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Olaf Scholz (SPD), Bundesfinanzminister
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Vizekanzler Olaf Scholz: „Wir müssen mutig sein, es geht ums Ganze“

Vizekanzler Olaf Scholz spricht über das Nahles-Drama der SPD, die Generation YouTube und warum er eine weitere große Koalition ausschließt. Ein Interview.

Herr Scholz, welchen Anteil haben Sie am Absturz der SPD?

Niemand kann sich bei einem solchen Wahlergebnis von Verantwortung freisprechen. Und das sollte auch niemand tun. Wir haben vor etwas über einem Jahr entschieden, dass wir die Koalition mit CDU und CSU fortsetzen, nachdem die Jamaika-Verhandlungen Ende 2017 gescheitert waren. Und zwar im Wissen darum, dass das für die SPD nicht ohne Risiko ist. Wie kompliziert die Lage ist, zeigt sich daran, dass wir in der Regierung viele unserer Vorhaben durchgesetzt haben, das Europawahlergebnis aber trotzdem so schlecht ausgefallen ist. Auch aus diesem Grund haben wir in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben, dass es eine Halbzeitbilanz geben soll.

Was muss besser werden?

Wir haben uns in der SPD-Führung und im Parteivorstand vorgenommen, genau darüber zu diskutieren. Wir wissen, dass wir nur mit einer modernen, programmatisch erneuerten SPD die Hoffnung haben können, dass man uns wieder mehr zutraut. Das alleine wird nicht reichen.

Da Sie immer von „Wir“ sprechen: Tragen Sie als Vizekanzler und Finanzminister nicht eine ganz besondere Verantwortung für das Desaster bei der Europawahl?

Die Frage habe ich schon beantwortet, deshalb will ich mal etwas grundsätzlich werden. In jüngster Zeit haben Millionen von Menschen das Video des Youtubers Rezo gesehen. Das Besondere an seinem Auftritt war, dass er ziemlich politisch ist. Davon könnten wir Politiker und Sie als Medienvertreter doch etwas lernen. Wer nicht danach fragt, was sich politisch in Deutschland tun muss, sondern vor allem danach, wer in der Politik wen mag, ist im Vorabendprogramm besser aufgehoben. Lassen Sie uns über Politik reden.

Bis zum Wahlabend hatten Sie das Rezo-Video gar nicht angeschaut…

Unterdessen schon. Ich hatte es in der Woche vor der Wahl nicht komplett geschaut, aber schon viel über die Inhalte gelesen. Die Debatte um das Rezo-Video beweist doch sehr klar: Wir haben eine Öffentlichkeit, die viel fragmentierter ist als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das gilt nicht nur für die Zahl der Fernsehsender, der Radiowellen, der Zeitungen, sondern auch für die sozialen Medien, die oft eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten folgen. Unsere Aufgabe in Politik und Medien ist es, herauszufinden, wie die Bürgerinnen und Bürger, die sich um unzählige Lagerfeuer versammeln, wieder ein gemeinsames Gespräch führen können. Die Aufgabe von Politik ist es, einen Weg zu finden, irgendwie an allen Lagerfeuern präsent zu sein.

Politik wird von Menschen gemacht. Am Dienstag will sich Andrea Nahles in einer vorgezogenen Wahl erneut zur Fraktionsvorsitzenden wählen lassen. Haben Sie ihr dazu geraten?

Andrea Nahles und der Fraktionsvorstand haben diese Entscheidung getroffen...

…an der es harte Kritik in der SPD gibt.

…weil sie befürchten, dass die kommenden Wochen und Monate nur noch von der Debatte geprägt worden wären, ob sich die Fraktionschefin im Herbst wieder durchsetzen kann. Da die Fraktion gute Arbeit leisten muss, finde ich es richtig, dass sie sich nach der nächsten Woche ganz auf die Arbeit für unser Land konzentrieren kann.

Warum wird öffentlich vor allem Andrea Nahles für die Misere der SPD verantwortlich gemacht – nicht aber Olaf Scholz als erster Mann der SPD im Kabinett?

Ach, ich weiß nicht, ob ihr Befund stimmt. Viel wichtiger ist doch: Andrea Nahles setzt in einer sehr schwierigen Situation für die SPD viel im Interesse der Bürgerinnen und Bürger durch. Das wird zu Recht breit respektiert – und verdient Unterstützung.

In den Umfragen aber steht sie viel schlechter da als Sie.

Uns geht es beiden um die Werte für die SPD. Ich bin seit 1975 Mitglied meiner Partei. Sie können sich vorstellen, wie sehr ich unter der Lage der SPD leide. Aber ich glaube doch, dass wir das Ruder herumreißen können.

