Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh:: Wir brauchen eine neue deutsche Leitkultur
Mit Freundlichkeit allein werden wir unser Land in dieser Zeit der Einwanderung nicht gestalten können. Es braucht dafür mehr als Verfassungspatriotismus. Ein Essay.
Unser Land wird sich in den nächsten Jahren weiter verändern, denn es werden wie in den letzten Jahrzehnten neue Bewohnerinnen und Bewohner zu uns kommen. Diesmal sind es Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflüchtet sind – und viele von ihnen werden bleiben. Bei manchen politischen Akteuren bildet sich jedoch gerade eine neue Lebenslüge heraus, als könne man Deutschland schnell wieder abschotten oder Zuwanderung zur Zwischenphase reduzieren, und danach ist wieder alles beim Alten. Doch Illusionen haben uns noch nie weitergebracht. Die spannende Frage ist nicht, ob sich unser Land verändert – sondern wohin. Deshalb brauchen wir eine offensive und mutige Debatte um eine neue Leitkultur.
Wer zu uns kommt, muss sich an Regeln halten
Denn bei aller Veränderung bleibt doch die Frage: Wie sorgen wir dafür, dass Deutschland sich für die, die hier sind, weiter wie eine Heimat anfühlt – und es für die, die kommen, zu einer Heimat werden kann? Nur wenn wir uns immer wieder selbst über unsere Identität vergewissern, werden wir Brücken schlagen zwischen den Generationen, aber auch zwischen den vielen Gruppen und ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Nur so wird die dringend notwendige Akzeptanz für die neue Zuwanderung bei der Bevölkerung entstehen. Wer zu uns kommt, muss sich an Regeln halten, die für alle gelten. Eine Leitkultur wird dabei helfen, diese Spielregeln und Elemente unseres Zusammenlebens im Sinne eines Leitbildes klar und deutlich zu formulieren und einzufordern.
Der Begriff der Leitkultur stammt – bevor er vom damaligen Unionsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz übernommen wurde – von Professor Bassam Tibi, einem deutschen Politikwissenschaftler syrischer Herkunft. Tibi wollte, dass Deutschland Migranten „nicht nur einen Pass, sondern auch eine Identität“ bietet. Um diese Identität zu entwickeln brauche es die Diskussion und den Konsens über eine Leitkultur.
In den letzten Jahren ist die Diskussion über Integration hinter diesem Begriff weit zurückgeblieben. Man ist sich lediglich einig, dass der Spracherwerb verbindlich sei und ansonsten die Verfassung und die Gesetze geachtet werden müssten. Doch wie soll aus kalten Buchstaben eine lebendige Identität erwachsen? Wer die Leitkultur auf einen Verfassungspatriotismus begrenzt, bleibt im Juristischen stehen – wir müssen aber Integration im Alltag schaffen.
Integration ist schon millionenfach gelungen
Dabei kann uns Hoffnung geben, dass Integration in Deutschland schon millionenfach gelungen ist. Allein die Region Berlin-Brandenburg ist ein Abbild deutscher Migrationsgeschichte: Die Hugenotten kamen im 18. Jahrhundert in unsere Region, Polen und Russen im folgenden Jahrhundert, die Vertriebenen direkt nach dem zweiten Weltkrieg, die im Osten meist vietnamesischen und im Westen meist türkischen Gastarbeiter in den 1960er Jahren, die Russlanddeutschen in den 1980er Jahren, die Balkan-Flüchtlinge in den 1990er Jahren. Sie alle haben unser Land verändert und geprägt. Auch die Menschen, die heute zu uns kommen, werden das tun. Noch mehr aber als uns werden sie dabei sich selbst verändern.
Es ist alles da. Es muss nur konsequent gelebt werden. Mich ärgert, wenn die Verfassung Deutschland alle naselang neu buchstabiert werden soll. Ich erwarte ein ruhige und souveräne Anwendung unserer Werte, nicht deren Diskussion.
schreibt NutzerIn 2010ff
Für die jungen Mädchen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan beispielsweise bringt ein Leben in Deutschland eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten mit sich. Ich bin mir sicher, dass viele von ihnen diese Chancen wahrnehmen werden, um tatsächlich ihre Traumberufe wie Ärztin, Lehrerin oder Erzieherin zu ergreifen. Für andere wird es ein schmerzhafter Prozess sein, sich mit unseren Werten und Regeln auseinanderzusetzen und sich in die deutsche Gesellschaft einzufinden. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen möglichst konkret und plausibel deutlich machen, welche Regeln und Werte es überhaupt sind, die wir Deutsche als allgemein verbindlich für unser Land betrachten.
