defizitsünder in der Euro-Zone endlich an die Stabilitätskriterien halten. Was halten Sie davon?

Ich glaube nicht, dass Vertragsänderungen beispielsweise ein Land wie Italien in der jetzigen Situation weiterbringen. Sondern es geht um die Frage, wie Italien, Spanien und andere Staaten in den nächsten Monaten Staatsanleihen mit einem Volumen von mehreren Hundert Milliarden Euro an den Finanzmärkten platzieren können. Diese Länder brauchen klare Entscheidungen in folgenden Fragen: Kommen Euro-Bonds? Tritt der dauerhafte Rettungsschirm ESM früher in Kraft? Handelt der ESM wie eine Bank, die sich bei der Europäischen Zentralbank Geld leihen kann? Wie lange kann die Europäische Zentralbank weiterhin Staatsanleihen aufkaufen? Tut sie das unbegrenzt oder nur zeitlich begrenzt? In diesem Zusammenhang ist die Änderung des EU-Vertrages nur ein Element, das vielleicht notwendig ist – aber eben nur ein Element.

Befürworten Sie nun eine Vertragsänderung oder nicht?

Ich bin skeptisch, was eine Änderung des Lissabon-Vertrages angeht. Denn ich glaube, dass die Menschen in Europa keine Lust haben, dass wir lange und über Jahre hinweg über Strukturen und Institutionen diskutieren. Was wir noch brauchen, sind konkrete Handlungsentscheidungen zur Stabilisierung des Euro. Es ist ungefähr so: Wir sitzen auf der Titanic, und der Eisberg ist schon in Sichtweite. Und auf der Kommandobrücke wird darüber diskutiert, ob wir nicht besser den Motor umbauen.

Wie beurteilen Sie die Ankündigung der deutschen Bundesregierung, sich bei der Vertragsänderung auf keine Kompromisse einzulassen?

Ich kann verstehen, dass die Bundesregierung sich nicht von Großbritannien Preise für eine Reform der Euro-Zone diktieren lassen will, zumal Großbritannien der Euro-Zone gar nicht angehört …

… im Detail geht es darum, dass London wohl nur einer äußerst begrenzten Vertragsänderung zustimmen will – das ist eine Lösung, die EU-Ratschef Herman Van Rompuy zur Diskussion gestellt hat.

Mit dieser Idee will Van Rompuy vermeiden, dass es zu Referenden kommt, welche die gewünschten Änderungen dann ganz zu Fall bringen könnten. Aber man muss doch eines klar sehen: Sowohl EU-Ratschef Herman Van Rompuy als auch Kommissionspräsident José Manuel Barroso und die meisten Regierungschefs der Euro-Zone sind gegen eine Vertragsänderung. Deutschland will sie aber erzwingen, weil Frau Merkel das so will. Mit diesem Vorgehen liefert man natürlich eine Steilvorlage für diejenigen, die sich ihre Zustimmung abkaufen lassen wollen.

Welchen Preis könnten die Briten dafür verlangen?

Das liegt ja auf dem Tisch: Ein „Opt-Out“ bei der Arbeitszeitrichtlinie und – was das Dramatische ist – keine weiteren Regulierungen an den Finanzmärkten. Die Antwort auf diese Forderung der Briten lautet nun, dass nur die 17 Staaten der Euro-Zone eine neue Vertragsvereinbarung schließen, um zu Reformen zu kommen. Aber es ist nicht klug, eine Spaltung der Europäischen Union in Kauf zu nehmen, nur weil die Briten jetzt die Preise für eine Vertragsänderung diktieren. Wie wäre es denn, wenn man sich überlegt, Reformen im Kreis von 26 Staaten – also alle EU-Staaten mit der Ausnahme von Großbritannien – zu verwirklichen? Ich kann mir gut vorstellen, dass man 26 EU-Staaten bei einer vernünftigen Vertragsreform unter einen Hut bringt, selbst Dänemark, das wie Großbritannien beim Euro nicht mitmachen muss. Dann muss Großbritannien sich entscheiden, was es will. Ich glaube nicht, dass Großbritannien in der Lage ist, alle anderen alleine aufzuhalten.

Damit der EU-Vertrag geändert werden kann, müsste auch ein Konvent einberufen werden – es sei denn, das EU-Parlament verzichtet darauf. Ist das denkbar?

Auf keinen Fall wird das Europaparlament auf die Einberufung eines Konvents verzichten. Ich bin allerdings sehr wohl bereit, mit den EU-Regierungen und der Brüsseler Kommission so zusammenzuarbeiten, dass wir ein konstruktives und gemeinsames Mandat für einen Konvent vorab definieren. Wenn sich eine Vertragsänderung schon nicht vermeiden lässt, dann wäre ein solches Vorgehen in der gegenwärtigen krisenhaften Situation auch schon ein Zeichen der Stabilität.

Werden Euro-Bonds eingeführt?

Sie werden in dieser Form nicht kommen, weil die Deutschen sie nicht wollen. Stattdessen wollen aber Frau Merkel und Herr Sarkozy den Euro-Rettungsschirm ESM auf 2012 vorziehen. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie bald hören werden, dass der ESM eine Banklizenz erhalten soll. Mit der Banklizenz kann sich der ESM Geld bei der Europäischen Zentralbank ausleihen und an Staaten weiterverleihen, die sich nicht zu vernünftigen Kreditzinsen am Markt refinanzieren können. Das wird verbürgt durch die Nettozahler-Staaten in der Euro-Zone. Was ist das anderes als ein Bond?

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

Albrecht Meier

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