Bischof Huber und Psychiater Saß im Gespräch: Wie verhindern wir Radikalisierung?
Islamisten, Rechtsextremisten, Hass-Kommentatoren: Radikalisierung kennt viele Formen. Worin sich die Wege dorthin ähneln, diskutieren Altbischof Wolfgang Huber und Psychiater Henning Saß.
Polarisierung, das Denken in Extremen prägt unsere Zeit. Und oft auch radikales Handeln. Terroristische Anschläge erschüttern in vergleichsweise kurzen Abständen Europa. Auf den Straßen und in den Foren der Öffentlichkeit zeigen sich Enthemmungen ungekannten Ausmaßes. Was eint die Menschen, die sich so verhalten, trotz ihrer unterschiedlichen Ideologien? Welche Bedingungen führen in die Radikalisierung? Und was kann die Gesellschaft dagegen tun? Mit diesen Fragen setzen sich der renommierte forensische Psychiater Henning Saß und der frühere evangelische Bischof Wolfgang Huber auseinander. Das Gespräch fand vor den jüngsten Taten in Deutschland und Frankreich statt. Wir haben es aus "Psyche im Fokus" (1/2016) übernommen, der Verbandszeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
Huber: „Radikal“ ist in meinen Augen im Grunde ein positiv besetztes Wort. Radikal sein bedeutet, die Dinge gründlich zu begreifen, ihnen an die Wurzel zu gehen. In der heutigen Gesellschaft, welche durch eine schnelllebige digitale Kommunikation und Kurzatmigkeit in der öffentlichen Diskussion geprägt ist, halte ich dies für einen positiven Ansatz. Diese Ursprungsbedeutung ist aber verloren gegangen, weil heute die Wörter „radikal“ und „radikalisiert“ gleichbedeutend verwendet werden. Letzteres bezeichnet Menschen, die von einer bestimmten, oft fixen Idee so besessen sind, dass sie alles andere nicht mehr gelten lassen. Sie verfolgen nur dieses eine Ziel, halten nur diese eine Ideologie für richtig und werten alle anderen Menschen ab, die diese Überzeugungen nicht teilen. Dies nenne ich „radikalisiert“ und nicht „radikal“.
Saß: Nun ist die entscheidende Frage, wann aus der wünschenswerten Radikalität im Umgang mit Problemen etwas gesellschaftlich Konfliktträchtiges im Sinne der Radikalisierung wird. Das kann man entweder auf gesellschaftlicher oder, wie ein Psychiater, auf individueller Ebene betrachten. Ich würde von einer schwierigen und schädlichen Radikalisierung dann sprechen, wenn eine Haltung starr und unflexibel wird – und wenn sie beim Betroffenen selbst oder seiner Umgebung zu Spannungen und Leid führt. Interessanterweise leiden die wenigsten Radikalisierten unter sich selbst. Denn derjenige, der radikalisiert ist, hält seine eigene Anschauung für wichtig und wertvoll. Die Umgebung jedoch leidet unter diesen Eigenschaften oder wird durch sie gefährdet.
Huber: Radikalität zeigt sich in der Hartnäckigkeit des Fragens, Radikalisierung dagegen in der Starrheit der Antworten. Radikalisierung lässt gar keine Fragen mehr zu, sondern hält bestimmte einfache Antworten in einer komplexen Welt für unumstößlich. Sie wertet all diejenigen ab, welche diesen Antworten nicht folgen. Radikalisierung ist sehr oft das Ergebnis eines Prozesses, der Verunsicherungen aller Art einschließt. Dies zeigt sich deutlich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit rechtsradikalen Ansichten. Sie haben das Gefühl, dass sie in ihrer näheren Umgebung, welche oft durch hohe Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geprägt ist, nicht gebraucht werden. Sie haben Schwierigkeiten, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und suchen nach einem Anker, der ihnen Orientierung bietet. Diesen finden sie in der Regel in einer Position, der ihnen eine gewisse Überlegenheit bietet und den Schritt aus der Unter- in die Überlegenheit ermöglicht.
Saß: Sicherlich gibt es gewisse Übereinstimmungen in den Entstehungsbedingungen von Radikalisierung. Die Bewältigung von Unsicherheit ist dabei ein zentraler Faktor. Aber darüber hinaus können ganz unterschiedliche individuelle, gesellschaftliche und soziale Bedingungen in Radikalisierung münden. In bestimmten Entwicklungsphasen ist die Wahrscheinlichkeit einer Radikalisierung höher als in anderen. Jemand der gereift und gefestigt ist, wird weniger gefährdet sein, sich zu radikalisieren, als jemand, der sich in einer kritischen Übergangsphase befindet wie beispielsweise in der Pubertät oder Adoleszenz. Selbst dort gibt es immer ergänzende Risikofaktoren, die es mit zu betrachten gilt, etwa Migrations- oder Bildungshintergrund.