Das sehen viele Genossen anders.

Und ich verstehe die sehr gut. Gerade verändert sich die politische Landschaft überall in Europa. Die Verhältnisse und die Zustimmungswerte ändern sich schnell und in alle Richtungen. Die SPD kann trotz ihrer jüngsten Wahlergebnisse in so einer Situation auch wieder nach vorne kommen. Ich rate, dass wir uns mit den tieferen Ursachen dieser Entwicklung beschäftigen.

Woher rührt der Vertrauensverlust in die Sozialdemokratie?

Wir sind zu lange als unstet wahrgenommen worden. Das versuchen wir seit Regierungsantritt zu verändern. Die Entscheidungen für unser Sozialstaatskonzept und für die Grundrente haben wir sehr sorgfältig vorbereitet. Man hat uns früher auch oft als taktisch wahrgenommen. Auch das ändern wir. Jeder muss verstehen, dass wir unser Anliegen aus tiefer politischer Überzeugung verfolgen.

Drittens war es ein Fehler, in der vergangenen Legislaturperiode zu glauben, dass wir mit gutem Regieren alleine durchkommen. Wir mussten einsehen: Es reicht nicht. Deshalb haben wir aus der Erfahrung den Schluss gezogen, dass wir gleichzeitig politische Perspektiven entwickeln, die über die konstruktive Zusammenarbeit in der Koalition hinausweisen. Offenbar hat die Zeit nicht gereicht. Aber das Ergebnis der Europawahl mag uns sogar helfen.

Jetzt sind wir gespannt.

Wir sollten nicht herumdrucksen. Wir sind bei einem historischen Tief angelangt. Jetzt müssen wir die Wahrhaftigkeit des Moments nutzen. Wir müssen mutig sein. Es geht ums Ganze.

Ist es glaubwürdig, wenn die SPD nach dem Wahldebakel plötzlich eine engagiertere Klimaschutzpolitik verspricht?

Bloß zu reagieren, wäre kein politisches Konzept. Es geht ums Agieren. Und wir haben ja längst damit angefangen.

Ist Ihnen persönlich das Thema Klimaschutz wirklich wichtig?

Unbedingt! Ich bin in den 70er und 80er Jahren politisch sozialisiert worden mit Büchern wie „Menschheit am Wendepunkt“ und war auf vielen Anti-Atomkraft-Kundgebungen. Was ich damals gelernt habe, habe ich nie mehr vergessen.

Das hat man bislang in Ihrem Regierungshandeln aber nicht immer gemerkt.

Dann sind Sie schlecht informiert. Beim großen Thema des menschengemachten Klimawandels müssen wir noch in diesem Jahr wegweisende Entscheidungen treffen, deshalb haben wir auf einem Klimakabinett bestanden. Dazu gehört die Entscheidung zum Ausstieg aus der Kohleverstromung innerhalb von 20 Jahren. Das ist ein großes Rad, das wir da als Industrie- und Hochtechnologieland drehen.

Und wir setzen die europaweit getroffenen Entscheidungen zur Begrenzung der CO2-Emissionen bei Pkw und Lkw um. Das fordert nicht nur die Automobilindustrie. Es darf nicht bei Formelkompromissen und halben Lösungen bleiben. Jetzt zählen nur noch Taten und nicht Sprüche.

Sie sagen, die Menschen seien das Taktieren in der Politik leid. Nun haben Sie kurz vor den Wahlen in Europa und Bremen ein fragwürdig finanziertes Grundrentenkonzept vorgelegt, also taktiert.

Das Finanzierungskonzept ist sauber kalkuliert und tragfähig. Und es ist Anfang des Jahres angekündigt worden, dass der Arbeitsminister im Mai einen Gesetzentwurf vorlegen wird. Angesichts der vorangegangenen Debatten war aber niemand so naiv zu glauben, dass das ein Spaziergang wird und die Union innerhalb von zwei Tagen sagt, das ist ja klug, da stimmen wir einfach zu. Ich habe aber schon die Hoffnung, dass CDU und CSU die Grundrente am Ende mittragen werden.

Im Streit um die Klimapolitik spiegelt sich die Zerrissenheit des Landes. Auf der einen Seite das urbane Milieu mit vielen Grünen-Wählern, denen es beim Klimaschutz gar nicht schnell genug gehen kann. Und dann gibt es Menschen, die der Kohleausstieg direkt trifft, etwa in der Lausitz, und die nun AfD wählen. Wie kann die SPD in dieser Lage bestehen?

