Zehn Jahre Agenda 2010: Wie stellen sich Experten eine "Agenda 2020" vor?
Vor zehn Jahren präsentierte Gerhard Schröder die „Agenda 2010“. Das Reformprogramm setzte weitgehende Veränderungen in der Arbeitsmarktpolitik, im Gesundheitswesen und dem Rentensystem in Gang. Wir haben Experten gefragt, welche drei Reformen sie heute wichtig fänden.
Vor genau zehn Jahren schuf sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sein Denkmal – und setzte gleichzeitig seine Partei einer Zerreißprobe aus: Am 14. März 2003 umriss er in einer mit großen Erwartungen verbundenen Regierungserklärung im Bundestag das große Reformvorhaben von Rot-Grün: die „Agenda 2010“. Das, was innerhalb dieses Programms den stärksten Widerspruch hervorrief und in der Folge nahezu zum Synonym für den Agenda-Begriff wurde, war die Hartz-IV-Reform. Damit wurde neben das bislang übliche Arbeitslosengeld das Arbeitslosengeld II gestellt, das die ehemalige Arbeitslosenhilfe, also die Unterstützung für Langzeitarbeitslose, und die Sozialhilfe zusammenführte. Weniger spektakulär wirkten hingegen zunächst die Hartz-I- bis Hartz-III-Gesetze, die ebenfalls auf Anregungen einer Kommission unter Leitung von Peter Hartz, ehemaliger Personalvorstand von VW, zurückgingen. Sie regelten die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen, die die Arbeitsämter bei der Jobvermittlung unterstützen sollten. Die Leiharbeit wurde aufgewertet, geringfügige Beschäftigung und die Aufnahme selbstständiger Tätigkeit wurden gefördert und die Kriterien für die Zumutbarkeit angebotener Arbeit verschärft.
Die arbeitsmarktpolitische Agenda wurde von weiteren Agenda-Bestandteilen ergänzt: eine Gesundheitsreform, ein kommunales Investitionsprogramm, eine veränderte Rentenformel, die den Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigte, eine teilweise vorgezogene letzte Stufe der Einkommensteuerreform. Wie hoch der wirtschaftliche, soziale, ja, gesellschaftliche Ertrag der „Agenda 2010“ tatsächlich ist, bleibt umstritten. Dass sie Deutschland vorangebracht hat, ist weithin anerkannt. Dass sich Gerechtigkeitsfragen heute neu stellen, ist aber ebenfalls kaum infrage zu stellen. Und so mehren sich schon die Stimmen, die eine Weiterführung der Reformen fordern – eine „Agenda 2020“. Wir haben Experten gefragt, wie sie sich ein solches Reformprogramm vorstellen könnten.
"Rente ab 70 wird und muss kommen", ...
meint der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) Klaus F. Zimmermann
Wichtig ist vor allem, dass die Agenda 2010 nicht zurückgedreht wird. Darauf müssen alle Überlegungen zu einer Agenda 2020 basieren. Die sollte als Erstes Familien zielgerichteter fördern. Also weg von der reinen Förderung der Ehe, dem Ehegattensplitting. Diese Familienförderung müsste auch stärker auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zielen, also Kindergärten beitragsfrei machen und mehr Ganztagsschulen schaffen. Zweitens müssten Ältere stärker in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die Rente mit 70 muss und wird kommen. Es kommen immer weniger Junge nach und die Menschen werden älter, also müssen Anreize geschaffen werden, länger im Beruf zu bleiben – für diejenigen, die das können und wollen. Drittens sollten Zuwanderung und Integration gestärkt werden. Zum Beispiel müsste die Arbeitssuche internationalisiert und die Menschen, wenn sie dann in Deutschland arbeiten, besser integriert werden. Es ist schon einiges getan worden, indem die Mindestgehaltsgrenzen für Hochqualifizierte gesenkt wurden. Aber unterhalb dieser Schwelle gibt es auch Fachkräfte, zum Beispiel in der Pflege, die Deutschland dringend benötigt.
"Den Spitzensteuersatz erhöhen", ...
unterstreicht der Wirtschaftsweise Peter Bofinger
Eine wichtige Bemerkung vorab: Reformen sind kein Selbstzweck. Man sollte bei jeder Neuerung kritisch hinterfragen, ob diese spezielle Reform wirklich etwas nutzt. Wenn man nun eine Agenda 2020 aufsetzen würde, dann wäre es am wichtigsten, die Altersvorsorge neu zu regeln. Bei der Agenda 2010 hat man durch Riester und Rürup massiv das private Sparen gefördert. Nun kriegen die Menschen für all ihr Erspartes aber keine Zinsen mehr. Zugleich geht die private Altersvorsorge zu Lasten der gesetzlichen. Diese sollte wieder mehr gestärkt werden. Eine Möglichkeit wäre eine Pflichtversicherung auch für die Selbstständigen, für die bisher keine Versicherungspflicht besteht.
Auch bei der Riesterförderung könnte man überlegen, ob zum Beispiel der Sonderausgabenabzug – mit dem Wohlverdienende das Riestern von der Steuer abziehen können - wirklich sinnvoll ist. Statt viel Geld in die private Altersvorsorge zu pumpen,sollte man es lieber in Familien investieren. Das ist das zweite Anliegen. Kostenlose Kindergartenplätze wären eine gute Idee. Drittens wäre eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes sinnvoll. Ein Vorschlag: 50 Prozent (Solidaritätszuschlag inklusive) ab einem Bruttoeinkommen von 100 000 Euro pro Person im Jahr.
