Internationaler Tag gegen Rassismus: „Wir sind in einem System aufgewachsen, in dem Rassismus die Normalität ist“
In Deutschland sei Widerstand gegen Rassismus stärker geworden, sagt Josephine Apraku. Gleichzeitig verhärte sich die rassistische Front. Ein Interview.
Josephine Apraku ist Afrikawissenschaftlerin und leitet zusammen mit Jule Bönkost das Institut für diskriminierungsfreie Bildung in Berlin. Die 33-Jährige schreibt als freie Autorin unter anderem für das Onlinemagazin Edition F und für die Zeitschrift Missy Magazine. Seit 2008 setzt sich Apraku für die Umbenennung dreier Straßen im Afrikanischen Viertel ein, die nach Kolonialisten benannt sind.
Am Samstag ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Wo steht Deutschland derzeit, was den Rassismus betrifft?
Es zeigt sich aktuell sehr stark, dass Deutschland ein großes Problem mit Rassismus hat, sich dessen aber gar nicht so richtig bewusst ist. Nehmen wir als Beispiel den Anschlag in Hanau. Das Ganze ist erst vor kurzem passiert und jetzt scheint das Thema bereits nicht mehr relevant zu sein. Das liegt natürlich auch daran, dass der Corona-Virus momentan alles überschattet. Ich finde es fatal, wie parteipolitisch mit Hanau umgegangen wird. Tatsächlich sieht es bisher so aus, als ob keine Konsequenzen daraus gezogen werden. Ähnlich sieht es mit der Debatte um die geflüchteten Menschen aus und der Tatsache, dass die Türkei die Grenzen geöffnet hat.
Inwiefern?
Vor einigen Jahren wurde noch über die AfD gewettert, da sie die Grenzen verteidigen wollte. Heute setzen wir genau das um. Aber wovor müssen wir uns eigentlich schützen? Ich finde es interessant, dass diese Frage gar nicht gestellt wird. Es gibt einfach diese Perspektive: Alle wollen her. Aber wer sind diese alle? Aus welchem Grund flüchten sie? Das wird in der Debatte gar nicht verhandelt.
Was müsste sich in der Politik ihrer Meinung nach ändern?
Wir brauchen erst einmal Beauftragte, die sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen. Das Thema wird aus politischer Perspektive nicht adäquat angegangen, das zeigt ja auch die Tatsache, dass die Akten der NSU so lange unter Verschluss sein sollen. Es gibt wenig Menschen in der Politik, die eine Expertise oder persönliche Erfahrungen in Hinblick auf das Thema Rassismus haben. Natürlich gibt es bereits ein paar Politiker, ich denke da etwa an Aminata Touré oder Karamba Diaby. Aber sie sind die Ausnahme und nicht die Regel. Das muss sich ändern. Es müssen mehr sprechen, die sich mit dem Thema auskennen.
Wer spricht denn zurzeit in der Politik über Rassismus?
Es sind vor allem Menschen, die selbst nicht negativ betroffen sind. Und die das dann entsprechend wenig ernst nehmen. Sie sind in Hinblick auf das Thema privilegiert, sollen aber Entscheidungen für eine Minderheit treffen. Ich finde, hier lässt sich momentan sehr gut nachvollziehen, dass Minderheiten wenig mitgedacht werden und das finde ich besonders fatal in einem demokratischen System. Wir müssen das Problem Rassismus klar benennen.
Wo fängt Rassismus an?
Es gibt kein geteiltes Verständnis darüber, was Rassismus eigentlich ist. Das ist ein großes Problem. Wenn wir in Deutschland über Rassismus sprechen, dann geht es in der Regel um die NS-Zeit. Also ist Rassismus in vielen Köpfen schon vorbei, weil die NS-Zeit auch vorbei ist. Aber Rassismus ist der Alltag und nicht die Abweichung. Das kann sich bereits in der Frage zeigen: Wo kommst du wirklich her? Wir alle sind in einem System groß geworden, in dem Rassismus die Normalität ist.
Wie drückt sich das aus?
Das zeigt sich zum Beispiel anhand des Lehr- und Lernmaterials in der Schule, den medialen Berichterstattungen, an Sachen, die wir im Fernsehen sehen, an Werte- und Normen, die wir in unseren Familien kennenlernen. Wenn, und wirklich wenn wir über Rassismus sprechen, dann sprechen wir über Extremfälle, wie Hanau einer ist. Aber selbst in solchen Zusammenhängen sprechen wir dann über vermeintliche „Fremdenfeindlichkeit“ oder „Ausländerfeindlichkeit“. Diese Ausdrücke suggerieren, dass die Menschen, um die es geht, Fremde sind, also nicht zugehörig. Das sind sie nicht. Es mangelt an einem Verständnis von Diskriminierung als strukturell.
Rassismus sitzt also tief in unserer Gesellschaft?
Ich würde sagen: Rassismus ist ein Faden im Tuch unserer Gesellschaft, der alles durchzieht und immer da ist.
Erleben Sie Rassismus selbst im täglichen Leben?
Klar, und auch hier sieht man deutlich, dass Rassismus strukturell ist. Es geht nicht nur darum, dass jemand das N-Wort mir gegenüber sagt. Es geht mir letztlich, vor allem mit meiner Arbeit, um die Möglichkeiten, die ich in der Gesellschaft habe. Wenn ich mich etwa auf eine Wohnung oder einen Job bewerbe. Rassismus zeigt sich im alltäglichen Leben.
Sie haben das Institut für diskriminierungsfreie Bildung in Berlin gegründet. Sie geben Workshops in Organisationen und schreiben unter anderem auch rassismuskritische Unterrichtsmaterialien. Würden Sie sagen, dass Bildung der Schlüssel ist, um Rassismus zu bekämpfen?