Das ist ja gerade mein Ziel, diese Spaltung zu verhindern, indem wir richtige Entscheidungen treffen. Manche meinen ja fatalerweise, den Klimawandel gebe es gar nicht. Andere meinen, dass man keine Rücksicht mehr auf die Betroffenen nehmen muss nach dem Motto: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Auch das ist falsch. So etwas merken sich die Leute, die von Strukturwandel bedroht sind, sehr genau.

Das ist ein Ausdruck von unglaublichem Zynismus, vor dem ich nur warnen kann. Schauen Sie sich in der westlichen Welt um: Rechtspopulisten sind überall dort stark geworden, wo man von Strukturwandel betroffene Regionen sich selbst überlassen hat – ob das der „Rustbelt“ in den USA ist oder der Nordosten Frankreichs.

Was tun Sie dagegen?

Vorausschauend Politik machen. Ich habe sehr dafür geworben, dass in der Kommission für den Strukturwandel zuerst entschieden wurde, dass die betroffenen Regionen eine glaubhafte Perspektive auf eine Zukunft bekommen, wenn es um Arbeit und Beschäftigung geht. Und zwar nicht nur diejenigen, die heute dort arbeiten, sondern auch deren Kinder und Enkel. Das ist gelungen.

Wir haben gerade ein Sofortprogramm und Eckpunkte für den Strukturwandel beschlossen. Zusammenhalt kann man nur durch konkrete Taten stärken, nicht durch abstrakte Bekenntnisse.

Müssen Sie ein strenges Klimaschutzgesetz und eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung in der großen Koalition durchsetzen, damit der SPD-Bundesparteitag im Dezember Sie nicht zum Ausstieg aus der Regierung zwingt?

Die SPD wird jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wenn das Klimaschutzgesetz verschleppt wird. Der Klimawandel ist ein dramatischer Vorgang für unsere Politik, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Das Gleiche gilt für die Entscheidung zur Grundrente.

Und wenn das nicht der Fall ist, empfehlen Sie dem Parteitag den Ausstieg?

Ich kann nur jedem raten, die Halbzeitbilanz sehr ernst zu nehmen. Ich tue es.

Kann die SPD mit unter 15 Prozent noch einen Kanzlerkandidaten aufstellen?

Natürlich. Nach dieser bitteren Niederlage nehmen wir den Kampf um mehr Zuspruch auf, dass kann ich Ihnen versprechen.

Und das werden dann Sie sein?

Ich habe Anfang des Jahres alle Fragen zu diesem Thema ein für alle Mal beantwortet, damit ich sie künftig nicht mehr beantworten muss…

Sie sagten damals, Sie trauten sich die Aufgabe zu. Unabhängig von Umfragewerten?

Ich habe ja gerade gesagt, wir arbeiten daran, wieder bessere Werte zu erhalten. Dass wir gegenwärtig Trauer tragen, ja, das ist wahr. Aber das wird uns nicht davon abhalten, den Kampf aufzunehmen.

Rechnen Sie mit einem Kanzlerkandidaten der Grünen?

Der nächste Bundestagswahlkampf wird ganz besonders sein, da Angela Merkel dann ihre Karriere beendet. Es wird mehrere Herausforderinnen oder Herausforderer geben, aber keine Amtsinhaberin mit Kanzlerbonus. CDU und CSU haben kein Abonnement darauf, stärkste Kraft zu werden. Und es gibt keine Gesetzmäßigkeit, die der SPD diese Spitzenposition verwehrt.

Schauen Sie sich doch um in Europa! Sogar Parteien, die um die 20 Prozent erreichen, schicken sich an, Regierungen zu bilden. Da würde ich mich nicht auf alte Gewissheiten verlassen. Da wird auch eine Partei wie die SPD eine Chance haben, die auf Zusammenhalt setzt bei den entscheidenden Zukunftsfragen wie Energiewende, Mobilitätswende, Digitalisierung, Weiterentwicklung der Europäischen Union und der Sicherheitsarchitektur in einer komplizierteren Welt.

In der SPD macht das Wort vom „progressiven Bündnis“ die Runde. Ist die Zeit reif für eine rot-rot-grüne Koalition im Bund?

Ich bin ganz sicher, dass es nicht vertretbar wäre, dass wir nach der vierten großen Koalition noch eine fünfte bekommen. Drei große Koalitionen in Folge würden der Demokratie in Deutschland nicht guttun. Eine Fortsetzung der heutigen Koalition nach 2021 will niemand – nicht die Bürgerinnen und Bürger, nicht die Union – und wir Sozialdemokraten schon gar nicht.

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