Minderjährige Flüchtlinge: Wie soll Deutschland mit Kinderehen umgehen?
In Syrien, Irak und Afghanistan werden viele minderjährige Mädchen verheiratet. Viele von ihnen kommen als Flüchtlinge. Was können deutsche Behörden tun? Fragen und Antworten.
In Flüchtlingsunterkünften leben nicht wenige junge Mädchen und auch einzelne Jungen, die bereits verheiratet sind. Helfer und Behörden stellt das vor ein Problem. Sie müssen entscheiden, ob sie die minderjährigen Ehegatten von ihren Partnern trennen oder sie gemeinsam unterbringen. Anfang September trifft sich erstmals eine Arbeitsgruppe aus Vertretern des Bundes und der Bundesländer, um nach einheitlichen Lösungen zu suchen.
Worum geht es in der Arbeitsgruppe?
Es geht um die Frage, ob im Ausland geschlossene Ehen von Minderjährigen in Deutschland anerkannt werden. In den vergangenen Monaten sind die Behörden bei der Registrierung der Flüchtlinge auf etliche Fälle gestoßen, bei denen ein Ehepartner jünger als 18 Jahre ist – im Regelfall sind das Mädchen.
Wie viele solcher Ehen es bundesweit gibt, darüber gibt es keine verlässlichen Statistiken. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe soll erstmals eine Bestandsaufnahme vornehmen. Erhebungen der Länder deuten darauf hin, dass es bundesweit rund 1000 Fälle gibt. In Berlin dürften es etwa 100 sein. Dabei ist ein großer Teil der Mädchen offenbar 16 Jahre oder älter. Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die Angaben beruhten auf Aussagen der Betroffenen und seien nicht durch entsprechende Dokumente belegt, erläutert ein Sprecher des Justizministeriums. Hinzu komme, dass die Angaben zum Familienstand nicht verpflichtend seien.
Über welche Gesetzesänderungen wird nun diskutiert?
Die Justizminister von Bayern und Nordrhein-Westfalen, Winfried Bausback (CSU) und Thomas Kutschaty (SPD), wollen die Untergrenze für die Anerkennung von Auslandsehen bei 16 Jahren festlegen. „14- und 15-jährige Mädchen gehören in die Schule und nicht vor den Traualtar“, schrieben sie vor Kurzem in einem gemeinsamen Brief an Justizminister Maas. Schon der verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Kindern und Minderjährigen verlange, dass die deutsche Rechtsordnung keine Kinderehen mit unter 16-jährigen Mädchen dulde, sagt Bausback.
Er will durchsetzen, dass für die Beurteilung der Ehemündigkeit einer Person stets das deutsche Recht gelten soll. Der CSU-Politiker fordert außerdem, dass Kinderehen hierzulande von Anfang an keine Rechtswirkung entfalten. „Möglicherweise langwierige Aufhebungsverfahren können wir uns nicht leisten“, sagt er.
Was sagen Kinderschutzexperten?
Der Deutsche Kinderschutzbund und Frauenrechtsorganisationen wie Terre des Femmes würden gern noch weiter gehen. Im Ausland geschlossene Ehen mit Minderjährigen sollten in Deutschland grundsätzlich nicht mehr anerkannt werden. Sie fordern, in Deutschland die Ehemündigkeit auf 18 Jahre anzuheben – ohne Ausnahmen. Für die schon eingereisten Minderjährigen solle in jedem Fall ein unabhängiger Vormund bestellt werden, sagt Myria Böhmecke von Terre des Femmes.
Unicef-Sprecher Rudi Terneden sagte dem Tagesspiegel, die Mädchen hätten ein Recht auf ein eigenständiges Leben. Außerdem sei eine frühe Heirat mit hohen Gesundheitsrisiken verbunden, etwa wenn die Mädchen schwanger würden. Dennoch fordert Unicef nicht in jedem Fall eine Trennung der Ehepartner. „Wo Zwang und Gewalt zu erkennen sind, muss man kompromisslos eingreifen“, sagt Terneden. Im Einzelfall könne eine Trennung das Leben der Mädchen aber eher noch erschweren. „Es gibt hier keine einfache Antwort.“
Wie ist die Rechtslage in Deutschland?
Bisher gilt: Im Ausland rechtmäßig geschlossene Ehen von Ausländern werden anerkannt, wenn diese nicht gegen die öffentliche Ordnung (Ordre public) verstoßen. Dieser Grundsatz ist im Einführungsgesetz zum BGB geregelt. „Eine Rechtsnorm eines anderen Staates ist nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist“, heißt es konkret. Das gilt insbesondere, wenn die Anwendung gegen Grundrechte verstößt.
Ob eine Ehe, bei der einer oder beide Ehepartner nicht ehemündig sind, einen Verstoß gegen den Ordre public darstellt und ob aus Kindeswohlgesichtspunkten ein solcher Verstoß dazu führen kann, die Ehe als nichtig anzusehen, ist unklar. Der Bundesgerichtshof hat sich bislang noch nicht dazu geäußert.