Huber: Der Übergang aus der Schule zu Ausbildung, Studium und Beruf ist bekannt als riskante Phase. Gleichzeitig kann man vergleichbare Radikalisierungsprozesse auch bei älteren Menschen beobachten. Wenn wir uns die Pegida-Demonstrationen in Dresden anschauen und die außerordentlich herabsetzenden Sprüche auf den Transparenten lesen, dann erinnert das sehr an die Haltung rechtsradikaler Jugendlicher. Offensichtlich gibt es auch beim Übergang aus dem Beruf in den Ruhestand und im Alter Übergangsphasen, welche mit einer erhöhten Unsicherheit einhergehen. Auch dort werden diese Unsicherheiten projiziert auf Leute, die man überhaupt nicht kennt.
Saß: Im Falle der Pubertät und Adoleszenz besteht eine Entwicklungsaufgabe gerade darin, sich abzugrenzen und zu behaupten, mit den überkommenen Autoritäten ins Gericht zu gehen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Das bewusste, durchaus auch aggressive Brechen von Konventionen ist seit jeher integraler Bestandteil der Jugendkultur. In gewissen Konstellationen der individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen kann diese wichtige und notwendige Entwicklungsarbeit aber misslingen und in Radikalisierung münden.
Huber: Diese Auseinandersetzung kennen viele von uns sowohl aus der eigenen Jugend als auch aus der Erfahrung mit eigenen Kindern oder Schülern. Man weiß vorher oft nicht, ob der Übergang gelingen wird. Wie die menschliche Kommunikation überhaupt enthalten Entwicklungsprozesse ein Moment des Wagnisses. Zu diesem Wagnis gehört es, auch bei vollständig unverständlichem Verhalten die Empathie, Liebe und Offenheit für einen anderen Menschen nicht zu verlieren. Unsicherheiten lassen sich dann hoffentlich produktiv verarbeiten; auch durch die Verunsicherung hindurch können Menschen Entwicklungsaufgaben meistern.
Saß: Man wird für keinen Menschen abschließend erklären können, warum er diese Richtung und ein anderer eine andere Richtung eingeschlagen hat. Jedoch können wir Eigenschaften und Umstände bestimmen, welche das Risiko einer Radikalisierung erhöhen. Das sind die angesprochenen Faktoren Unsicherheit und Verunsicherung, aber auch Umgebungsfaktoren, etwa eine konfliktreiche Beziehungen zu den Eltern oder ein problematischer Freundeskreis. Dazu gehören auch Persönlichkeitszüge, die sich im Rahmen der Radikalisierung verfestigen können. Ich denke etwa an die Ausprägung einer gewissen Egozentrik, Selbstgerechtigkeit oder die gewohnheitsmäßige Einteilung der Außenwelt in Gut und Böse, die Überbewertung der eigenen Position sowie die mangelhafte Fähigkeit und Bereitschaft, sich gedanklich oder gefühlsmäßig in andere hineinzuversetzen.
Huber: Der islamische Dschihadismus ist momentan das sichtbarste Beispiel für eine Überbewertung der eigenen Position. Aber wir wissen auch, dass das Christentum in früheren Phasen ebenfalls Fundamentalismus und Extremismus kannte – und sogar bis heute in manchen Weltregionen kennt. Wir beobachten, wie eine vermeintlich religiöse Position an einem gewissen Punkt mit einer Grundeigenschaft der monotheistischen Tradition bricht, nämlich der Korrespondenz der Vorstellung von dem einen Gott mit dem Respekt für die gleiche Würde aller Menschen im Sinne eines egalitären Universalismus. Diese Würde gilt dann nicht mehr für alle Menschen als Eigenschaft des Menschseins selbst, sondern nur für diejenigen, welche der eigenen Ideologie folgen.
