zum Hauptinhalt
Renate Künast, Spitzenkandidatin der Grünen in Berlin
© Doris Spiekermann-Klaas

Renate Künast im Interview: "Wir haben uns zu spät von Pädophilen abgegrenzt"

Die Grünen müssen sich derzeit einem dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit stellen. Renate Künast bedauert, dass sich die Partei nicht gegen "Andockversuche" von Pädophilen gewehrt hat. Im Interview spricht sie außerdem über die Steuerpläne und juristische Klagen als Mittel der Politik.

Frau Künast, haben die Grünen unterschätzt, welchen Widerstand im Wahlkampf ihre Ankündigung von Steuererhöhungen und ihr Plan zur Abschaffung des Ehegattensplittings hervorrufen würde?

Wir wollen dem Staat wieder die Möglichkeit geben, seine Aufgaben wahrzunehmen, etwa Schulen zu sanieren und Straßen zu reparieren. Dass es nach Jahren der Steuersenkungsdebatten Gegenwind dagegen geben würde, war zu erwarten. Überrascht hat uns, wie schwierig es anfänglich war, mit unserem Konzept durchzudringen. Das ändert sich gerade. Unsere Berechnungen werden von diversen Faktenchecks bestätigt: Mit unseren Plänen entlasten wir 90 Prozent der Einkommensteuerzahler und belasten die übrigen maßvoll, das bescheinigt uns nun sogar der Bund der Steuerzahler.

Wofür brauchen Sie das Geld?

Für mehr soziale Gerechtigkeit und die Unterstützung von Familien. Wir sind ehrlich und haben durchgerechnet, wie hoch nach dem Abbau von Privilegien und Subventionen der Beitrag der Besserverdienenden sein muss. Angela Merkel macht Wahlkampfversprechen im Umfang von 28 Milliarden Euro auf Pump. Das ist angekündigter Wahlbetrug.

Hat es Sie überrascht, wie schnell die SPD auf Distanz ging, deren Spitzensteuersatz erst viel später einsetzt und die bei der Reform des Ehegattensplittings bestehende Ehen nicht antasten will?

Ich freue mich darüber, dass wir Grünen es sind, die seit Wochen die Debatte über Steuergerechtigkeit bestimmen. Wenn die SPD andere Vorschläge hat, werden wir nach der Wahl versuchen, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen – dazu sind Koalitionsverhandlungen da. Unser Vorschlag zur Abschmelzung des Ehegattensplittings braucht keine Angst vor dem Bundesverfassungsgericht zu haben.

Aber Ihr Eingriff geht doch viel tiefer, wenn Sie anders als die SPD keinen Bestandsschutz für Alt-Ehen geben.

Uns geht es um soziale Balance. Wir sorgen dafür, dass bis zu einem Bruttoeinkommen von 60 000 Euro Familien entlastet werden. Der finanzielle Vorteil aus dem Splitting wird auf 1500 Euro begrenzt. Das bedeutet, dass sich für die überwiegende Zahl der Ehepaare nichts verändert. Die Mehreinnahmen aus der Abschmelzung des Splittings für höhere Einkommen investieren wir in den Ausbau der Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur und den Aufbau einer Kindergrundsicherung. Wir machen damit besonders Familien ein attraktives Angebot.

Wenn Ihre Botschaft ankommt, warum klagen Sie dann gegen CSU-Generalsekretär Dobrindt? Die Öko- als Maulkorbpartei?

Wie bitte? Wenn wir den Rechtsweg beschreiten, ist das ein ganz normaler Vorgang, der jeden Tag tausendfach in Deutschland passiert.

Es geht um politischen Stil und politische Souveränität.

Ach – dann gehören Lügen und Diffamierungen wohl zum guten politischen Stil? Nein, Herr Dobrindt und seine CSU können gerne unsere Politik kritisieren. Aber sie können nicht falsche Behauptungen aufstellen. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 3000 Euro wird nach unseren Vorschlägen entlastet, statt um 3500 Euro im Jahr mehr belastet, wie die CSU behauptet.

Mitten im Wahlkampf müssen die Grünen die Aktivität von Pädophilen-Gruppen in ihrer Frühzeit erklären. Wann ist Ihnen das Thema zum ersten Mal begegnet?

In den Anfängen der Alternativen Liste (AL) haben wir intensiv über Sexualität und Strafrecht debattiert, weil Homosexuelle damals auch rechtlich noch diskriminiert wurden. Für unsere Liberalisierungsbemühungen wurden wir damals massiv angefeindet. In diesem Fahrwasser versuchten Pädophile ihre Interessen bei uns anzudocken. Ich erinnere mich aber auch, dass in der AL Frauen- und Lesben-Arbeitsgruppen die Pädophilen in die Schranken wiesen. Es war übrigens eine öffentliche Debatte.

Im Landeswahlprogramm 1981 forderte die AL, sexuelle Handlungen mit Kindern nur zu bestrafen, wenn Gewalt angewendet oder ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wurde. Wie sehen Sie das heute?

Das war damals so falsch wie heute. Wir haben uns zu spät abgegrenzt, das bedauere ich. 2010 hat unser Landesverband einen Beschluss gefasst, der klarstellt, dass Pädophilie aus falscher Toleranz zu lange geduldet wurde und wir das kritisch sehen.

Sie sitzen im Beirat der Humanistischen Union. Der Vorstand dieser Organisation hat sich im Jahr 2000 einstimmig gegen die Kriminalisierung von Pädophilen gewandt. Wie sind Sie seinerzeit damit umgegangen?

Ich habe von diesem Vorstandsbeschluss erst im Nachhinein erfahren. Unter anderem Claudia Roth und ich haben dann dafür gesorgt, dass er zurückgenommen wurde.

Kommen wir zu einem anderen Thema: Wie wollen die Grünen dafür sorgen, dass Wohnraum bezahlbar bleibt?

Wir haben in den Bundestag und diesen Freitag auch in den Bundesrat Anträge eingebracht, bei Neuvermietungen einen Mietpreisdeckel einzuführen. Und wir müssen im Sinne des Milieuschutzes mehr Möglichkeiten schaffen, den Zuzugsdruck auf einzelne Stadtteile zu mindern. Wir müssen auch die Modernisierungsumlage von elf auf neun Prozent reduzieren.

Halten Sie die Umwandlung von Miet- in Ferienwohnungen für ein Problem?

Ja. Es ist gut, dass einzelne Bezirke schon dagegen vorgehen. Aber wir brauchen auch Bundesgesetze, die das begrenzen.

Zur Startseite