Nach Anschlag am Breitscheidplatz: Wie zwei italienische Polizisten Anis Amri stoppten
Bei einer Routinekontrolle schießt der mutmaßliche Terrorist in einem Vorort von Mailand auf einen Polizisten. Dessen Kollege erwidert das Feuer und tötet Anis Amri.
Es sollte eine bloße Routinekontrolle werden: Eine Streife der italienischen Polizei hat in der Nacht zum Freitag, um 3 Uhr, auf der Piazza vor dem Bahnhof im Mailänder Vorort Sesto San Giovanni einen Mann angehalten und um seine Papiere gebeten. Doch statt seiner Dokumente zog der Angehaltene eine Pistole, Kaliber 22, aus seinem Rucksack und eröffnete sofort das Feuer auf die Beamten. Dazu soll der Mann „Allahu Akbar“ („Allah ist groß“) gerufen haben. Dann verschanzte er sich hinter einem geparkten Auto und rief „Polizisten-Bastarde“. Der Mann kennt italienische Schimpfwörter, er saß in Italien vier Jahre in Haft. Bei dem Schusswechsel wurde einer der Polizisten an der Schulter getroffen, sein 29-jähriger Kollege hingegen schoss umgehend zurück und traf den Angreifer tödlich.
Auf Amri seien zwei Schüsse abgegeben worden, einer habe den Brustkorb getroffen und sei tödlich gewesen, erklärte der Mailänder Polizeichef Antonio De Iesu auf einer Pressekonferenz. Reanimationsversuche durch die Sanitätspolizei seien erfolglos geblieben. Die beiden jungen Polizisten hätten sich vorbildlich verhalten und seien mutig gewesen, sagte Mailands Polizeichef mit pathetischer Geste. Sie hätten den Mann, der allein über die dunkle Piazza gegangen sei, kontrolliert, weil er ihnen verdächtig vorgekommen sei. Der Polizeibeamte, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, ist erst seit neun Monaten Dienst und befindet sich noch in der Probezeit. Der verletzte Polizist wurde umgehend operiert und schwebt nicht in Lebensgefahr.
„Nicht der Hauch eines Zweifels an seiner Identität“
Viele Stunden lang war sich in Italien kaum jemand bewusst gewesen, dass in dem Ort Sesto San Giovanni die Flucht des europaweit gesuchten Berliner Attentäters Anis Amri beendet worden ist: Bis um 10 Uhr berichteten Medien lediglich über eine Schießerei mit einem Toten bei einer Personenkontrolle. Für die Spezialisten der Antiterrorabteilung der italienischen Polizei, die umgehend an den Tatort geschickt worden sind, war freilich schnell klar, wer auf der öden Piazza vor dem Bahnhof getötet worden ist.
Um 10.45 Uhr trat Innenminister Marco Minniti in Rom vor die Presse und gab offiziell bekannt, was ein Abgleich der Fingerabdrücke und eine biometrische Vermessung des Gesichts des Attentäters inzwischen bestätigt hatten: Bei dem Mann, der in Sesto San Giovanni erschossen wurde, handelte es sich um den Tunesier Anis Amri. Es bestehe nicht der „Hauch eines Zweifels an seiner Identität“, sagte der Innenminister. Klarheit brachte vor allem der Abgleich von Fingerabdrücken. Sie waren identische mit denen, die in dem Lkw gefunden wurden und mit seinem Namen in Verbindung stehen. In Italien bestehe aufgrund der Terrorgefahr generell eine erhöhte Kontrolle des Territoriums, die es erlaube, Gesuchte schnell zu identifizieren und zu neutralisieren, erklärte Minniti. „Italien darf stolz darauf sein.“
Die Ermittlungen laufen weiter – wobei der wichtigste Zeuge, nämlich der Täter selber, nun nicht mehr aussagen kann. Die italienische Polizei geht nun der Frage nach, welche Kontakte der Attentäter möglicherweise in Italien gehabt hat oder ob er gar auf ein Terrornetz habe zurückgreifen können – eventuell mit Zentrale in diesem Mailänder Industrievorort, wo zahlreiche Muslime leben. Der Innenminister zeigte sich zuversichtlich, dass sich in den nächsten Tagen neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Ein erstes Ziel sei jedenfalls bereits erreicht, sagte Polizeichef De Iesu: Anis Amri werde keine neuen Attentate mehr begehen können. Die Gefährlichkeit des Tunesiers lasse sich schon daran ermessen, dass er eine schussbereite Waffe bei sich getragen und bei der Personenkontrolle keinen Augenblick gezögert habe, diese auch einzusetzen.
Weg anhand von Bahntickets rekonstruiert
Abgeklärt wird nun auch, ob es sich bei der von Amri gegen die beiden Polizisten eingesetzte Pistole um die gleiche Waffe handelt, mit der schon der polnische Lkw-Fahrer erschossen wurde, mit dessen Fahrzeug das Attentat in Berlin verübt wurde. Laut einem Bericht des „Corriere della Sera“ sollen die Waffen identisch sein. Eine offizielle Bestätigung dafür liegt aber seitens der italienischen Behörden nicht vor. Nach dem Tod des Berliner Attentäters sorgten sich die italienischen Sicherheitsbehörden, es könne zu Vergeltungsakten seitens radikalislamischer Gruppen kommen. In einem Rundbrief, der an alle Polizeipräsidenten im ganzen Land geschickt wurde, rief der nationale Polizeichef Franco Gabrielli alle Sicherheitsorgane zu „maximaler Wachsamkeit“ auf.
