Kindergeld für EU-Ausländer: Wiener Verdrehungen, Berliner Illusionen
Deutschland und Österreich wollen vielen EU-Ausländern das Kindergeld kürzen. In der Debatte werden Fakten und Zusammenhänge munter verdreht und verkürzt.
Die Bundesregierung will weiterhin erreichen, dass in Deutschland lebenden und arbeitenden EU-Ausländern das Kindergeld gekürzt werden kann, wenn Kinder sich nicht in Deutschland aufhalten. Das hat die Kanzlerin bei ihrem Bürgerforum in Jena am Dienstag klargestellt, auch wenn der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger keine Chance sieht, das umsetzen zu können, weil es eine Diskriminierung darstelle. Und es müsste EU-Recht geändert werden. Vielleicht hat Angela Merkel deshalb gesagt, dass die Beendigung von Missbrauch beim Kindergeld Vorrang habe.
Die Zahlung von Kindergeld nach Lebenshaltungskosten im Wohnsitzland der Kinder, auch Indexierung genannt, ist ein Anliegen der Bundesregierung seit mindestens 2015. Es hat einige Kabinettsbeschlüsse dazu gegeben, Ende 2016 hat machte sich nicht zuletzt der damalige Vizekanzler und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) dafür stark. Ein Anlass war, dass der Europäische Gerichtshof 2012 entschieden hatte, dass auch Saisonarbeiter aus dem EU-Ausland Anspruch auf Kindergeldzahlungen haben.
Damit stiegen die Summen, welche die Familienkassen zu überweisen hatten, deutlich. Nach der Bundestagswahl im September 2017 rückte das Thema etwas nach hinten auf der Regierungsagenda, im Koalitionsvertrag ist es nur verklausuliert enthalten. Im Juni nun stellte die AfD-Fraktion im Bundestag einen Antrag mit der Forderung nach Indexierung. Und in der vorigen Woche machten einige SPD-Bürgermeister und der Deutsche Städtetag Druck, insbesondere mit Blick auf Zuzügler aus Rumänien und Bulgarien.
Der vergessene EU-Beschluss
Ein weiterer, nicht unwesentlicher Anlass für die Indexierungs-Debatte ist allerdings ein wenig in Vergessenheit geraten. Und der hat mit dem Brexit zu tun. Die österreichische Regierung, die ebenfalls indexieren willl und dafür sogar einen Gesetzentwurf in Arbeit hat, kommt jetzt aber darauf zurück. Die Wiener Familienministerin Juliane Bogner-Strauß (ÖVP) sagt, ausgerechnet die EU-Kommission habe doch selbst einmal der britischen Regierung eine solche Indexierung angeboten.
„Für Österreich ist daher höchst erstaunlich, dass die EU-Kommission nun sagt, unser Gesetz stelle eine Diskriminierung von EU-Bürgern dar“, sagte sie dem „Handelsblatt“. Tatsächlich gab es dieses Angebot im Frühjahr 2016 an den britischen Premier David Cameron. Es war Teil eines breiteren Angebots des Europäischen Rats, also der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten, um dem Briten entgegenzukommen. Der hatte Zugeständnisse wie die Indexierung von Leistungen für Kinder von EU-Ausländern, die nicht in Großbritannien leben, gefordert, um beim Brexit-Referendum im Juni 2016 für den Verbleib in der EU werben zu können.
Bogner-Strauss verschweigt allerdings einen wesentlichen Teil des Beschlusses des Europäischen Rats vom 19. Februar 2016. In dem steht nämlich, dass die Vereinbarungen zugunsten von Cameron „nicht weiter bestehen werden, sollte das Referendum im Vereinigten Königreich den Austritt aus der Europäischen Union ergeben“. Damit kann sich Wien also nicht auf Brüssel stützen bei dem geplanten Alleingang. Und die Bundesregierung könnte es auch nicht. Die ausdrückliche Nennung des Referendumsergebnisses als entscheidende Tatsache für die Hinfälligkeit des Beschlusses bedeutet sogar, dass die Vereinbarungen mit den Briten wohl auch nicht aufleben würden, bliebe Großbritannien doch in der EU.
Indexierung wie in Brüssel?
Die Befürworter der Indexierung haben jedoch noch eine zweite Argumentationslinie entdeckt, um Brüssel unter Druck zu setzen. So ist zum Beispiel der CDU-Politiker Daniel Caspary verwundert darüber, dass die EU-Kommission sich sperrt, wo sie doch selbst „die Höhe der Kinderzuschläge für ihre Beamten davon abhängig mache, wo sich die Kinder aufhalten in der Europäischen Union“, wie er im Deutschlandfunk sagte. „Und was bei Beamten der Europäischen Kommission möglich ist, muss aus meiner Sicht aus auch für jeden normalen Bürger möglich sein“, fuhr er fort.
