Ban Ki-moon zur Flüchtlingskrise: Wir können es uns leisten, zu helfen
Die Lasten in der Flüchtlingskrise müssen besser verteilt werden, meint der UN-Generalsekretär in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel.
Im September werden die Staats- und Regierungschefs bei der UN-Generalversammlung über eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit debattieren: wie reagieren wir auf die riesigen Flüchtlings- und Migrationsströme?
Krieg, Menschenrechtsverletzungen, mangelnde Entwicklung, Klimawandel und Naturkatastrophen führen dazu, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen. Mehr als 60 Millionen Menschen, die Hälfte davon Kinder, sind vor Gewalt und Verfolgung geflohen und sind nun Flüchtlinge oder Binnenvertriebene. Weitere 225 Millionen sind Migranten, die ihr Land verlassen haben – in der Hoffnung auf ein besseres Leben oder um zu überleben.
Aber dies ist nicht eine Krise der Zahlen. Es ist eine Krise der Solidarität. Fast 90 Prozent der Flüchtlinge halten sich in Entwicklungsländern auf. Acht Staaten bieten der Hälfte aller Flüchtlinge weltweit Zuflucht. Und nur zehn Staaten finanzieren 75 Prozent des Budgets der Vereinten Nationen, mit dem wir die Nöte dieser Menschen zu lindern versuchen.
Wenn wir die Verantwortung gleich verteilen würden, gäbe es keine Krisen in den Aufnahmeländern. Wir können es uns leisten zu helfen, und wir wissen, was wir tun müssen, um mit großen Wanderungsbewegungen von Migranten und Flüchtlingen umzugehen. Trotzdem lassen wir es zu häufig geschehen, dass Angst und Ignoranz entstehen. Menschliche Nöte geraten so in den Hintergrund, und der Fremdenhass wird stärker vernehmbar als die Vernunft.
Die Staaten an vorderster Front dieser Krise mühen sich jeden Tag, um mit dieser Herausforderung fertig zu werden. Ich selbst habe am Montag nun einen Bericht mit dem Titel „In Sicherheit und Würde“ veröffentlicht, der Empfehlungen enthält, wie die Welt gemeinsam besser handeln kann.
Erstens müssen wir unsere gemeinsame Menschlichkeit anerkennen. Millionen Menschen erdulden extremes Leid. Tausende sind im Mittelmeer ums Leben gekommen, im Andamanischen Meer, in der Sahelzone und in Zentralafrika. Flüchtlinge und Migranten sind nicht einfach „die Anderen“ – sie sind so verschieden wie die menschliche Familie selbst. Diese Wanderungsbewegungen sind globale Phänomene, die ein globales Teilen der Verantwortung erforderlich machen.
Flüchtlinge sind keine Bedrohung
Zweitens sind Flüchtlinge und Migranten keine Bedrohung. Sie tragen zu Wachstum und Entwicklung in den Aufnahme- und Herkunftsländern bei. Je besser die Ankommenden integriert sind, um so größer wird ihr Beitrag sein.
Drittens besitzen die Politiker eine Verantwortung, sich öffentlich gegen Diskriminierung und Intoleranz zu wenden und denen entgegenzutreten, die mit Panikmache und Entzweiung auf Stimmenfang gehen.
Viertens müssen wir die Gründe für erzwungene Vertreibung vermehrt beachten. Die UN wollen ihre Arbeit im Bereich der Konfliktprävention weiter stärken. Ein neues und kraftvolles Instrument ist die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung, die von allen 193 Mitgliedsstaaten letztes Jahr beschlossen worden ist. Sie enthält auch einen starken Fokus auf Gerechtigkeit, starke Institutionen und friedliche Gesellschaften.
Fünftens müssen Staaten ihre internationalen rechtlichen Verpflichtungen einhalten, auch die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Staaten, in denen die Flüchtlinge zuerst ankommen, sollten die Bürden nicht allein schultern müssen. In meinem Bericht schlage ich einen „weltweiten Pakt für geteilte Verantwortung gegenüber Flüchtlingen“ vor.
Die Krise ist nicht unüberwindbar
Es gibt die absolute Notwendigkeit, mehr gegen Menschenhändler und Schlepper zu tun. Die Zahl der Migranten wird weiter steigen. Die Krise ist nicht unüberwindbar. Aber sie kann nicht von Staaten allein gehandhabt werden. Der Weltgipfel für humanitäre Hilfe in Istanbul am 23. und 24. Mai soll deshalb die Staaten, aber auch andere Akteure dazu bewegen, neue Verpflichtungen einzugehen.
Seit Jahrtausenden sind Menschen von einem Ort zum anderen gezogen. Freiwillig oder aufgrund widriger Umstände. Wir müssen unserer Pflicht nachkommen, diejenigen zu beschützen, die vor Verfolgung und Gewalt fliehen. Und wir sollten die Chancen sehen, die Flüchtlinge und Migranten einer Gemeinschaft bieten. Nur dann können wir eine bessere und gerechtere Zukunft für alle schaffen.
Der Autor ist Generalsekretär der Vereinten Nationen.
Übersetzt von Monja Sauvagerd.
Ban Ki-Moon