Wer den Holocaust nicht versteht, kann nur schwerlich Deutscher sein
Jüngst hörte ich von einem Sozialarbeiter aus einem Flüchtlingsheim, dass er von einem Mann angesprochen wurde: Er möge die religiöse Überzeugung der Flüchtlinge respektieren und daher solle man es unterlassen, Frauen die Hand zu geben. Der Sozialarbeiter – selbst Migrant – konterte, er lasse sich das nicht vorschreiben. Und er fragte den Mann, warum er hergekommen sei, wenn es ihm hier nicht gefalle. Diese klare Ansprache verdient Unterstützung und Respekt.
Prägend für uns deutsche ist der selbstkritische Umgang mit unserer Geschichte
Eine „bunte Republik Deutschland“ wird mehr brauchen als eine fähnchenschwenkende Heiterkeit, wenn neue Flüchtlinge auf unseren Bahnhöfen ankommen. Mit Freundlichkeit allein werden wir unser Land in dieser neuen Zeit nicht gestalten können. Wir müssen mit einer neuen Leitkultur alle in dieser Gesellschaft einladen: Linke und Konservative, Alte und Junge, Männer und Frauen, Religiöse und Atheisten, Intellektuelle, Nord- und Süd- und Ost- und Westdeutsche genauso wie Migranten – auf keine Ressource können wir verzichten. Das Grundgesetz bildet die Grundlage für die Leitkultur, hinter die keine gesellschaftliche Entwicklung zurückfallen darf. Es sichert Rechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit genauso wie die Gleichheit vor dem Gesetz und den Schutz vor Diskriminierung. Die Grundrechte unserer Verfassung sind nicht Teil der Diskussion – wer sie nicht anerkennt, schließt sich von vornherein aus der demokratischen Gesellschaft aus, und damit aus der Debatte um eine Leitkultur.
Die Diskussion um eine Leitkultur geht weit über die Grundrechte hinaus: Die europäische Tradition der Aufklärung prägt die Denk- und Verhaltensweisen unserer säkularen Gesellschaft – und sie sollte dies auch in Zukunft tun. Dies impliziert das Recht zu glauben genauso wie das Recht nicht zu glauben. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen: Was ist das Gemeinsame, was ist das Verbindende? Über diese Frage wird es immer eine Kontroverse geben, eine Leitkultur ist niemals starr.
Prägend für uns Deutsche ist der – hart erkämpfte – selbstkritische Umgang mit unserer Geschichte. Und dieser Aspekt unserer Leitkultur ist nicht verhandelbar: Wer den Holocaust und die deutsche Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder passiert, nicht versteht, kann nur schwerlich Deutscher sein. Daher ist eine Leitkultur niemals in der Gefahr, beliebig zu sein – denn sie schließt Rechtsextreme genauso aus wie religiöse Fundamentalisten und Antisemiten. Gegenüber den anti-demokratischen Kräften unserer Gesellschaft müssen wir diese aus unserer historischen Erfahrung erwachsene Leitkultur immer wieder neu einfordern – und wir dürfen nicht müde werden, sie zu verteidigen.
Aus Abgrenzung allein kann kein positives Selbstbild entstehen
Die Überwindung der dunklen Teile unserer Geschichte und unsere kulturellen Errungenschaften machen uns Deutsche stolz auf unser tolerantes und vielfältiges Land. Nicht der überhebliche und ausgrenzende Nationalismus von Pegida und anderen neuen Rechten macht unser Land aus, sondern eine wohldosierte, niemals überhebliche Form des Patriotismus, der das Gemeinsame und Verbindende in den Vordergrund stellt. Er sollte zu unserer Leitkultur gehören.
Das hört sich leichter an, als es in Wirklichkeit ist. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg entstand Identität in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen in der Ablehnung der Vergangenheit. So wurde nationale Identität negativ als Überwindung unserer Geschichte definiert. Aus Abgrenzung allein kann aber kein positives Selbstbild entstehen.
Diese Leerstelle füllt sich jedoch nach und nach. Heute haben der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin ostdeutsche Biografien, die Brüche aufweisen. Brüche haben auch die Zuwanderer in ihren Biografien. Und zugleich haben die Deutschen die glücklichste Stunde ihrer Geschichte noch in greifbarer Erinnerung: den Mauerfall vor 25 Jahren. Zum ersten Mal erhob sich in Deutschland eine Demokratiebewegung, die am Ende – bestärkt von den Fügungen der Weltgeschichte – erfolgreich war. Die deutsche Einheit kann zum positiven Gründungsmythos unserer Republik werden. Die Einheit zwischen Ost und West hat in nur einem Vierteljahrhundert riesige Fortschritte gemacht. Viele Menschen in Ost und West haben dafür einen hohen Preis bezahlt. Aus diesem schwierigen, am Ende aber erfolgreichen Prozess der Einheit kann Stolz und Identität erwachsen.
