Arme Bohème: Wir Hungerkünstler
Kein Geld, aber ein tolles Leben: Früher galt die Bohème als schick. Heute, in Zeiten von Hartz IV, geht es bei den Kreativen um Bescheidenheit.
Viel zu feiern gibt es im Café Momus nicht mehr. Die Tische, an denen Rodolfo, Marcello und Konsorten sitzen, sehen ganz so aus, als hätten sie die letzten paar Jahre in der Requisite vor sich hingestaubt und den Kinderchor, den Puccini hier eigentlich vorgesehen hat, haben sie eh schon gestrichen. Wie derzeit fast überall an Deutschlands Bühnen spielt man auch am Ulmer Stadttheater „La Bohème“: Eine Handvoll Sänger aus aller Herren Länder mimt das lustige Künstlervölkchen, das bei der Liebe und beim Geldausgeben kein Morgen kennt.
Mit dem kleinen Unterschied, dass es diesmal wirklich ans Eingemachte geht: Gerade hat der Magistrat der Stadt die Sparschraube für das Theater nochmals um ein paar Umdrehungen angezogen und will aus dem ohnehin knapp kalkulierten Etat noch ein paar Hunderttausender herausquetschen. Da soll die „Bohème“ zeigen, dass die jämmerlichen Verhältnisse der Pariser Hungerkünstler gar nicht so weit von dem entfernt sind, was auch den Ulmer Theaterleuten blühen könnte. Die Künstler-WG kampiert hier auf der Hinterbühne, und um dem Alltag wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen, wirft man sich ein wenig bunten Kostümplunder über und spielt Weihnachten in Paris.
Tatsächlich braucht es – anders als bei Verdis „Aida“ oder Mozarts „Figaro“ – nur wenig, um Puccinis Opernhelden ins 21. Jahrhundert zu ziehen. Jogginghosen und Trainingsjacken, Spraydosen und Supermarkt-Bier – fertig ist der Künstler, dem es heute selten besser geht als seinen Geistesgenossen auf der Bühne. Erst recht, wenn er in Berlin wohnt: Zwar ist die Stadt unter Freischaffenden und Kreativen so populär wie keine andere Metropole (allein zwischen 1998 und 2006 stieg die Zahl der in Berlin wohnenden Künstler um 37 Prozent!), doch der Überlebenskampf für die inzwischen knapp 21 000 Maler, Musiker und Literaten ist hier oft noch härter als im saturierten Westen, wo traditionell mehr Mäzene und Sponsoren leben. Viele Künstler, so stellte eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zur Einkommenssituation der Kreativberufe in Berlin im vergangenen Jahr fest, müssen mit 700 Euro netto auskommen. Und auch wenn inzwischen die Künstlersozialkasse dafür sorgt, dass kein Kreativer mehr an Schwindsucht alias Tbc stirbt, ist ein Weihnachtsdinner in gehobenem Rahmen für die meisten heute noch ebenso unerschwinglich wie ehedem für Rodolfo & Co.
Was niemanden groß zu stören scheint. Denn die Armut ist fester Bestandteil der Legende vom großen, genialischen Künstlertum, das erst durch Hunger und Kälte zu schöpferischen Höchstleistungen angeregt wird. So jedenfalls will es das klassische Bild vom Bohémien, das in Puccinis Oper eine seiner wirkungsmächtigsten Ausformulierungen fand: Denn die Botschaft des Stückes ist, dass es die vier Hallodris Rodolfo und Marcello, Schaunard und Colline gar nicht anders wollen – und dass das großstädtische Zigeunerleben der ideale Nährboden ist für Inspiration und Kunst. Was wäre die unglückliche Liebe zwischen dem Poeten Rodolfo und der Näherin Mimi anderes als die Aufforderung, auch diese Tragik in Kunst umzusetzen. Die Oper selbst führt es vor: Die fleißige Stickerin stirbt, und der Künstler lebt weiter und verleiht ihrem Tod durch seine Werke wenigstens posthum einen Sinn.
