Polens Botschafter im Interview: „Wir sind nicht mehr Gefangene der Vergangenheit“
Polens scheidender Botschafter Marek Prawda über die Beziehungen zu Deutschland, Polens Rolle in der EU und die Nutzung der Freiheit.
Herr Botschafter, als Sie im August 2oo6 nach Berlin kamen, befanden sich die deutsch-polnischen Beziehungen in einer schwierigen Phase. Über dem Verhältnis der beiden Nachbarn lag noch der Schatten der Auseinandersetzungen um das Zentrum gegen Vertreibung und in Polen waren deutschlandskeptische Töne zu hören. Wie steht es heute um diese Beziehungen, sechs Jahre später?
Lassen Sie mich diese Frage mit dem Eindruck beantworten: Polen wird in Deutschland zunehmend nicht mehr als Problem betrachtet, sondern als Teil der Lösung. Zwischen beiden Ländern bildet sich, so scheint mir, so etwas wie eine Gestaltungspartnerschaft in Bezug auf unser gemeinsames europäisches Interesse. Und vor allem: Polen und Deutsche sind nicht mehr die Gefangenen ihrer Vergangenheit. Und weil die Beziehungen versachlicht wurden, kommt es auch in Deutschland seltener dazu, dass polnische Äußerungen zur gemeinsamen Geschichte pauschal als „Überempfindlichkeit“ wahrgenommen werden.
Aber die Vergangenheit spielt nach wie vor eine große Rolle. Zu ihrer Berliner Zeit gehörte auch die große Ausstellung „Tür an Tür“, die der 1000-jährigen deutsch-polnischen Nachbarschaft gewidmet war. Und die hat nicht verschwiegen, dass die Geschichte für beide Völker traumatische Erfahrungen enthält.
Die Ausstellung war eine Reise in Zeit und Raum, aber vor allem eine Reise zum besseren Kennenlernen von zwei Völkern, deren Beziehungen wechselhaft waren. So wollte sie auch das Positive an der Nachbarschaft zeigen, das wir – stark von den letzten 150 bis 200 Jahren beeinflusst – häufig übersehen. Manchmal neigen Polen dazu, diese Jahrhunderte als das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg zu sehen. Doch sie behandelte auch die unheilvollen Verkettungen von deutscher und polnischer Geschichte, bei der der Gewinn der einen Seite immer der Verlust der anderen war. Preußen betrieb seine sogenannte „negative Polenpolitik“ – das aufgeteilte, als Staat nicht mehr existente Polen reagierte darauf, indem es sich einen inneren Panzer von Mythen und heroischen Geschichten zulegte. Mindestens fünf Generationen von Deutschen und Polen sind in dieser Tradition aufgewachsen. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestand der Dialog von Polen und Deutschen zunächst aus zwei Monologen, wobei beide Seiten sich auch nicht sehr dafür interessierten, was die andere wirklich dachte.
Ist diese Zeit wirklich vorbei?
In der Ausstellung gab es eine Installation, die den Titel „Zwischen“ trägt und eine Metapher für vielfältige Beziehungen zwischen Menschen und Völkern darstellt. Sie symbolisiert, dass die Geschichte in deutsch-polnischen Beziehungen zwar immer wichtig bleiben wird, aber dass nun „zwischen uns“ ein neuer Raum entsteht, den wir selbst gestalten können. Mir scheint das eine Ortsbestimmung unseres Verhältnisses zu sein. Es bedeutet, dass das Verhältnis von Polen und Deutschen längst nicht mehr nur daran gemessen wird, wie weit wir bei der Überwindung unserer schwierigen Vergangenheit gekommen sind, sondern wie wir diesen neuen Raum ausfüllen.
In der polnischen Botschaft hängt ein Bild, auf dem junge Radfahrer einen Schlagbaum beiseite rücken. Es ist ein Zitat: Das Original ist das bekannte Foto von den deutschen Soldaten, die beim Überfall auf Polen 1939 den Schlagbaum zertrümmern...
Diese Arbeit eines polnischen Künstlers, Zbigniew Libera, illustriert den Umgang mit der Vergangenheit, den ich mir wünsche. Das Bild demonstriert beides: das Gedächtnis für die Vergangenheit und den Mut, aus dem Gefängnis der Geschichte auszubrechen. Es setzt ein neues Bild an die Stelle des alten – und damit die Möglichkeit neuer Deutungen – ohne zu verdrängen, was zwischen den Völkern gewesen ist.