Saß: Auch in dieser Haltung lässt sich ein Element der Unsicherheit erkennen. Dies bestätigen meine eigenen Begutachtungserfahrungen mit sogenannten Dschihadisten, bei denen gerade diese Unsicherheit ein konstantes Element in der Entwicklung von Kindheit über Jugend bis zur Gegenwart darstellte. Es handelte sich in diese Fällen um Migranten der zweiten Generation, die in einer ambivalenten und unsicheren Beziehung zu ihrer Umgebung aufgewachsen sind: auf der einen Seite das traditionelle religiöse Wertesystem der Eltern und auf der anderen Seite das westliche Wertesystem außerhalb des Elternhauses. In dieser für die eigene Identitätsbildung zwiespältigen Situation wurde dann kein stabiler eigener Weg gefunden. Im schulischen Bereich erlebten sie Enttäuschungen und Misserfolge, in der Pubertät verfielen sie dem schlechten Einfluss der Peer-Group. Eine anfänglich leichte Delinquenz führte zu Haftstrafen.
Im Gefängnis dann fand bei allen drei Männern eine Ideologisierung durch Prediger und ein gewisses Erweckungserlebnis statt: Gottes Plan für sie war der Zug in den Dschihad. Dass es sich dabei nur um eine scheinbare Sicherheit handelte, das erfuhren die jungen Männer durch die Umstände in den Lagern der Terroristen. Durch die unbequemen, harten Anforderungen, aber vor allem auch durch aufkommende Zweifel an den dortigen Führungspersonen bröckelten die festen ideologischen und religiösen Überzeugungen. Schließlich flohen sie zurück nach Deutschland. Hier stehen sie jetzt als Teilnehmer an Kriegshandlungen und potentielle Terroristen vor Gericht – und befinden sich wieder in der Situation des Außenseiters und Verunsicherten.
Huber: Dadurch werden wir mit der Frage konfrontiert, ob es einen Weg aus der Radikalisierung gibt. Darauf müssen wir hoffen und wir dürfen diese Hoffnung auch nicht grundsätzlich aufgeben. Deshalb müssen Haftstrafen wie generell so auch bei zurückkehrenden Dschihadisten den Zweck der Resozialisierung haben. Wir dürfen ihnen den Weg zurück in die Gesellschaft nicht dadurch verwehren, dass wir sie grundsätzlich verloren geben, denn damit würden wir selbst Opfer von Vorurteilen werden.
Saß: Sicherlich haben wir es nicht in jedem Einzelfall von Radikalisierung mit einer irreversiblen und malignen Persönlichkeitsentwicklung zu tun. Es gibt aber auch psychopathologische Entwicklungen, bei denen sich eine solche Radikalisierung und Fanatisierung wie ein Krebsgeschwür in die Persönlichkeit eines Menschen hineinfressen kann. Als forensischer Psychiater kennt man beispielsweise die schwierigen Fälle von Querulanten. Das sind Menschen, bei denen die einseitige, egozentrische, radikale Sicht der Welt so unkorrigierbar geworden ist, dass sie ihr gesamtes Leben zerstören in der Verfolgung ihrer fixierten Überzeugung. Solche Persönlichkeitsstrukturen gibt es nicht nur im Rechtskampf sondern auch bei politischen Extremisten und Terroristen, allerdings bilden sie dort die Ausnahme.
Wie Jugendliche moralische Standards konkret erfahren können
Huber: Wir müssen also davon ausgehen, dass am Anfang von Radikalisierungsprozessen individuelle, aber auch soziale und gesellschaftliche Ursachen stehen, vor denen letztlich niemand ganz sicher ist. Umso wichtiger ist es, dass wir als Gesellschaft derartige Entwicklungen frühzeitig wahrnehmen und uns von den Menschen, die in einen solchen Radikalisierungssog hineingeraten, nicht abwenden. Ganz im Gegenteil: Wir müssen den Kontakt zu ihnen suchen und sie zur kritischen Selbstreflexion anregen.
Saß: Unbedingt, denn solche Entwicklungen graben sich erst im Laufe der Zeit immer tiefer in die Persönlichkeit ein. Die Chance, den Weg zu ändern, besteht vor allem in den Frühstadien. Doch diese sind schwer zu erkennen, weil es ja beispielsweise zur Adoleszenz gehört, dass man sich kraftvoll abgrenzt, nach eigenen Wegen sucht und Autoritäten relativiert. Auf die Frage, wo die gesunde, dem Alter und dem Entwicklungsstadium angemessene Form der Auseinandersetzung aufhört und eine besorgniserregende Fehlentwicklung beginnt, gibt es keine einfache Antwort, die wir in den Alltag übertragen können.