Die Frage ist, wovon sprechen wir, wenn wir über Bildung reden. Mit Blick auf die schulische Bildung würde ich erstmal nicht davon ausgehen, dass sie dazu beiträgt, dass dem Rassismus kritisch begegnet wird. Ich glaube aber auch nicht, dass rassismuskritische Bildungsangebote wie wir sie in unserem Institut anbieten, automatisch dazu führen, dass Leute etwas kritisch reflektieren. Viel wichtiger ist: Hat die Person überhaupt Interesse daran, das zu tun? Denn sie muss dann alles was für sie normal und selbstverständlich ist, infrage stellen. Viele denken, dass die eigene Perspektive universal ist. Das ist nicht der Fall.
Treffen Sie häufig bei Ihrer Arbeit auf eine Abwehrhaltung?
Ja, deshalb habe ich nicht das Ziel zu sagen, dass wir alle Personen mitnehmen wollen. Zum Glück arbeiten wir auch nicht auf Provision. Ich kann nur ein Lernangebot machen. Was die Leute damit machen, darauf habe ich keinen Einfluss. Ich mache mein bestes: Ich schaue, welche Möglichkeiten ich habe, Reflektionsräume zu öffnen. Ich bereite einen roten Faden vor und bin darauf vorbereitet, dass Abwehr kommt.
Was kann jeder Einzelne machen, um gegen Rassismus anzugehen?
Der erste Schritt ist es, für sich selbst anzuerkennen, dass wir alle auf unterschiedliche Art und Weise Teil dieses rassistischen Systems sind. Im zweiten Schritt sollten wir sich fragen: Bin ich in Hinblick auf das Thema Rassismus privilegiert? Also: Bin ich eine weiße Person, die Vorteile genießt, weil zum Beispiel Schwarze Menschen benachteiligt werden, etwa auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt oder durch Benotung in der Schule. Man muss das anerkennen und sollte versuchen, nicht in eine Form von Ohnmacht zu geraten.
Wie meinen Sie das?
Ich mache oft die Erfahrung, dass weiße Menschen in so eine Art Ohnmacht geraten. Sie sagen, dass sie weiß sind und sich so gar nicht gegen Rassismus wenden können. Das ist weder hilfreich noch bedeutsam, wenn wir uns dem Thema kritisch nähern wollen. Die Frage ist vielmehr: Wo ist meine Verantwortung? Wie kann ich meine Privilegien für Rassismuskritik einsetzen. Wenn weiße Menschen über Rassismus reden, wird das nicht gerne gehört. Aber es wird vergleichsweise lieber gehört, als wenn Schwarze Menschen oder People of Color über Rassismus sprechen.
Also Rassismus benennen und ansprechen, wäre ein erster Schritt.
Genau. Und was vielen weißen Menschen schwer fällt: Wenn rassistische Äußerungen gemacht werden, ist es wichtig zu intervenieren. Man muss unterbrechen, damit klar ist: Nein, wir sehen das nicht alle so. Es gibt auch andere Perspektiven darauf. Das war problematisch, was du gesagt hast, denn das war rassistisch. Das ist wichtig. Und um all das machen zu können, ist es ebenso wichtig anzuerkennen, dass das Lernen über Rassismus ein lebenslanger Prozess ist, weil Rassismus sich mit der Gesellschaft verändert. Wir müssen deswegen wachsam dafür bleiben, welches gegenwärtige Gewand Rassismus trägt. Und das verändert sich eben.
Wie würden Sie das jetzige Gewand denn beschreiben?
Ich weiß gar nicht, ob ich das kann. Das was Rassismus bewirkt, bleibt ja im Grunde gleich. Rassismus bewirkt, dass weiße Menschen übervorteilt werden in einem rassistischen System. Das ist der Kern. Und der bleibt bestehen, egal welches Gewand Rassismus gerade trägt.
Haben Sie das Gefühl, dass sich etwas in der Zivilgesellschaft tut?
Der Widerstand gegen Rassismus ist stärker geworden, aber gleichzeitig verhärtet sich die rassistische Front. Es passiert beides gleichzeitig. Und ich glaube, dass es daher umso wichtiger ist, sich klar gegen Rassismus zu positionieren im Alltag. Ich finde es schwierig zu bewerten, wo uns das hinführt. Es gibt aber immer wieder positive Beispiele, die eine richtige Richtung zeigen.
Können Sie eines nennen?
Da sind zum Beispiel die Straßenumbenennungen im sogenannten Afrikanischen Viertel. Ich habe 2008 angefangen, dort Stadtrundgänge zu machen und mich, gemeinsam mit vielen anderen, dafür einzusetzen, dass da etwas passiert. Die Straßennamen sind noch nach Kolonialisten benannt. Jetzt kam doch relativ schnell der Beschluss der Stadt, dass die Straßen umbenannt werden. Das muss noch umgesetzt werden. Es gibt bereits Namensvorschläge. Ich bin gespannt, wie das weitergeht.
Glauben Sie, dass Rassismus in der Zukunft nur noch ein kleines Problem sein wird?
Ich mache meine Arbeit, weil meine Vision schon ist, dass Menschen insgesamt gleichberechtigt in einer Gesellschaft leben können. Das meine ich nicht nur in Hinblick auf Rassismus. Ich denke da zum Beispiel an Sexismus oder der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Das ist meine persönliche Vision. Ich denke, ich werde nicht allzu viel davon mitbekommen in meiner Lebenszeit. Das macht die Vision für mich aber nicht weniger wert.
Elena Matera
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