Dieser Wandel ist auch das Ergebnis des langen Prozesses der Annäherung von Deutschen und Polen, der längst zur Geschichte, zu einer gemeinsamen Geschichte geworden ist. Aber was ist inzwischen dazugekommen? Was hat dazu geführt, dass Polen und das deutsch-polnische Verhältnis nicht mehr so anfällig sind für Störungen, die aus den Traumata der Vergangenheit kommen, wie das über die ganze Nachkriegszeit hinweg der Fall war?
Wir sind gegen diese Störungen immuner, wenn wir glauben, dass wir bei der Bewältigung aktueller Probleme in Europa uns gegenseitig konkret helfen können. Das verbindet stärker als alle Versöhnungsrituale. Und das war in den letzten Jahren immer häufiger der Fall. Ein wichtiger Punkt besteht wohl auch darin, dass Polen so gut durch die Krise gekommen ist – als einziges Land in der EU mit Wachstum. Warschau und Berlin entdeckten, dass sie in ihrer Stabilitätskultur weitgehend übereinstimmen. Es hat sich erwiesen, dass manche Lösungsansätze, die während der Krise europaweit empfohlen werden, mit guten Ergebnissen in Polen bereits praktiziert wurden, wie etwa die 1997 in der Verfassung verankerte Schuldenbremse oder eine strenge und effektive Bankenaufsicht.
Sie haben die berühmten Hausaufgaben gemacht.
Wir haben nach dem Systemwechsel, Anfang der neunziger Jahre, eine harte Reformpolitik eingeleitet. In der Krise haben sich diese Reformen bewährt. Polen hatte in den Jahren von 2008 bis 2011 15,7 Prozent Wachstum zu verzeichnen, der Durchschnitt in der EU lag bei -0,5 Prozent. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, dass Polen noch immer zu den ärmeren Ländern gehört – mit 65 Prozent des Durchschnittsbruttosozialprodukts pro Kopf in Europa. Aber vor dem Beitritt 2004 waren es nur 46 Prozent! Die Aufholjagd war also erfolgreich. Als mich Bundespräsident Gauck vor seiner Polenreise fragte, wie wir in Polen heute „Freiheit“ definieren, war meine Antwort, dass sich der Freiheitsgrad Polens maßgeblich darin ausdrückt, dass wir für zehnjährige Staatsanleihen deutlich weniger als drei Prozent bezahlen. Im heutigen Polen wird eine „neue Erzählung“ geschrieben, die weniger vom Freiheitspathos als von vernünftiger Nutzung der Freiheit geprägt ist. Wir haben unsere Verhältnisse selbst in die Hände genommen.
Sie werden jetzt polnischer Botschafter in Brüssel. Wie sieht Polen heute seinen Platz in der Union?
Nun, wir haben zum Beispiel während unserer EU-Ratspräsidentschaft 2011 versucht, die Stabilisierungsanstrengungen in der Euro-Zone zu unterstützen, obwohl wir noch keinen Euro haben. Das damals verabschiedete Maßnahmenpaket zur Verbesserung der Haushaltsdisziplin, das sogenannte Sixpack, trägt unsere Signatur. Zugleich mahnten wir, die Euro-Rettungsversuche sollten nicht auf Kosten des europäischen Zusammenhalts erfolgen – so versucht Polen als eine Klammer zu wirken zwischen der Euro-Zone und denen, die dort noch nicht Mitglied sind. Mich beunruhigt aber auch die Gefahr einer Spaltung Europas in den Köpfen. Der Streit um die Lösung der Krise ist so kompliziert geworden, dass sich die Debatten von den Inhalten entfernen. Was eine ungute Dynamik auslöst: je größer die Distanz zu inhaltlichen Argumenten, desto mehr Platz nehmen die einfachen Rezepte und Ressentiments ein.
Polen grenzt nicht nur an den Westen, sondern auch an den Osten. Welche Rolle spielt heute Ostmitteleuropa für Polen, Ihre östliche Nachbarschaft?
Mit diesen Ländern verbindet uns eine Schicksalsgemeinschaft, zu der wir uns bekennen. Gerade in diese Richtung wollen wir versuchen, Anregungen zu geben, damit die EU positiv assoziiert wird - was nicht überall der Fall ist. Wir glauben, mit dem Beitritt ein gutes Geschäft gemacht zu haben, und wollen das weitersagen.
Im Moment fallen einem in Bezug auf Ostmitteleuropa vor allem die Systemkrisen in Ungarn oder Rumänien auf.