Huber: Eine Möglichkeit besteht darin, dass wir Jugendlichen die Möglichkeit bieten, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen, die anders als sie selbst sind und sich in anderen Lebenssituationen befinden. Ich denke an das sogenannte Service-Learning, das sich in den USA bereits etabliert hat und in Deutschland unter dem Begriff „Lernen durch Engagement“ Fuß fasst. Es geht darum, gesellschaftliches Engagement von Jugendlichen fest im Schulalltag zu verankern. Dabei übernehmen sie beispielsweise ein Stück Verantwortung für Kinder in einer Kindertagesstätte oder für ältere Menschen in einem Seniorenheim. Diese Erfahrungen sind für Jugendliche viel prägender, als wenn wir im Religions- oder Ethikunterricht moralische Standards abstrakt vermitteln. Wer erfahren hat, wie es sich bei uns lebt, wenn Deutsch nicht die Muttersprache ist oder wenn man alt ist, ordnet Menschen weniger schnell nur nach Klischees ein.
Saß: Junge Menschen haben ja schon fast einen Hunger danach, sich für etwas zu begeistern und sich für bestimmte Ideale einzusetzen. Das scheint mir ein ganz elementares Bedürfnis zu sein, das sich schon sehr früh in der Kindheit beobachten lässt – etwa wenn Kinder Verantwortung für ein Haustier übernehmen. Diese starke Bereitschaft, etwas für andere zu tun, sich dafür einzusetzen und sich nützlich zu machen, ist da regelrecht spürbar. Projekte, die gesellschaftliches Engagement vermitteln, sind mit Sicherheit ein hervorragendes Mittel, um die Sozialisierungsprozesse bei Jugendlichen in die richtige Richtung zu lenken. Trotzdem müssen wir uns fragen, warum dies bei so vielen nicht gelingt. Warum begeben sich so viele junge Menschen auf einen Rückzug, der dann manchmal in die vorhin erwähnten Fehlentwicklungen mündet?
Huber: Diese Frage lässt mich über das Verhältnis zwischen Empathie und Konkurrenz nachdenken. Empathie ist in der Evolutionsgeschichte des Menschen tief verankert. Doch sie stößt in unseren modernen Konkurrenzgesellschaften auf das Prinzip der Abgrenzung und des Wettbewerbs. Solidarität versus Durchsetzung, Empathie versus Konkurrenz – eine gesellschaftliche Erfahrung, die sich angesichts der Ökonomisierung vieler Lebensverhältnisse immer stärker manifestiert. Enttäuschungserfahrungen haben sehr viel damit zu tun, dass Jugendliche das Gefühl haben, in dieser Konkurrenz nicht bestehen zu können. Die Sehnsucht nach Empathie wird so als große Selbsttäuschung betrachtet, der sie erlegen sind und mit der sie Schluss machen wollen.
Saß: In guten Beziehungsgestaltungen wird dieser Entwicklung dadurch begegnet, dass Jugendliche beispielsweise Gruppenerlebnisse haben, z. B. im Sport, sich also in einem Team engagieren. Hier muss sich zwar der Einzelne behaupten, doch der Erfolg ist ein gemeinsamer. In einer Mannschaft kann auch der Starke nicht nur seine eigene Stärke zur Geltung bringen, sondern muss auch den Schwächeren mitnehmen. Solche Gruppenprozesse modifizieren das Verhältnis zwischen Empathie und Konkurrenz und bringen es in eine Balance.
Mit dem Empathiebegriff betonen wir übrigens sehr stark die Gefühlsseite, aber die Denkseite ist ebenso wichtig. Im Zusammenhang mit Radikalisierungsprozessen müssen wir auf die Fähigkeit und Bereitschaft fokussieren, anderes Denken nachzuvollziehen und das Vertrauen aufzubringen, sich in seinem eigenen Denken beeinflussen zu lassen. Gerade bei Dschihadisten lässt sich beobachten, dass sie nicht nur aus fehlgeleiteten Gefühlen handeln, sondern auch eine mangelhafte Flexibilität im Denken an den Tag legen.
Huber: Dies führt uns wieder zum Thema Unsicherheit zurück. Die psychologische Funktion dieser Art von Starrheit besteht letztlich in der Kompensation von Unsicherheit. Die Öffnung des eigenen Denkens für andere Gedanken setzt eine Gewissheit über die eigene Identität voraus, bei der ich darauf vertraue, dass mir meine Identität nicht dadurch geraubt wird, dass ich Werte in Frage stelle, die ich über lange Zeit für vollkommen fraglos gehalten habe.