Ein Land im Chaos kann Integration nicht leisten
Auch unser Hang zum Konsens und zur politischen und gesellschaftlichen Mitte ist Teil unserer deutschen Identität. Die erste deutsche Demokratie war umklammert von links- und rechtsradikalen Antidemokraten. Ideologische Aufladung ist deshalb in der deutschen Politik zu Recht verpönt. Wir Deutschen wollen auch nie wieder eine religiöse Polarisierung wie noch vor 100 Jahren erleben, bei der es schon eine große Sache war, wenn eine Protestantin einen Katholiken heiratete. Daher verwundert es auch nicht, wenn wir heute ein Land der religiösen Pluralität sind und keine religiösen Konflikte in unseren Straßen haben wollen. Gegen beides, Polarisierung und Spaltung, wird es immer eine Solidarität der Demokraten geben, gestützt von einer Mitte der Gesellschaft. Unser Hang zur Mitte beinhaltet aber auch, dass wir ein Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich verhindern wollen.
Arbeit hat in unserer Leitkultur einen hohen Stellenwert. Fleiß und Zuverlässigkeit sind uns ebenso wichtig wie eine Tradition der Mitbestimmung und die Anerkennung, die man durch Arbeit erfahren soll. Zugleich gilt für uns, dass jeder Mensch eine Würde hat, die unabhängig ist von seiner ökonomischen Nützlichkeit. Das Sozialstaatsgebot unserer Verfassung sichert allen ein Existenzminimum, ist aber nicht als Ersatz oder Alternative zur Erwerbsarbeit angelegt. Der Sozialstaat kann nur funktionieren, wenn Missbrauch verhindert wird.
Jenseits der Erwerbsarbeit ist das bürgerschaftliche Engagement ein besonders verbindendes Element unserer Leitkultur. Es reicht von der freiwilligen Feuerwehr, den Kirchengemeinden und Sportvereinen bis hin zur beeindruckenden Flüchtlingshilfe, die wir in diesen Tagen erleben.
Teil unserer Leitkultur ist auch der Respekt vor den staatlichen Autoritäten, dies gilt es immer wieder deutlich zu machen. Ob es die Klassenlehrerin an einer Brennpunktschule oder der Polizist mitten in einem Kriminalitätsschwerpunkt ist – ohne den Respekt vor staatlichen Autoritäten in der ganzen Gesellschaft werden wir ein chaotisches Land, und ein Land im Chaos kann Integration nicht leisten.
Rechtsstaatlichkeit ist ein unverbrüchlicher Wert in unserer Gesellschaft, der unser Gemeinwesen überhaupt erst so attraktiv für Zuwanderer macht. Viele Menschen fliehen gerade zu uns, weil sie der Willkür von Polizei und Justiz entkommen wollen und einen Raum des Rechts suchen.
Zur Leitkultur gehört für mich auch die, noch lange nicht durchgesetzte, Vision einer diskriminierungsfreien Gesellschaft: Das betrifft die Gleichstellung der Frau genauso wie die Integration von Migrantinnen und Migranten; die Inklusion von Menschen mit Behinderung genauso wie die Akzeptanz sexueller Vielfalt; die Durchsetzung der gewaltfreien Erziehung der Kinder genauso wie der Respekt vor der Lebensleistung älterer Menschen, der sich in einem Verbot von Altersdiskriminierung ausdrückt. Auch der Schutz von Umwelt, Arten- und Tierwelt ist etwas, das uns Deutsche, vor allem in der Perspektive des Auslands ausmacht.
Leitkultur betrifft auch die Sprache. Alle, die in Deutschland auf Dauer leben, sollten die deutsche Sprache beherrschen. Sprache ist nicht nur die Voraussetzung zur Bewältigung des Alltags, sie schafft auch Gemeinsamkeit und kulturelle Identität. Zugleich gehört es zu unserer bildungsorientierten Leitkultur, dass wir Bilingualität fördern und als Reichtum ansehen.
Viele der von mir skizzierten Elemente der Leitkultur sind mehr Vision als Wirklichkeit – und das muss auch so sein. Denn Leitkultur muss einen Konsens über die Gesellschaft, die wir sein wollen, schaffen, statt nur den Status quo zu beschreiben. Die Frage nach der Leitkultur wird immer umstritten sein, aber sie muss immer neu gestellt werden, denn in diesem Streit erweist sich, welches Land wir sein wollen.
Raed Saleh