Merkel und die Diplomatie: Wie verschiedene Länder mit der Flüchtlingskrise umgehen
Die Flüchtlingskrise betrifft einige Staaten, mit denen Merkel verhandelt, in besonderem Maße. Weil sie sehr viele Flüchtlinge haben, oder sie abwehren. Eine Übersicht.
Italien
Der jüngste Vorschlag aus Brüssel für eine Reform der Asyl- und Migrationspolitik der EU empfindet Innenminister Matteo Salvini für Italien eine Zumutung. „Wenn es beim Sondertreffen vom Sonntag nur darum geht, von Frau Merkel und Herrn Macron mit Hausaufgaben betraut zu werden, dann ist es besser, wenn Premier Conte nicht hinfährt. Dann können wir uns die Reisekosten sparen“, sagte Salvini am Mittwochabend. Offenbar, erklärte Salvini, habe man in der EU immer noch nicht begriffen, dass Italien nicht mehr bereit sei, „das Flüchtlingslager Europas“ zu spielen.
In Rage gebracht haben den Innenminister und Chef der rechtsradikalen Lega die Vorschläge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die am Sonntag in Brüssel an einem Mini-Gipfel zur EU-Asylpolitik besprochen werden sollen. Mit dem Entwurf wird zwar der Forderung des deutschen Innenministers Horst Seehofer Rechnung getragen, wonach Flüchtlinge, die aus einem anderen EU-Land einreisen wollen, schon an der Grenze abgewiesen und ins Ersteinreiseland zurückgebracht werden sollen. Die Verpflichtung zur Rückübernahme der Flüchtlinge entspricht dem Gegenteil dessen, was Italien und andere Ersteinreiseländer wie Griechenland, Spanien und Malta seit Jahren von ihren EU-Partnern erwarten: Mehr Solidarität bei der Bewältigung der Migration mittels Einführung von verbindlichen Quoten.
Der Entwurf wurde am Donnerstag zurückgezogen, weil Merkel die Teilnahme Contes nicht gefährden wollte. Falls der Entwurf beschlossen würde, so hatte Salvini zuvor gedroht, würden die Landgrenzen für Flüchtlinge geschlossen. Die nördlichen Grenzen Italiens für Flüchtlinge sind längst dicht. Frankreich, die Schweiz, Österreich und Slowenien haben an ihren Grenzen ab 2015 wieder Kontrollen eingeführt und weisen Migranten aus Italien konsequent zurück. Salvini wiederum unterschlägt, dass das von Italien mitunterzeichnete Dublin-Abkommen dem Ersteinreiseland das Asylverfahren aufbürdet – und dass die Rücknahme weitergereister Flüchtlinge die logische Folge dieses Abkommens ist. Ohne Entgegenkommen der EU-Partner im Norden wäre der Versuch, in der Asylpolitik noch vor dem EU-Gipfel vom 29. Juni einen Durchbruch zu erzielen, gescheitert. Dominik Straub
Libanon und Jordanien
Das Land ächzt, es stöhnt. Aber der Libanon hält durch. Und das schon seit Jahren. Beobachter halten das für ein kleines Wunder. Mehr als eine Million Syrer haben dort seit Kriegsbeginn 2011 Schutz gefunden. Und das sind allein die von den UN Registrierten. Tatsächlich dürften es noch viel mehr sein. Gemessen an der Gesamtbevölkerung hat weltweit kein Land mehr Flüchtlinge aufgenommen: Jeder sechste der gut sechs Millionen Einwohner ist ein Mensch, der dort Zuflucht gefunden hat. Wenn ein Staat mit einer Flüchtlingskrise zu kämpfen hat, dann ist das der Libanon. Davon wird sich Angela Merkel bei ihrem Besuch ein Bild machen können – und den Regierenden abermals ihre Unterstützung zusagen. Denn die Kanzlerin weiß genau: Die Hilfe vor Ort zahlt sich aus. Wer im Libanon einigermaßen über die Runden kommt – und sich in der Nähe seiner alten Heimat weiß –, der wird kaum Richtung Europa und Deutschland aufbrechen. Doch diese Rechnung geht nur auf, wenn das Land seine riesigen Probleme im Griff halten kann. Das ist alles andere als einfach. Zum einen lässt der Libanon keine offiziellen Flüchtlingslager zu. Die Regierenden haben Angst davor, dass die Syrer sich gewissermaßen einrichten – wie es einst die Palästinenser taten, die kamen und blieben. Es gibt heute zwar provisorische Camps, die zumeist aus einfachen Zelten, ein paar Brettern und Plastikplanen bestehen. Doch die meisten Flüchtlinge leben in Städten, Dörfern und kleinen Gemeinden. Und das oft hilfsbedürftig und unter ärmlichen Verhältnissen. Zum anderen hat die schiere Masse der Menschen zur Folge, dass der Arbeits- und Wohnungsmarkt aus den Fugen geraten ist. Viele Syrer verdingen sich zu Dumpinglöhnen, die Mieten sind explodiert. Da können viele Einheimische nicht mehr mithalten. Sie leben selbst oft unter der Armutsgrenze. Immer wieder gibt es Unruhen und Übergriffe.