Saß: Was uns auf den Begriff des Vertrauens bringt: das in frühen Bindungen erfahrene Urvertrauen, aus dem heraus es möglich ist, sich auf das andere einzulassen, ohne es gedanklich gleich als Böses zu verteufeln.
Huber: Zu diesem Urvertrauen gehört eben auch die Teamerfahrung, die in diesem Zusammenhang sagt, dass jeder Mensch Begabungen und Fähigkeiten hat, die in einer Gruppe eine sinnvolle Bedeutung haben können. Ein Beispiel: Bei Rugbyspielen erfüllen höchst unterschiedliche Typen von Menschen eine konstruktive Rolle im Team. Nicht nur die starken und kräftigen Spieler sind wichtig, sondern auch die kleinen und schnellen oder diejenigen, die gut werfen oder Spielzüge in Gang setzen können. Jeder findet in diesem Team seinen Platz, keiner muss das Gefühl haben, dass er völlig unbrauchbar ist. Diese Grundidee, den anderen Menschen unter dem Gesichtspunkt seiner Begabungen und nicht seiner Schwächen anzusehen, ist für die Vermeidung von Radikalisierung eine unentbehrliche Voraussetzung.
Saß: In der Tat können frühe und gute Gruppenerfahrungen eine protektive Wirkung entfalten. Günstige pädagogische, schulische, erzieherische und familiäre Konstellationen bieten einen positiven Schutz vor Radikalisierungsentwicklungen.
Huber: Diese Überlegungen werfen auch die Frage nach dem Verhältnis von Radikalisierungsprozessen und Digitalisierung auf. Die Entwicklung hin zu Digital Natives führt auch dazu, dass Gruppenerfahrungen seltener werden, da die digitale Welt eine immer größere Rolle spielt. In dieser digitalisierten – oftmals anonymen – Kultur sinkt die Hemmschwelle, anderen gegenüber verächtlich zu begegnen. Jugendliche bewegen sich heute in einer Welt, in der das Herabsetzen anderer Menschen viel einfacher geworden ist. Wenn wir Radikalisierungsprozessen vorbeugen wollen, müssen wir auch diesen Bereich im Auge behalten.
Saß: Ich hatte auch die Befürchtung, dass das Hineintauchen in die digitale Welt die sozialen Fähigkeiten verkümmern lässt. Doch dieses Hineingeraten von einer schizoiden Außenseiterposition in eine starke Isolation hat es bei entsprechender Disposition schon immer gegeben. Früher haben sich Menschen in Bücher oder Zeitschriften geflüchtet und jeden Kontakt nach Außen abgebrochen. Menschen, die Angst davor haben, in Kontakt zu kommen und sich deshalb in eine Phantasie- oder Scheinwelt zurückziehen, wird es immer geben.
Heute bewegen sie sich gern und befreit von realen sozialen Kontakten im Internet. Dabei frappiert mich, dass es auch viele junge Menschen gibt, die sich lebhaft in der digitalen Welt tummeln, und trotzdem intensive, persönliche und gefühlsgetragene soziale Beziehungen pflegen. Zudem ist ein gewisser sozialisierender Anpassungsdruck zu beobachten, denn die jungen Menschen wollen auch in der digitalen Welt „geliked“ werden: Sie verhalten sich so, dass andere es gut finden. Denken Sie auch an die Beliebtheit von Emoticons. Darüber hinaus bietet das Internet auch viele informative und aufklärerische Funktionen. Die Entwicklung der Digital Natives muss nicht per se negativ sein. Dass aber die Hemmschwelle sinken kann, andere Menschen herabzusetzen, steht leider außer Frage.
Huber: Das bedeutet, dass wir Spielregeln für Verhalten in der digitalen Welt entwickeln sollten. Wir müssen junge Menschen auf diese Welt vorbereiten. Und an bestimmten Stellen benötigen wir auch eine freiwillige Selbstkontrolle durch die Betreiber digitaler Plattformen. Ich war z. B. erleichtert, dass im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik an bestimmten Stellen die Diskussionsforen deaktiviert wurden, weil sich dort viel Hass aufgestaut hatte. So konnte die Spirale extremistischer Äußerungen wenigstens unterbrochen werden. Deshalb ist das Thema so wichtig: In der digitalen Welt geht es nicht nur um die Beeinflussung einer einzelnen Lebensgeschichte, sondern um die Beeinflussung des gesellschaftlichen Klimas. Steuern bedeutet hier auch, dass es an Stellen, an denen die Integrität des Menschen auf dem Spiel steht, keine Toleranz geben darf.