Klassische Volksparteien unter Druck: „Wir sind Zeugen des Verschwindens der Mittelschicht“
Der französische Gesellschaftsanalyst Christophe Guilluy prognostiziert für Deutschland einen Umbruch im Parteiensystem, wie er in Frankreich bereits stattgefunden hat.
Der französische Gesellschaftsanalyst Christophe Guilluy rechnet damit, dass es auch in Deutschland langfristig zu einer Neuordnung des Parteiensystems ähnlich wie in Frankreich kommt. „Wenn sich Parteien wie die CDU, die CSU und die SPD in der Krise befinden, dann ist das auch ein Ausdruck der Krise der Mittelschicht“, sagte Guilluy im Interview mit dem Tagesspiegel am Sonntag. „Wir sind gerade Zeugen des Verschwindens der Mittelschicht in der westlichen Welt – eine Folge der Globalisierung“, sagte er.
Guilluy ist Autor des Buchs „Le Crépuscule de la France d’en haut“ (etwa: „Der Niedergang der französischen Elite“), das während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2017 breit diskutiert wurde. Der Geograf beschäftigt sich vor allem mit den unteren und mittleren Bevölkerungsschichten in Frankreich, die abseits der urbanen Zentren leben.
"Ein Teil der Unterschicht ist zur AfD abgewandert"
Nach der Ansicht von Guilluy ist auch in Deutschland eine Entwicklung im Gange, wie seit rund 15 Jahren in Frankreich zu verzeichnen sei. Ähnlich wie in Frankreich sei die Mittelschicht nicht mehr homogen, „und ein Teil der Unterschicht ist zur AfD abgewandert“ – vergleichbar mit dem Erstarken des rechtsextremen Front National in Frankreich. In Frankreich habe der im Mai 2017 zum Präsidenten gewählte Emmanuel Macron auf den Wandel „blitzartig“ reagiert und mit der Gründung von „En Marche“ eine Bewegung aus der Taufe gehoben, die nicht mehr nach den Kriterien einer üblichen Partei funktioniere. „Für einen Umbruch, wie er in Frankreich stattgefunden hat, ist es in Deutschland vielleicht noch zu früh“, sagte Guilluy. „Aber auch hier wird es dazu kommen.“
Der Geograf wirft Macron "Populismus von oben" vor
Guilluy warf Macron vor, die Interessen der Bewohner in der Peripherie abseits der Städte nicht zu vertreten. „Macron verkörpert einen Populismus von oben“, sagte er. Um die zunehmende Spaltung zwischen Stadt und Land wieder zu verringern, müssten zusätzliche Wirtschaftsstandorte in der Peripherie geschaffen werden, forderte Guilluy. Dem Front National warf er vor, „keine seriöse Partei“ zu sein, der „ernst zu nehmende Führungskräfte“ fehlten.
Guilluy, der Kommunalpolitiker in Vorstädten und ländlichen Regionen in Fragen des sozialen Wohnungsbaus berät, sprach sich dafür aus, die Forderung nach einer Begrenzung der Einwanderung nicht dem Front National zu überlassen. „Es sind Leute wie Macron, die sich der Frage bemächtigen müssen, wie wir mit den Einwanderungsströmen umgehen“, sagte er. Dabei forderte er, die Perspektive der Geringverdiener im Blick zu behalten: „Wer über ein Monatseinkommen von 1000 Euro verfügt, für den ist Multikulturalismus nicht dasselbe wie für jemanden, der 5000 oder 10.000 Euro verdient.“ Geringverdiener seien von Einwanderung ganz anders betroffen, „weil sie im Zweifelsfall nicht einfach aus ihrem angestammten Viertel wegziehen können“.
Das Interview finden Sie in der gedruckten Ausgabe des Tagesspiegel am Sonntag oder im E-Paper - zu bestellen hier.