Erfunden hatten Puccini und seine Librettisten dieses Klischee natürlich nicht. Das Bild vom Künstler, der den einen Tag von trocken Brot lebt und den anderen in Champagner badet, war 1896 bereits ein halbes Jahrhundert alt und so beliebt, dass die Touristen zu Tausenden auf der Suche nach dem echten Künstlerleben die Winkel des Quartier Latin durchstöberten und dem Besitzer des Café Momus die Taschen füllten. 1845 hatte der französische Journalist und Schriftsteller Henri Murger damit begonnen, die ersten Folgen seiner „Scènes de la Bohème“ in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, und nachdem bereits 1849 eine Theater- und 1851 eine Romanfassung des Stoffes erschienen waren, wurden Rodolphe, Marcel, Schaunard und Colline zum Inbegriff einer jungen, gleichermaßen sorg- und erfolglosen Künstlerclique. Murger wusste, wovon er schrieb: Als Sohn eines aus Deutschland eingewanderten Schneiders in Paris aufgewachsen, schlug sich der junge Louis- Henri mit Gelegenheitsarbeiten durch, nachdem er aus Geldmangel bereits mit 15 die Schule hatte verlassen müssen.
Dass die Ausübung von Kunst eine Angelegenheit von Adeligen für Adelige respektive von wohlbestallten Bürgern für ihresgleichen sei, damit wurde im revolutionsgesättigten Frankreich des 19. Jahrhunderts früh aufgeräumt. Dem Prekariat, das damals noch Proletariat hieß, eine Stimme zu geben, hieß einerseits, seine Themen in den Fokus zu rücken (und damit die Wirklichkeit); andererseits konnten in und mit der Kunst nun auch sozial weniger Privilegierte den Aufstieg wagen.
Der Grundton allerdings, den die „Scènes de la Bohème“ anschlagen, ist noch ein ganz anderer als bei Puccini: Während dort das tragische Schicksal Mimis vom ersten Huster an alles überschattet und die Musik dafür sorgt, dass man jeden einzelnen Hungerkünstler sympathisch findet, besitzen Murgers Bohémiens auch unangenehme Seiten. Gern offenbaren sie sich als gnadenlose Schnorrer und Tagediebe, und Musette und Mimi, die der Frauenfreund Puccini später mit goldenen Herzen ausstattet, treten 1847 noch sehr selbstbewusst auf und wechseln ihre Lebensabschnittspartner in regelmäßigem Turnus.
Dass die Pariser Bohème so populär werden würde, war kaum vorauszusehen. Zwar hatte es immer mal wieder Einzelgänger wie Francois Villon oder Caravaggio gegeben, die für ihr ausschweifendes Leben berüchtigt waren, doch in der Regel sah man Maler, Dichter und Komponisten als Handwerker an. Und wenn sich eine Gruppe zusammenfand, um gegen den akademischen Kunstbetrieb zu rebellieren, dann zog sie sich zwecks konzentrierter Arbeit eher in klösterliche oder ländliche Abgeschiedenheit zurück – so wie Jean-Francois Millet und seine Malerfreunde nach Barbizon gingen. Murgers These hingegen, dass Armut die beste Voraussetzung für die Entstehung von Kunst sei, war etwas Neues. In einer Erzählung erhebt er sie zum Programm: So behauptet der Poet Melchior in „Der Dichter in der Traufe“ ganz offen, dass das Elend „der Nährboden des Talents“ sei.
Bei aller Glaubwürdigkeit im Detail jedoch bestand der Reiz der meisten „Szenen aus der Bohème“ in ihrem liebenswürdig satirischen Ton, in ironischen Überspitzungen, mit denen Murger sich und seine Künstlerkollegen auf die Schippe nahm. Nur dass das neue Künstler-Image sich alsbald als so überzeugend erwies, dass es für bare Münze genommen wurde.