Für Ehen, die in Deutschland geschlossen werden, ist die sogenannte Ehemündigkeit Voraussetzung, und die besteht ab dem Eintritt der Volljährigkeit. Eine Ehe soll nicht vorher eingegangen werden, steht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB).
Allerdings kann das Familiengericht davon eine Ausnahme erteilen, wenn ein Ehegatte volljährig und der andere mindestens 16 Jahre alt ist. Das Gesetz schützt solche Ehen auch gegen den Willen der Eltern: Gesetzliche Vertreter können widersprechen, aber sie müssen „triftige Gründe“ vorbringen. Fehlen die, darf das Paar heiraten.
Wie gehen Behörden und Gerichte bisher mit der Situation um?
Unterschiedlich. Da auch in Deutschland Minderjährige in Ausnahmefällen heiraten dürfen, geht die Tendenz zumindest bei Ehepartnern, die zwischen 16 und 18 Jahren alt sind, dahin, die Ehen anzuerkennen. Dies bedeutet aber nicht automatisch, dass ausländische Ehen mit noch jüngeren Partner nicht anerkannt werden dürften. Entscheidend ist bisher, ob man das deutsche Mindestehealter zu den „wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts“ zählt. Manche Gerichte tun das. Andere nicht. In einem aufsehenerregenden Fall hat das Oberlandesgericht Bamberg kürzlich entschieden, dass eine mit 14 Jahren verheiratete Syrerin bei ihrem älteren Mann bleiben darf, mit dem sie gemeinsam geflüchtet war. Das Jugendamt dürfe nicht über den Aufenthalt der Jugendlichen bestimmen, hieß es. Die Richter meinten, dass die Ehe nach syrischem Recht als wirksam angesehen werden müsse, solange sie nicht angefochten werde. Ähnliches gelte in Deutschland. Auch hier sei die Ehe von unter 16-Jährigen als wirksam anzusehen, solange sie nicht angefochten werde. Anhaltspunkte für eine Zwangsheirat sahen sie nicht. Beide hätten ihre gefährliche Reise zusammen „gemeistert“ und planten eine gemeinsame Lebensgestaltung. Da ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zu der Problematik bisher fehlt, hat das OLG Bamberg eine Beschwerde gegen seine Entscheidung zugelassen.
Was sind die Ursachen für die vielen Kinderehen?
Auch in Syrien oder Afghanistan ist die Verheiratung von Minderjährigen nicht die Regel. In Syrien gilt für Mädchen ein Mindestheiratsalter von 17 Jahren, in Afghanistan von 16 Jahren. Ausnahmen für jüngere Mädchen sind aber möglich. Für Jungen liegt das Mindestheiratsalter jeweils ein bis zwei Jahre höher. Aktuellen Daten des UN-Kinderhilfswerks Unicef zufolge waren vor dem Krieg in Syrien aber nur rund 13 Prozent der Bräute jünger als 18. In Afghanistan hingegen gut ein Drittel.
Myria Böhmecke von Terre des Femmes bringt dies vor allem mit der Armut gerade in ländlichen Gegenden des Landes in Verbindung. „Die Familien wollen ihre Töchter versorgen und sind auch überzeugt, sie durch eine Heirat besser vor sexuellen Übergriffen schützen zu können“, sagt sie. Doch auch patriarchalische Wertvorstellungen spielten eine Rolle. So würden Mädchen beispielsweise auch als Kompensation bei Konflikten zwischen Familien oder Clans hergegeben.
In Syrien hat sich die Situation nun ebenfalls radikal geändert. Die Kinderschutzorganisation SOS-Kinderdörfer geht davon aus, dass inzwischen etwa die Hälfte der Syrerinnen bei der Heirat noch minderjährig ist. Die meisten dieser Ehen werden demnach in Flüchtlingslagern geschlossen, wo die wirtschaftliche Not groß ist. Oft verheiraten Eltern ihre Töchter auch, um ihnen die Chance zu ermöglichen, mit einem Cousin oder einem anderen Mann nach Europa zu gelangen.
Wie gehen andere europäische Länder an die Sache heran?
Auch Schweden und Dänemark haben im vergangenen Jahr viele Flüchtlinge aufgenommen – und sehen sich nun mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Sie haben sich für unterschiedliche Wege entschieden, minderjährige Verheiratete zu schützen. Dänemark geht dabei konsequent vor. Bisher galt dort: Ausländische Ehen, bei denen beide Partner das 15.Lebensjahr erreicht haben, werden anerkannt. Auf Anweisung von Integrationsministerin Inger Støjberg werden nun jedoch alle minderjährigen verheirateten Flüchtlinge, also alle, die jünger als 18 Jahre alt sind, von ihren Partnern getrennt und in einer anderen Unterkunft untergebracht.
Schweden setzt dagegen auf Einzelfallprüfungen und versucht vor allem, die Wünsche der Minderjährigen selbst zu berücksichtigen. Entschieden wird letztlich von den Behörden der Kommunen, in denen die Flüchtlinge leben. Sie behandeln junge Verheiratete formal als unbegleitete Minderjährige und stellen ihnen einen Vormund an die Seite.