Laut Innenminister Minniti hatte Amri keinerlei Ausweispapiere bei sich, als er gestern erschossen wurde. Doch anhand von Bahntickets, die bei ihm gefunden wurden, konnten die Ermittler zumindest teilweise den Weg rekonstruieren, auf welchem der Attentäter von Berlin nach Sesto San Giovanni gelangt ist. Laut dem italienischen Antiterrorchef Alberto Nobili hat Amri im französischen Chambéry den Zug bestiegen, der ihn über Turin zum Mailänder Hauptbahnhof brachte, wo er am späten Donnerstagabend angekommen ist.
In Mailand ist er dann nach Sesto San Giovanni umgestiegen, wo er um ein Uhr morgens, zwei Stunden vor seinem Tod, eintraf. Noch unbekannt ist, wie der Attentäter von Berlin nach Chambéry gelangt ist – und in welche Richtung er von Sesto San Giovanni eventuell weiterreisen wollte. Laut Antiterrorchef Nobili könnte es sein, dass sich Amri in Richtung Süditalien absetzen wollte.
Vier Jahre Haft in Süditalien
Dort war er während des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 auch aus Tunesien angekommen – genauer gesagt, auf der Insel Lampedusa, von wo aus er später ins Auffanglager für Flüchtlinge in Belpasso in Sizilien verlegt wurde. Bei seiner Ankunft in Italien war Amri noch minderjährig gewesen; er fiel den Behörden umgehend als renitent und gewalttätig auf. So hat er sowohl im Flüchtlingslager von Lampedusa als auch in jenem von Belpasso Brände gelegt, Einrichtungsgegenstände zerstört und andere Flüchtlinge bedroht und geschlagen. Für seine Gewalttaten hat der spätere Attentäter insgesamt vier Jahre in süditalienischen Gefängnissen gesessen, darunter auch im Mafia-Hochsicherheitsgefängnis von Palermo.
Auch seine radikal-islamische Gesinnung blieb den italienischen Behörden nicht lange verborgen. So soll Amri im Gefängnis von Agrigento einem christlichen Mithäftling gedroht haben, ihm die Kehle durchzuschneiden. Nach dem Attentat gegen die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 habe er gejubelt und vor Freude mit den Fäusten gegen die Zellentüre getrommelt. Laut dem „Corriere della Sera“ wurden diese Vorfälle auch nach Rom an die Antiterrorbehörden gemeldet, wo er auf die Liste möglicher zukünftiger Terrorunterstützer gelangte.
Die effektive Gefährlichkeit des jungen, radikalisierten Tunesiers ist aber offensichtlich unterschätzt worden. Nach der Strafverbüßung ist Amri im Mai 2015 aus der Haft entlassen worden und sollte in sein Heimatland abgeschoben werden. Wie später auch gegenüber den deutschen Behörden zeigten sich die tunesischen Stellen auch schon gegenüber den italienischen Behörden wenig kooperativ. In der Folge tauchte der entlassene Amri ab.
Amri in seiner Jugend laut Familie kein gläubiger Moslem
Der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni sagte in einer Stellungnahme, die Operation in Mailand habe gezeigt: „Der Staat ist präsent und Italien ist präsent.“ Dennoch dürfe man die Bedrohungslage nicht unterschätzen. Die Sicherheitsbehörden seien weiterhin wachsam, sagte Gentiloni in Rom. Er habe Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitagmorgen über die Erschießung Amris in Kenntnis gesetzt.
Wie am Freitag bekannt wurde, hat Amri der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) in einem jetzt aufgetauchten Video die Treue geschworen. Die IS-nahe Agentur Amak veröffentlichte am Freitag ein Video, in dem Anis Amri dem IS-Anführer Abu Bakr al Bagdadi Treue schwört.
Amri ist nicht immer Islamist gewesen. Der am 22. Dezember 1992 in Tunesien Geborene wuchs mit acht Geschwistern in der Stadt Oueslatia auf. In seiner Jugend war Amri nach Angaben seiner Familie kein gläubiger Moslem: Er habe „wie alle Jugendlichen“ Alkohol getrunken und nicht gebetet, sagte sein Bruder Walid der Nachrichtenagentur AFP. Er fiel zudem als Kleinkrimineller auf: Im März 2011 ging Amri nach Europa, um einer vierjährigen Gefängnisstrafe wegen Diebstahls und Einbruchs zu entgehen. Nach Angaben seines Bruders Abdelkader wollte Amri aber auch der Armut in Tunesien entkommen: „Er hatte in Tunesien keine Zukunft und wollte um jeden Preis die finanzielle Situation unserer Familie verbessern.“ Nach seiner Flucht nach Italien wurde er am 24. Oktober 2011 zusammen mit drei anderen Tunesiern festgenommen, weil er eine Schule in Brand gesteckt hatte. In der vierjährigen Haft schließlich radikalisierte er sich.