Die Entwicklung, die Malerei, Musik und Literatur gerade von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an nahmen, schien diese These zu bestätigen. Musste die „Symphonie über den Einfluss des Blauen in der Kunst“ – ein Running Gag Murgers, um den Musiker Schaunard zu karikieren – auf die Leser 1847 noch wie eine groteske Idee gewirkt haben, wartete der authentische Maler James Whistler bereits 15 Jahre später mit Bildern auf, die Titel wie „Symphonie in Weiß“ trugen. Während Murgers Marcel sich über etliche Folgen der „Bohème“ hinweg noch ganz brav an einem Monumentalgemälde über den Zug durchs Rote Meer plagte, sollten ein paar Jahrzehnte später die französischen Impressionisten die gesamten akademischen Kriterien der Malerei radikal infrage stellen. Der Aufstieg aus krasser materieller Not zur Weltberühmtheit, den Maler wie Claude Monet und Auguste Renoir erlebten, bewies der Welt außerdem, dass in der Gosse von Paris tatsächlich die Genies von morgen heranwuchsen – und dass große Kunst weniger luxuriöse Ateliers und Gönner braucht als vielmehr schummrige Kneipen, bitterkalte Mansarden und die Brise der großen Boulevards.
Im 19. Jahrhundert war die Kunst somit der Realität voraus. Indem der Bohémien von der Bühne auf die Straße herabstieg, nahm sich das echte Leben ein Beispiel an Puccini und Murger. Das 20. Jahrhundert hingegen erklärte die Kunst zur Staatssache, und zu dieser sehr bürgerlichen Vorstellung gehörte eben auch, dass Theater öffentlich subventioniert wurden und Musiker eine Altersrente bezogen. Der Bohémien zog sich in alternative Zirkel und Nischen zurück. Erleben wir jetzt, in Zeiten von Hartz IV, seine feierliche Wiederauferstehung?
Als Puccini sich an die Vertonung der „Bohème“ machte, hatte die Wirklichkeit Murgers humoristische Entwürfe jedenfalls schon überholt – und es sollte fast 100 Jahre dauern, bis die Gleichung „wie das Leben, so die Kunst“ wieder hinreichend erschüttert war und der Finne Aki Kaurismäki zum absurden Humor des Originals zurückkehrte: In seinem Film „Das Leben der Bohème“ ist von Anfang an klar, dass seine Künstler zwar wunderbar kauzige Typen sind, ihre Kunstanstrengungen aber nicht allzu ernst genommen werden sollten.
Zunächst aber sind es Maler wie Amedeo Modigliani und vor allem Pablo Picasso, die die Erfolgsgeschichte vom genialischen, erotisch freizügigen Bohémien weiter fortschreiben: Tatsächlich wirken die Lebensumstände, unter denen Picasso zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine ersten Jahre in Paris verbrachte, als hätte er sich vorgenommen, Puccini und Murger buchstabengetreu nachzuspielen: Picassos Atelier auf dem Montmartre (in dem er an heißen Sommertagen nackt zu malen pflegte) könnte als Bühnenbild für jede Stadttheater-Bohème durchgehen, und wenn der Dichter Rodolfo auf der Bühne sein Historiendrama verfeuert, erinnert das stark daran, dass auch Picassos Zeichnungen einst – in Ermangelung anderen Heizmaterials – in den Ofen seines Wohnungsgenossen, des Dichters Max Jacob, gewandert sein sollen.
Mit Picasso wurde das Klischee des Bohémien endgültig zementiert.
Aber entsteht Kunst wirklich so – und nur so? Bringt die Kombination von Armut und ausschweifendem Leben zwangsläufig und tatsächlich große schöpferische Leistungen hervor? Oder ist dieses Klischee nicht auch ungeheuer bequem – für den Normalbürger, der sich mit künstlerischen Hervorbringungen gemeinhin nicht groß beschäftigt, wie für den potenziellen Geldgeber und Mäzen? In postmodernen Zeiten knapper öffentlicher Kassen jedenfalls fühlt sich diese neuerliche „Geiz ist geil“-Mentalität bedrohlich an.