Ganz so wie Caspary, immerhin EU-Parlamentarier, es darstellt, ist es allerdings nicht. Denn die Kinderzuschläge sind Teil der Gehälter von EU-Beamten, und indexiert werden diese Gehälter. Gehälter und Zulagen für EU-Beamte werden aber „in Bezug auf den Arbeitsplatz des Beamten, nicht auf den Ort, an dem das Kind lebt, angepasst“, sagte eine Kommissionssprecherin dem Tagesspiegel. Dabei werden die Lebenshaltungskosten in Brüssel und Luxemburg, wo die weitaus meisten EU-Beamten arbeiten, mit 100 angesetzt. Für Beamte an anderen Standorten gelten dann „Berichtigungskoeffizienten“ gemäß den jeweiligen Lebenshaltungskosten und (falls außerhalb der Euro-Zone) den währungsbedingten Kaufkraftunterschieden.
In der Regel nach dem Arbeitsort
Wird ein Beamter zum Beispiel nach Bonn versetzt, bekommt er weniger – derzeit knapp 94 Prozent des Brüsseler Gehalts. In London bekäme er 133 Prozent, in Prag 78 und in Sofia nur 53 Prozent. Wo die Kinder leben, ist nicht relevant. Ein Beamter in Brüssel mit Kindern in Polen bekommt somit den Brüsseler Kinderzuschlag, ein Beamter in Warschau mit Kindern in Brüssel dagegen den für Polen. Allenfalls wenn der Empfänger der Familienzulage nicht der EU-Beamte selbst ist, wird gemäß dem Wohnsitz des anderen Empfängers gezahlt, worunter dann auch unterhaltsberechtigte volljährige Kinder fallen können – das sind aber Ausnahmen. Diese Art der Indexierung ist nach Aussage der EU-Sprecherin mit einer eventuellen Kindergeld-Indexierung nach österreichischem oder deutschem Vorschlag nicht vergleichbar.
Für einige soll es auch mehr geben...
Merkel hat in Jena angedeutet, dass bei einer Anpassung des Kindergelds nach dem Wohnort der Kinder nicht nur gekürzt werden solle (also etwa im Falle von Rumänen, Polen, Bulgaren oder Tschechen). Würde indexiert, dann müsste man etwa in Deutschland arbeitenden Niederländern mehr für ihre im Nachbarland lebenden Kinder zahlen, weil dort die Lebenshaltung teurer sei, so die Kanzlerin. Sie hätte auch Frankreich als Beispiel nehmen können, die skandinavischen Länder – oder Österreich. Dass die Kanzlerin nun nach unten und oben indexieren will, ist bemerkenswert.
Denn das Anliegen der Regierung war bisher vor allem, „Ungleichgewichte“ wegen niedrigerer Lebenshaltungskosten auszubalancieren – sprich: Geld zu sparen. Das geht zum Beispiel aus einem Eckpunktepapier der Regierung vom April 2017 hervor. In dem ist allerdings nicht mehr ausdrücklich die Rede davon, das Kindergeld eher in groben Stufen zu indexieren, wie es das Bundesfinanzministerium unter Wolfgang Schäuble (CDU) noch kurz davor geplant hatte.
...aber das kann teurer werden
Dort hatte man sich an der Praxis orientiert, die schon länger für die zweite Elterngruppe gilt, deren Kinder steuerlich berücksichtigt werden: Höherverdienende, bei denen der Kinderfreibetrag zum Zuge kommt und nicht die Auszahlung von Kindergeld. Das dürften in der Mehrzahl Deutsche sein - auch unter den 270000 Fällen von Kindergeld für im Ausland lebende Kinder sind schon 31000 Kinder von Deutschen erfasst. In den Freibetragsfällen wenden die Finanzämter eine Indexierung an, die zuletzt 2016 geändert wurde. Nach EU-Recht ist das möglich, weil der Freibetrag rein steuerlich begründet ist und keine Sozialleistungskomponente hat wie das Kindergeld. Diese bedarfsorientierte Anwendung des Freibetrags geht aber bisher nur nach unten, und zwar in drei Ländergruppen.
So werden für in Griechenland, Lettland oder Slowenien lebende Kinder 75 Prozent des inländischen Freibetrags angesetzt, für Polen, Bulgarien, Kroatien, Ungarn oder Rumänien sind es 50 Prozent, für ärmere Länder wie Albanien oder Indien nur 25 Prozent. Für Kinder in Ländern mit höheren Lebenshaltungskosten und Preisniveaus gilt dagegen immer der deutsche Freibetrag. Würde nun das Kindergeld nach oben indexiert, wie die Kanzlerin andeutete, dann ist nicht völlig auszuschließen, dass auch höhere Freibeträge für diese teureren Länder angewendet werden müssten.
Dazu gehören Großbritannien, die Schweiz und die USA. Bei Kindern von Bessergestellten, die dort zeitweise oder dauerhaft auf Schulen und Internate gehen oder an Universitäten studieren, müsste der Staat also auf Steuereinnahmen verzichten. Zahlen gibt es dazu nicht. Freilich dürften die Einsparungen dann geringer ausfallen als bisher geschätzt.