"Leiharbeiter gleich bezahlen und behandeln", ...
sagt die DGB-Vize-Vorsitzende Elke Hannack
Die Folgen der Agenda 2010 sind mehr atypische und prekäre Beschäftigung, mehr Niedriglöhne und eine schlechtere Existenzsicherung, mehr Leiharbeit, Mini-Jobs und befristete Beschäftigung und weniger reguläre Vollzeitarbeit. So eine Agenda 2020 ist mit den Gewerkschaften nicht zu machen. Was wir brauchen, ist erstens eine bessere Existenzsicherung für die Bürgerinnen und Bürger, allem voran einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro. Es muss zweitens Schluss sein mit den Sackgassen am Arbeitsmarkt: wir brauchen die gleiche Bezahlung und die gleiche Behandlung von Leiharbeitsbeschäftigten und Mini-Jobbern. Wir brauchen drittens begehbare Brücken zu regulärer Beschäftigung hin, aber nicht die mit der Agenda 2010 durch prekäre Arbeitsformen verstärkten Mauern. Angesichts der Risiken ist eine bessere soziale Absicherung notwendig, aber kein weiterer Abbau, wie wir das in den vergangenen zehn Jahren gesehen haben.
"Mehr Investitionen in Forschung", ...
fordert der Ökonom Bert Rürup
Als erstes bräuchte es eine Veränderung der Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II, um eine reguläre Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt attraktiver zu machen. Es wäre sinnvoll, die ersten hinzuverdienten 100 Euro nicht freizustellen, sondern voll auf den Arbeitslosengeld-II-Anspruch anzurechnen, aber dafür diese Unterstützung bei jedem weiteren Euro nur zur Hälfte und nicht wie derzeit zu 80 Prozent des Hinzuverdiensts zu kürzen. Als zweites sollten die steuerfinanzierten Bundeszuschüsse an die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung sowie perspektivisch auch an die Pflegeversicherung in Bundesbeiträge umgewandelt werden, die fest mit den von den Beschäftigten und Arbeitgebern zu zahlenden Sozialabgaben gekoppelt sind. Denn vor dem Hintergrund der sich noch beschleunigenden Bevölkerungsalterung und der ab 2016 scharf gestellten Schuldenbremse kann damit eine zumindest begrenzte Entkoppelung der Finanzierung unserer Sozialkassen von den Löhnen und damit den Arbeitskosten gewährleistet werden und verhindert werden, dass die Zuschüsse je nach Kassenlage gezahlt werden.
Als drittes muss die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung ausgebaut und stärker in Humankapital investiert werden. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft hängt nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit zu Prozess- und Produktionsinnovationen ab. Deshalb sollte der Staat die steuerliche Abzugsfähigkeit von FuE-Aufwendungen verbessern – allerdings nur bei der Forschungsaufwendung, die nicht bereits durch staatliche Zuwendungen im Rahmen der wenig mittelstandsfreundlichen Projektförderung subventioniert wurde. Das Humankapital – die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten unserer Erwerbstätigen – ist der einzige Rohstoff, über den Deutschland verfügt. Vor dem Hintergrund von Bevölkerungsalterung und einem schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzial sind gut ausgebildete Arbeitskräfte wichtiger denn je, um die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts zu erhalten. Wie schon einmal in den 1960er Jahren muss Bildung in einer Agenda 2020 als nationale Aufgabe definiert werden. Der Staat sollte daher seine Investitionen in den Kindergärten, Schulen und Hochschulen erhöhen und die Unternehmen ihre Ausgaben für betriebliche Weiterbildung. Im Gegenzug müssen die Erwerbstätigen zum lebenslangen Lernen bereit sein.
"Hartz 4-Regelsätze erhöhen", ...
fordert der Politische Referent in der Arbeitslosenarbeit Martin Künkler
Generell müsste eine Agenda 2020 dazu dienen, die immer weiter klaffende Lücke zwischen Arm und Reich wieder zu schließen. Dazu ist es nötig, als ersten Punkt die Hartz-IV-Regelsätze zu erhöhen. Mit 382 Euro kommt niemand über die Runden. Besonders erschreckend ist bei der Aufschlüsselung der Bereich kulturelle Teilhabe. Für Sport und Kulturveranstaltungen sind bei Erwachsenen 8 Euro angesetzt, für Kinder gibt es für Spielwaren und Hobbies im Monat 6,90 Euro. Das ist viel zu wenig. Zweitens muss ein Mindestlohn eingeführt werden. Die Agenda 2010 hat dazu geführt, dass Niedriglöhne ein Massenphänomen wurden. Das ist ja auch kein Wunder, denn Not macht erpressbar. Wenn die Arbeitslosenunterstützung so niedrig ist, dann ist auch die Bereitschaft entsprechend hoch, schon zu unwürdig niedrigen Löhnen zu arbeiten. Und drittens muss stärker in die Weiterbildung von Langzeitarbeitslosen investiert werden. Momentan gibt es vor allem kurzfristige Angebote, wie Computer-Kurse oder Bewerbungstrainings. Aber es würde viel mehr nutzen, ein längerfristiges Angebot zu unterbreiten, an dessen Ende zumindest ein Teilabschluss steht. Wenn jemand eine neue Berufsqualifikation oder zumindest den Abschluss eines Moduls vorweisen kann, steigen auch die Jobchancen.