Um herauszufinden, was es heute mit dem Bohème-Dasein auf sich hat, muss man nicht mehr nach Paris fahren. Denn der Humus, auf dem die Hungerkünstler gedeihen, ist billiger Wohnraum – und den gibt es immer noch vor allem in Berlin. Irgendwann war die Bohème ausgewandert, hatte zuerst in den Roaring Twenties, dann im Ostberlin der 70er Jahre ein günstiges Klima gefunden: in den heruntergekommenen Altbauten von Prenzlauer Berg, wo sich vor 30, 40 Jahren die vermutlich aufregendste Bohème-Szene seit Murger angesiedelt hatte. Mit Lesereihen in Wohnungen und Wohnzimmergalerien wie der legendären EP-Galerie, in der schon zum ersten Todestag Picassos dem Vorbild-Bohémien mit einer Ausstellung gehuldigt worden war. „In Picasso inkarnierte sich nicht nur eine faszinierende Malerei, sondern auch eine Lebensauffassung von individueller Freiheit, Erfolg (auch bei Frauen) und damit Glück“, erinnerte sich Galerist Jürgen Schweinebraden 1997 im Tagesspiegel.
Das ist einige Zeit her, und inzwischen wissen selbst die „Merian“-Leser, dass der einstige Kult-Stadtteil ein ähnliches Schicksal erlitten hat wie Murgers Quartier Latin: Nach den Künstlern kommen die, die gerne welche wären, und treiben die Mieten in die Höhe.
„Kastanienallee-Bohème“ nennt das Benjamin Schweitzer sarkastisch. Das seien die Leute, die zwar mit einem künstlerischen Lebensstil liebäugelten, zugleich aber in der von den Eltern finanzierten Eigentumswohnung lebten. Er halte sich dort nur selten auf, auch weil der Cappuccino in den schicken Cafés einfach zu teuer sei. Schweitzer ist Komponist und von den Lebensumständen her nahe dran an Marcello und Rodolfo: Für nicht mal 300 Euro warm wohnt er in einer Zwei-Zimmer-Hinterhauswohnung im Soldiner Kiez in Wedding, einer Gegend, die von der Polizei als harter Problembezirk eingestuft wird und die in ihrer Mixtur aus kleinen Galerien, Kneipen und Billigläden ziemlich genau dem klassischen Bohème-Klima entspricht. Im Treppenaufgang riecht es nicht eben angenehm, und die karge Einrichtung weckt den Verdacht, als sei auch hier schon mal im Winter der eine oder andere Stuhl verfeuert worden.
Hier also entsteht Kunst – allerdings am Schreibtisch. „Zum Komponieren braucht man Ruhe und Disziplin“, erklärt der 37-Jährige. „Bei einer Kneipentour hat man vielleicht mal eine gute Idee, aber die Ausführung ist etwas anderes. Mit Alkohol im Blut schafft man kein vernünftiges Kunstwerk.“ Wenn er ein künstlerisches Problem nicht lösen könne, gehe er ins Bett und nicht auf die Straße, stellt er apodiktisch fest, und um in einem Café Momus herumzuhängen, dazu habe er einfach nicht die Zeit. Er kenne kaum jemanden, bei dem das Bohème-Klischee so richtig zutreffen würde, sagt Schweitzer, entweder hätten die Leute Familie oder seien von Haus aus wohlhabend.
Dass seine EC-Karte im Supermarkt nicht akzeptiert wurde, sei schon lange her: „Das war, als ich zum ersten Mal einen größeren Betrag für eine Komposition ausbezahlt bekommen hatte und noch nicht mit der Tatsache umgehen konnte, dass man in unserem Beruf manchmal in einer Woche den Lebensunterhalt für ein halbes Jahr verdient.“ Inzwischen beschränken sich seine Extravaganzen auf ein paar Taxifahrten und hin und wieder einen neuen Anzug. Und außerdem, ergänzt er, sei er im Kiez einer der wenigen, der seine Miete pünktlich bezahle.
Das klingt nicht eben nach einem illustren Opernleben. Aber es ist wohl die ungeschminkte Wahrheit. Einen zufriedenen Eindruck macht Schweitzer allemal. Seine Musik, sagt er, klänge mit mehr Geld in der Tasche auch nicht anders.
Jörg Königsdorf