Alle Transformationsländer machen ihre Erfahrungen. Wir können ein Lied davon singen – die Errungenschaften der friedlichen Revolution wurden auch bei uns angefochten. Aber man darf den Glauben an die Demokratie nicht aufgeben, und Polens Beispiel kann instruktiv sein. Es belegt, dass die Einführung von Demokratie wirtschaftliche Dynamik auslösen kann. In einer Zeit, in der wir vieles hinterfragen, wo ein Paradigmenwechsel stattfindet, ist ein solches Beispiel nicht ganz ohne Bedeutung. Es zeigt: Es geht, Demokratie lohnt sich.
Neben den Höhen der großen Politik gibt es die Mühen der Ebene. Ein polnischer Botschafter hat die praktische, bilaterale Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern im Auge, nicht zuletzt in der Grenzregion. Was bleibt da als Ertrag, was als Aufgabe?
Ich möchte da nicht fordernd auftreten. Natürlich gibt es Probleme bei der Infrastruktur. Ich weiß ja, wie lange es gedauert hat, bis die Autobahn zwischen Warschau und Berlin fertig war. Nun schaffe ich die Strecke in fünf Stunden – es ist wirklich ein Erlebnis! Andererseits sind die Bahnverbindungen Stettin-Berlin und Breslau-Berlin immer noch nicht optimal. Nach Berlin müssen an der Grenze die Lokomotiven gewechselt werden, weil die Strecke in Deutschland nicht elektrifiziert ist, so dass man langsamer fahren muss. Da haben wir ganz konkret „ein Europa der zwei Geschwindigkeiten“! Offenbar hat die deutsche Seite andere Prioritäten. Aber wir brauchen mehr Verständnis für das ost-westliche Zusammenwachsen. Wir dürfen nicht sagen, dass sich das nicht rechnet. Es wird sich rechnen – die Züge zwischen Warschau und Berlin zeigen das.
Zu den Problemen des deutsch-polnischen Verhältnisses gehört, dass es eine Schlagseite hat. Das polnische Interesse an Deutschland war immer größer als umgekehrt – was dieses Verhältnis nicht einfacher macht.
Ich glaube, dass sich das seit dem Beitritt Polens zur EU allmählich ändert. Man kann beobachten, dass man in Deutschland auch schon mal die „polnische Brille“ aufsetzt, um die Wirklichkeit in Europa besser zu verstehen. Es gibt eine rege Zusammenarbeit zwischen den Regionen, Städten und Gemeinden. Wobei das Motiv mehr und mehr nicht so dem alten deutsch-polnischen Problemkatalog entstammt, sondern von wirtschaftlichem und geschäftlichem Interesse her rührt. Peter Bender, der Kenner des deutsch-polnischen Verhältnisses, hat einmal gesagt: „Ich interessiere mich für Polen, weil ich mich für Deutschland interessiere.“ Diese Einsicht wird zunehmend zum Leitgedanken in unserem Verhältnis.
Herr Botschafter, Sie haben Deutschland auf unterschiedliche Weisen erfahren: als Student in Leipzig zu DDR-Zeiten, später in Hamburg, als der Umbruch in Polen begann, dann als Diplomat in Köln/Bonn und nun in Berlin.
Meine Deutschlandbilder enthalten die Erfahrung vieler Überraschungen und auch Missverständnisse. Manche hatten etwas mit der Ungleichzeitigkeit der deutsch-polnischen Debatten zu tun. Die Leipziger Kommilitonen, Ende der 70er Jahre, konnten zum Beispiel nicht verstehen, weshalb die Polen sich so gegen den Kommunismus wehrten. Die Hamburger Studenten teilten 1988 meine Euphorie über den Aufbruch von Solidarnosc nicht. Sie fürchteten Instabilität und rieten uns ruhig zu warten, „bis euch Gorbatschow die Freiheit schenkt – irgendwann“. Was sie uns in Aussicht stellten, war eine mildere Variante des Kommunismus – in fünf oder spätestens in 50 Jahren. In Berlin habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich die deutsch-polnischen Ungleichzeitigkeiten, die uns in den Nachkriegsjahrzehnten verfolgt haben, endlich glätten. Wir sind auf dem Weg zu einer neuen Gleichzeitigkeit. Wie im Jahre 1989, als die Flüchtlinge aus der DDR über Warschau in die Bundesrepublik gelangen wollten. Sie hatten einen Traum vom Leben in einem freien Land. Ihr Traum war Teil des unsrigen. Es war in der Vergangenheit nicht immer so, dass Polen und Deutsche gemeinsame Träume hatten – und dass diese auch noch in Erfüllung gingen. Endlich sind wir in eine Phase unseres Verhältnisses eingetreten, in der wir an einem Strang ziehen.
Das Gespräch führte
Hermann Rudolph.