Mit ähnlich großen Herausforderungen ist auch Jordanien konfrontiert. Auch das hat mit den Flüchtlingen zu tun. Das Königreich hat ebenfalls nach offiziellen Zahlen der Vereinten Nationen 750000 Syrer aufgenommen. Die Führung in Amman zählt gar 1,3 bis 1,4 Millionen – in einem Land, das knapp zehn Millionen Einwohner zählt. Wie der Libanon so meistert Jordanien bisher die Lage recht gut. Es brodelt allerdings. Es gibt Verteilungskämpfe bei Jobs, Unterkünften und beim Wasser. Jordanien gehört zu den drei wasserärmsten Ländern der Welt. Erst vor Kurzem kam es zu den seit Langem größten Massenprotesten. Eine geplante Steuerreform musste daraufhin ebenso gestoppt werden wie die Streichung von Subventionen für Brot, Strom und Benzin.
Noch kann König Abdullah II., gestützt auf seine Autorität als Monarch, derartige Konflikte entschärfen. Aber selbst er konnte nicht verhindern, dass die Arbeitslosigkeit auf mehr als 18 Prozent gestiegen ist. Die hohe Zahl der geflüchteten Syrer verschärft die wirtschaftliche Lage. Und das geht einher mit einer klammen Staatskasse. Die Stabilität des Landes steht von Tag zu Tag mehr auf dem Spiel. Christian Böhme
Visegrad-Staaten
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat kürzlich eine „Allianz der Willigen“ für eine Schließung der Fluchtrouten in die EU vorgeschlagen. Das Hauptthema der am 1. Juli beginnenden österreichischen EU-Ratspräsidentschaft soll der Kampf gegen illegale Migration werden. Bei dem Treffen der Visegrad-Gruppe – Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei – am Donnerstag in Budapest war Kurz deshalb genau richtig.
Die Gruppe der vier verfolgt seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 einen sehr restriktiven Flüchtlingskurs, eine Verteilung der Quoten lehnen sie strikt ab. Das wichtigste Ziel der Visegrad-Staaten ist es, das Flüchtlingsproblem nach außen zu verlagern – auf den Westbalkan oder am liebsten ganz weg von Europa.
Er freue sich, dass immer mehr EU-Staaten auf dem Standpunkt stehen, das Quoten keine Lösung sind, twitterte der geschäftsführende tschechische Regierungschef Andrej Babis vor dem Treffen. Nach seiner Ansicht müsse die EU drei Dinge beschließen: einen stärkeren Schutz der Außengrenzen, wirksame Asylverfahren – im Klartext: wirksame Abschiebung – und die effektive Bekämpfung von Menschenschmuggel.
Doch Babis hat noch ein anderes Problem, eines mit seinen bayerischen Nachbarn. „Der gegenwärtige Streit in Deutschland über Migration führt zu Vorschlägen, die Grenzen zu schließen und die Grenzkontrollen zu erneuern, was für uns inakzeptabel ist“, erklärte Babis am Dienstag auf einer EU-Konferenz in Prag. Der Regierungschef ist nicht nur Politiker sondern auch Unternehmer und deshalb sensibel für Gefahren, die der stark exportorientierten tschechischen Wirtschaft drohen können. Mehr als ein Drittel aller tschechischen Ausfuhren gehen über die deutsche Grenze. Kontrollen dort, so die Befürchtungen in Prag, würden nicht nur Flüchtlinge betreffen, sondern den freien Personen- und Warenverkehr insgesamt behindern.
Diese Sorgen macht sich der ungarische Regierungschef Viktor Orban nicht. Er beharrt auf dichten Grenzen um jeden Preis. Orban riegelte die ungarische Südgrenze bereits vor Jahren mit einem Zaun ab. In dieser Woche beschloss das Parlament in Budapest ein Gesetz, das Flüchtlingshelfer von Nichtregierungs-Organisationen mit Haftstrafen bedroht. Für Orban ist das Flüchtlingsproblem eine Verschwörung, die Finanzmagnaten wie George Soros angezettelt haben, um sich am Zerfall der europäischen Nationen zu bereichern. Das ungarische Helsinki-Komitee kritisierte, Ungarn sei eingetreten in eine „Ära der Angst, wie es sie seit dem Ende der kommunistischen Diktatur nicht mehr gab“. Frank Herold